Die Überschrift des Spiegel-Artikels „Sterben ist schön!“ funktioniert ausgezeichnet, der sonst schweifende Blick über die Schlagzeilen der Zeitschrift ist wie erstarrt. Wieso sollte Sterben etwas Schönes sein? Der Mensch hängt doch an seinem Leben und versucht mit allen Mitteln, das Altern und Sterben möglichst lange hinauszuzögern. Wir lesen weiter: „Eine Serie von Selbstmorden und Selbstmordversuchen unter Jugendlichen beunruhigt die Bürger im nördlichen Sachsen-Anhalt. Okkultismus, Kontakte in die Gothic-Szene und das Chatten in den dunklen Foren des Internets fördern die Todessehnsucht.“ Ist die Gothic-Szene schuld an Suiziden? Dieser Artikel im Spiegel wird in diesem Jahr 20 Jahre alt. Der Boulevard bringt uns diesen vermeintlichen Zusammenhang immer noch auf Tisch. Frank und Martin, von denen im Artikel die Rede ist, setzten ihrem Leben am 8. Juli 2000 ein Ende.
Gothics, die offensichtlich Todessehnsüchtigen
Der Traum vom ewigen Leben ist so alt wie die Menschheit selbst. Nicht ganz alt ist der Mythos von einer vermeintlichen Todessehnsucht innerhalb der Gothic-Szene. Eine Szene, die sich als Treffpunkt für Selbstmordgefährdete Jugendliche und Erwachsene gerade zu aufdrängt. Schwarze Klamotten, religiöse und okkulte Symbole und dazu eine Musik, die nicht nur traurig klingt, sondern sich auch in ihren Texten mit dem Tod beschäftigt. Die jugendlichen Gothics sind von all dem fasziniert und probieren neugierig alles aus, was ihnen im Zusammenhang mit der Szene verboten oder tabuisiert erscheint. Nachts auf Friedhöfen Partys feiern, mit Gläserrücken die Toten anrufen oder auch Pendeln, um die Zukunft vorherzusagen. Im gegenseitigen Wettbewerb werden die Outfits der Gothics immer aufwendiger und extremer, okkulte und religiöse Symbolik wird nicht nur in Form von Schmuck getragen, sondern schmückt auch Kinderzimmer und Wohnungen. In den 90ern mischen sich reißerische Berichterstattung, zunehmende Verbreitung und wachsende Bestrebungen andere Gothics in Sachen Extremität zu übertrumpfen, zu einer brodelnden Suppe.
1996 titelt der Stern zwar „Selbstmord ist out. Das Leben ist cool!“, doch der Stempel als Szene, in der sich hauptsächlich selbstmordgefährdete, todessehnsüchtige und satanische Gothics herumtreiben, war längst im Einsatz. Eine Sendung des Formats „Report aus München“ (wir berichteten darüber 2013) schneidet sich Okkultismus und Gothic so zusammen:
Der Spiegel stellt fest: „Die blaue Rose, ein Kultsymbol der Szene“
2000 erfasst eine rätselhafte Selbstmordwelle das Land Sachsen-Anhalt. In der Nähe von Klietz, dem Heimatort von Frank und Martin, nimmt sich im Oktober ein weiterer Jugendlicher das Leben. „Hinter den Selbstmorden stecke Okkultismus und eine Sekte namens „Blaue Rose“, wird im Ort gemunkelt.“ Für die Eltern von Frank ist klar: „Wir sind uns gewiss, das andere Frank in den Tod getrieben haben„, einen Selbstmord schließen sie aus. Der örtliche Pfarrer spricht von okkulten Jugendgruppen, in einem verlassenen Jugendclub findet man Teufelsfratzen und umgedrehte Kreuze. „Bluttrinker“ treffen sich angeblich im nahen Havelberg und letztendlich landen wir nach einer Reihe von hanebüchenen Assoziationsketten bei Okkultismus und dann bei Gothic. Mir ist schleierhaft, woher der Spiegel – den man durchaus als renommiertes Blatt werten dürfte – diese Informationen hatte.
- „Ein Wolfsheim-Songtext findet sich als letzter Gruß an der Todes-Gedenkstelle für den Anfang November gestorbenen 18jährigen Christian aus dem Klietzer Nachbarort Schollene und dessen Freund: „Viele Tränen habe ich zu geben, aber in dieser rasenden Welt ist kein Platz für mich.“ Auf Christians Grab […] legten Freunde ein großes Gesteck mit blauen Rosen, ein Kultsymbol der Gothic-Szene.„
- „Frank bekam von einem Arbeitskollegen aus Sandau schon seit Jahresbeginn die in der dortigen Jugendszene weit verbreiteten düsteren Musik-CDs mit Texten von Tod und Sterben. Bevorzugte Stilrichtung: Death-Metal. Sie führen Leichtgläubige direkt zu Gothic und Okkultismus.„
- „Dazu verschlang der Berufsschüler den „EMP“-Katalog, ein unter Jugendlichen weitverbreitetes Spezialitätenheft. Das emsländische EMP-Versandhaus versorgt die Szene in der Provinz mit satanischen Fanartikeln […] Frank entschied sich für eine „Alchemy Gothic Flagge, 14,99 Mark“. Darauf prangte ein Totenschädel, zwischen den Knochen eine blaue Rose.„
Martin und Frank setzten den weißen Mazda in Höchstgeschwindigkeit vor einen Baum und ihrem Leben ein Ende. Die Eltern träfe keine Schuld, erklären sie in ihren Abschiedsbriefen, ihre Berufsschulklasse hätte allerdings Glück gehabt und sei einem Massaker entgangen. In einer SMS schreiben sie: „Wenn sich die Welt nicht ändern, wechseln wir die Welt.“
Der hartnäckige Mythos von der Todessehnsucht
Es ist tragisch, einen Freund oder Familienmitglied zu verlieren. Unfassbar schmerzhaft ist es, wenn derjenige den Freitod wählt. Verzweiflung, Hilflosigkeit, Wut und Trauer legen sich wie ein trüber Film über die Wahrnehmung der Hinterbliebenen. Es wird nach Gründen gesucht, weil man offenbar niemanden für diese Entscheidung verantwortlichen machen kann. „Depressionen? Psychische Probleme? Nein, mein Kind war doch eine so lebenslustiger Mensch!“ Da erscheint die Gothic-Szene mit all ihren Bildern, Musik und Klischees wie eine wohlige warme Badewanne der Erklärungen, in denen man sich wärmen kann, um die Trauer zu bekämpfen.
Dieser Mechanismus funktioniert auch heute noch, wenn man sich beispielsweise die Armbrust-Morde ins Gedächtnis ruft, bei denen die Beteiligten nach vagen Informationen in der Mittelalter-Szene unterwegs gewesen sind. Was folgt, sind die üblichen Rechtfertigungen und Erklärungen.
Es ist allerdings richtig, dass die Gothic-Szene auf Menschen mit Suizid-Gedanken wie ein Magnet wirkt, denn durch die Beschäftigung der Szene mit dem Tod in Kunst, Kultur und Musik erhoffen sich Betroffene eine Antwort auf ihre Fragen und hoffen Menschen zu treffen, mit denen sie sich in Augenhöhe austauschen können. Aktuelle Studien der Universität in Oxford bestätigen, das: „Goth teens could be more vulnerable to depression and self-harm.“
Medien verstärken den Eindruck, als Selbstmörder in der Szene bestens aufgehoben zu sein. Nicht etwa, um etwas dagegen zu tun, sondern um den Todeswunsch in die Tat umzusetzen. Möglicherweise kommt es deswegen immer wieder zu Fällen, in denen Irrlichter, die in der Szene ein Refugium suchen und einen Katalysator finden, ihr Licht auslöschten.
Bewusster Leben statt den eigenen Tod zu fürchten
Dabei ist das Gegenteil der Fall. Für uns Gothics ist der Selbstmord keine reelle Möglichkeit die eigenen existenziellen Probleme zu lösen, sondern vielmehr ist Selbstmord das Scheitern, die eigenen Gefühle und Probleme, die häufig durch Tod, Trauer und Verlust ausgelöst werden, selbst zu bewältigen. Gothic ist keine Subkultur des Todes, wie es seit 40 Jahren von Medien und Politik behauptet wird, sondern ein Versuch, sich mit der eigenen Einsamkeit und der menschlichen Nähe zum Tod kritisch und im Kreis Gleichgesinnter auseinanderzusetzen.
Möglicherweise sind wir uns darüber im Klaren, dass wir nur im hier und jetzt leben und unsere Probleme bewältigen müssen, anstatt darauf zu hoffen, sie mit dem Tod zu lösen. Vielleicht haben wir auch eine andere Beziehung zum eigenen Tod, denn die große Angst davor, die große Teile der Gesellschaft lähmt, haben wir überwunden. Gothic ist vielmehr eine bewusstere Art zu leben, wenn man so möchte.
Trotz einer verbreiteten Faszination für okkulte und religiöse Symbol haben die meisten Gothics keinen traditionellen Glauben, wir verehren weder Gott noch den Satan und haben in Sekten, die religiöse Oberhäupter oder vermeintliche Anführer anbeten, ebenfalls keine Heimat. Wir glauben an den Tod. Er ist die übergeordnete Macht, der sich kein Mensch entziehen kann. Unsere Erscheinung, Interessen und Leidenschaften sind vielleicht so eine Art „Todesreligion“, die uns den Tod vor Augen führt, aber weder eine tröstenden noch entlastende Wirkung hat.
Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass die Szene bei Menschen, die mit sich mit Suizidgedanken beschäftigen, wie ein Katalysator wirken kann, sich noch mehr mit morbiden Dingen zu beschäftigen. Das Spiel mit dem Feuer der Thematik fordert unter den Leichtgläubigen und Verzweifelten auch seine Opfer. Fälle, bei denen der Mechanismus der Befreiung, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, nicht funktioniert. Möglicherweise gehörten Frank und Martin, die sich mit ihrem Mazda an einem Baum das Leben nahmen, dazu.
Richtige Hilfe, in Form von Menschen, die Dir zuhören und Dir vielleicht einen anderen Weg aufzeigen können findest Du unter anderem bei:
- Der Telefonseelsorge – Die ist 2020 nicht nur telefonisch unter 0800 – 111 0 111, sondern auch mittlerweile via Mail oder im Chat kostenfrei erreichbar.
- Nummer gegen Kummer – Das Kinder- und Jugendtelefon ist unter 116 111 erreichbar, selbstverständlich auch online.
- Freunde fürs Leben – Der Verein klärt seit 2001 Jugendlichen und junge Erwachsene über Suizid und seelische Gesundheit auf. Auf der Homepage findest du umfangreiches Material und zahlreiche Hilfsangebote.