In meinem letzten Artikel zur Marens Leserbrief hatte ich angekündigt, die Geschichte weiterzuerzählen. Ich war Maren also eine Antwort schuldig geblieben, in der ich ihr erklären wollte, warum wir unsere Schutzräume in Gefahr sehen und woraus das Gefühl wächst, sich erneut abzugrenzen. Eine ausführliche Antwort ließ nicht lange auf sich warten und Maren hat unter anderem nahe gebracht, wie schwierig es ist, als Einzelgänger Schutzräume zu wahren.
Liebe Maren,
vielen Dank für deinen ausführlichen Einblick in deine Beziehung mit „Goth“. Du darfst den Wunsch nach Abgrenzung, den Du im Tenor unserer Diskussionen wahrgenommen hast, nicht zu oberflächlich sehen. Auch wir möchten uns nicht „bewusst“ abgrenzen oder aktiv gegen eine Vereinnahmung rebellieren, wir grenzen uns allein schon deshalb ab, weil wir genau so empfinden wie du. „Gemeinsamer Schmerz“ hast du es genannt.
Das, was du als Wunsch nach Abgrenzung – im Sinne von „dazugehören“ – interpretierst, resultiert daraus, dass einige von uns ihre Schutzräume, die in den letzten Jahrzehnten gewachsen sind, in Gefahr sehen. Zugegeben, in den 80er gab es solche Schutzräume noch nicht, da hat man – wie du schreibst – mitgenommen, was geboten wurde und sich eher „innerlich“ abgegrenzt. In der Zwischenzeit haben sich allerdings Refugien gebildet, die eine physische Abgrenzung ermöglichten. Goth-Discos, Goth-Festivals, Goth-Treffen. Die bröckeln unserer Meinung nach jetzt weg und werden vom „Mainstream“ infiltriert. Das zerstört für einige die Atmosphäre und grenzt in einem Wunsch nach erneuter Abgrenzung. Ich will mich da nicht ausnehmen.
Letztendlich sind das aber Befindlichkeiten, die du als Tenor wahrgenommen haben könntest, die aber meist in der Erkenntnis münden, dass wir uns „innerlich“ immer noch genauso abgrenzen, wie du es auch empfindest. Ich find’s auch manchmal schade, dass wir dann in diesen Befindlichkeiten ertrinken, auch wenn ich mich manchmal genauso fühle.
Marens Schutzräume
“Can you give me sanctuary, I do need a place to hide, a place for me to hide.“
Schutzräume, die eine Rückzugsmöglichkeit aus einer lärmenden, sinnentleerten Oberflächlichkeit bieten, die einem erlauben unter Gleichgesinnten zu existieren, ohne befremdet angesehen zu werden, Schutzräume, die Sicherheit vor Anmache bieten, sind besonders für diejenigen wichtig, die sich nicht im rosarot-gold-weißen Strom der Massen vom allgemeinen Wohlgefühl mit treiben lassen können oder wollen.
Schutzräume, die euch eine physische Abgrenzung vor diesen Massen erlauben, drohen, wie du sagst, wegzubrechen, lieber Robert, und die Sorge um deren Bewahrung und daher auch den Unmut über Eindringlinge, die durch ihr Auftreten und ihr Äußeres zu diesem Wegbröckeln beitragen, kann ich verstehen.
Auch ich finde es, gelinde gesagt, befremdlich, wenn ich höre oder lese, dass Menschen auf einem schwarzen Festival nachts Schlager hören, im Hawaiihemd herumlaufen oder sich sinnlos betrinken. Wie ich dir bereits gesagt habe, stören auch mich feiernde Möchtegern Freaks auf dem Pere-Lachaise, und Doors Tribute Bands tue ich mir nicht an, weil deren Sänger weder stimmlich noch durch Bewegung auch nur einen Hauch von Jimmys Tanz am Abgrund wiedergeben könnten.
Außerhalb der Szene als Einzelgänger die geeigneten Schutzräume zu finden, halte ich allerdings für bedeutend schwerer. Es gibt sie zwar, aber sie sind anders beschaffen und oft nur temporär und sehr fragil. Da kein Türsteher über sie wacht, können sie durch das Betreten einer einzigen Person ihre Funktion als Schutzraum verlieren. Man muss sich einen neuen Schutzraum suchen oder erschaffen. Auch ist es nicht immer ganz einfach, Menschen zu erkennen, mit denen ich einen Schutzraum teilen kann oder die mir einen solchen gewähren, und es ist auch nicht ganz ungefährlich. Hier ist ein gutes Urteilsvermögen gefragt, um zwischen “good-weird“, “weird-weird“ und “bad-weird“ zu unterscheiden. Einen ganz besonderen temporären Schutzraum habe ich einmal für einen Tag in einem besetzten Haus in London Brixton gefunden, wohin ich einem Straßenmusiker auf Einladung gefolgt war, dessen Lieblingsband übrigens die Doors waren, der sich jedoch aus Respekt vor Jim nicht an deren Songs vergriff.
Neben den Schutzräumen, die ich mit Menschen teile, denen ich ungefiltert begegnen kann, spielt die Natur bei der physischen Abgrenzung für mich eine wichtige Rolle, zumal ich in einer Gegend „hinter dem Mond“ aufgewachsen bin und jetzt auch wieder hinter selbigem lebe. Da wäre ein passender Club als Schutzraum mit Türsteher ohnehin eher eine theoretische Option.
Come with me into the trees…
“Come with me into the trees …“ Für mich wurde in den Zeilen dieses Songs der Wald als Schutzraum und Rückzugsort vor all den Dingen geschildert, die unsere Emotionen zu ersticken drohen, als Ort, wo wir uns ungefiltert begegnen können.
Aber selbst ein erhabener Schutzraum wie der Wald kann Gefahr laufen, infiltriert zu werden. Dies war während Corona deutlich zu spüren, als plötzlich Krethi und Plethi aus Langeweile dort in Scharen herumtrampelten.
Auch wenn sich dies wieder gebessert hat, ist trotzdem die Nacht der beste Zeitpunkt, um diesen Rückzugsort für sich in Anspruch zu nehmen.
Und sollte eine physische Abgrenzung gar nicht möglich sein, bleiben die Kopfhörer, die einem erlauben, sein eigenes Universum zu betreten.
Obwohl ich dir, wie ich hoffentlich darlegen konnte, gut folgen kann und ähnlich empfinde, Robert, bin ich dennoch der Meinung, dass Abgrenzung die Gefahr birgt, dass ich aus Angst, dass mein Schutzraum verletzt wird, ein wertvolles Gegenüber nicht wahrnehme. Da die Welt nicht gerade überbevölkert mit Individuen der Kategorie „good-weird“ ist, bedeutet dies dann einen wirklichen Verlust. Ich habe für dieses Problem weder für mich eine perfekte Lösung noch nehme ich mir heraus, anderen eine zu unterbreiten, möchte es aber dennoch ins Bewusstsein rücken.
In der Vorfreude auf kürzer werdende Tage und einen wunderschönen nebligen November.