Young & Cold Festival-Bericht: Ohne Schkinny Scheans keine Gruftlocke

Nachdem Flederflausch, die inzwischen bereits vier Young & Cold Festivals besucht hat, im letzten Jahr mit Svartur Nott Tagebuch führte, treibt sie sich dieses Jahr unter anderem mit Paul herum, um Eindrücke und Erinnerungen aufzuschreiben. Neben den musikalischen Darbietungen geht es auch um die Geschichte, warum es ohne Skinny Jeans keine Gruftlocke gibt.

Paul: Augsburg, der konsequent wavige Außenposten

Ein Fabrikhof voller Gestalten mit sehr korrekt toupierten Frisuren in Lederjacken, Mänteln, Ballonhosen, Pikes, mit Buttons und vielen, vielen Aufnähern, in kunstvoll zerschnittenen Hemden und ein Patchouligeruch der sich mit dem Duft von Frittierfett mischt. Das kennt der Szenegänger aus dem Werk II oder, ohne Duft, von Fotos aus der guten alten Zeit. Auf jeden Fall muss man aus dem Süden normalerweise lange fahren um eine Veranstaltung mit diesem Publikum zu finden. Außer natürlich das Young&Cold in der Ballonfabrik Augsburg, der konsequent wavige und undergroundige Außenposten im Süden, immer zurecht ausverkauft. Auch wenn es von Stuttgart nur eine gute Stunde mit dem ICE ist, kommt man normalerweise nicht rechtzeitig zum ersten Konzert. Das ist ganz wie beim WGT. Die rituelle Vorbereitung zum Klang von feinstem Wave und leichtem Haarspray-Klackern gehört dazu. Gerüchten zu Folge mischen gewisse Menschen dann Pfef mit Absinth und plötzlich ist es „Wir müssen JETZT los oder wir verpassen die letzte Band“-spät. Auf dem Weg zur Ballonfabrik kann dann nichts mehr schiefgehen außer ein Trupp Katzenfan-Gruftis erspäht eine Katze, nimmt die Verfolgung auf und versucht sie zu streicheln. Vermutlich kommen daher die Gerüchte vom katzenfressenden Schwarzkittel. Irgendwann ist man dann dort und kann das Festival genießen. Um die Feuertonne, die hier ein Ofen ist, trift man ersten Freunde und Bekannte.

Flederflausch: Ohne Schkinny Scheans keine Gruftlocke

Der September ist mir mittlerweile neben Pfingsten ja die liebste Jahreszeit. Da habe ich immer nochmal Urlaub, vor allem habe ich diesen Urlaub aber wegen dem Young&Cold Festival. Seit dem ersten Mal begeistert freue ich mich jedes Jahr, nachdem der WGT- und GPP Blues vorbei ist, immer nochmal extra. Die Karten hängen schon seit dem Frühjahr an der Pinnwand und bevor das Jahr kalt und dunkel wird und ich mich am liebsten mit Tee und Essen im Bett verkrieche, gibt es dort die Gelegenheit, nochmal die Pikes und andere Tanzschuhe rauszuholen, bevor man sich darin die Füße abfriert.

Vor dem Erfrieren habe ich ja eh immer Angst, deswegen reise ich mit einer gefühlten Tonne Gepäck. Dieses Jahr komfortabel mit Max, der sich bereiterklärt hat extra einen Schlenker zu fahren um mich aufzusammeln. Luxus! Dass ich ein ganz schlechter Beifahrer bin beichte ich ihm erst beim einsteigen. Aber scheinbar hab ich mich gut im Griff und mit Musik und einem guten Tratsch geht die Fahrt schnell vorbei. Nicht nur zwecks Anreise wurde mir dieses Jahr Luxus zu Teil, Micha von Young & Cold Team gewährte mir auch noch Asyl und in seiner wunderbar gruftig-alt-dunkel-eingerichteten Wohnung mit schöner Musik, bringe ich Haare und Schminke in Form.

Adam Usi, Young&Cold 2018, Foto: Ray Montag Photography

Adam Usi spielte am Donnerstag als erster Act im City-Club Augsburg auf und lieferte einen stilechten Start in das Festival. Auch weil ich vorher noch Marc, den ich letztes Jahr auch dem Y&C kennengelernt hatte, traf und gleich noch Flora und Julius kennen lernte, mit denen ich noch lustige Stunden verbringen sollte. Aber zurück zur Musik, Adam Usi war toll. Mitreißend. Emotional. Schön. Einfach gut. Der City Club dafür viel zu warm und der Regen draußen viel zu kalt und Psyche eh nicht so mein Ding. Aber was soll’s. Ich verquatsche mich ja eh immer. War dann auch so. Im strömenden Regen drängten wir uns unter die Markise, wurden trotzdem nass, aber verbrachten einen wundervollen Abend, den wir noch mit ausgiebigem Tanzbein schwingen verbrachten, bis uns die Müdigkeit überkam und die DJs irgendwie auch nennen wir es „experimentell“ wurden.

Irgendwie recht zerknautscht blieb nicht viel Zeit zum Müßiggang und für gediegenes Musikhören an der Heimanlage – wir mussten dann irgendwie doch recht schnell los. Mein Gefühl bei der Abfahrt etwas vergessen zu haben hatte mich dummerweise nämlich nicht getäuscht, ich hatte die Leggings vergessen und ohne Leggings war mir kalt und mit kalt war ich mimimi. So habe ich aber gleich eine nette Stadtführung bekommen und eine Leggings gefunden, die cooler nicht hätte sein können. Abends fanden wir uns dann bei Marc, Flora und Julius ein, wurden bekocht und becocktailed und stritten uns darüber, ob Baden-Württemberg für Gruftis nun ein lebenswertes Fleckchen Erde ist oder nicht. (Ich bin ja der festen Überzeugung dem ist nicht so, Marc kam aus der Lobhudelei fast nicht mehr hinaus).

Wie dem auch sei, die erste Band lockte und auf dem Weg gab es noch schnell ein trashiges Unterführungsselfie. Bragolin taten dann das Übrige um dem Abend einen würdigen Auftakt zu verleihen. Wunderbar. Edwin und Maria ließen sich von ihrer Musik mitreißen und das Publikum folgte auf dem Fuß. Plastikstrom waren hingegen so gar nicht mein Fall und so fand ich mich mit Mecky und Hanne (die ich zu meiner Schande zuerst fast nicht erkannte), sowie mit Alex (Svartur Nott), der letztes Jahr mit mir den Rückblick auf’s Young&Cold geschrieben hatte, an der Feuertonne vor Ballonfabrik wieder.

Kriistal Ann, Young&Cold 2018, Foto: (c) Ray Montag Photography

Was ist das denn? Die Hose über den Pikes?“ Mecky ist entrüstet. „So mache ich dir morgen nicht die Haare, Alex!“ „Die Skinny Jeans ist in der Wäsche!“ verteidigt sich dieser. Wie man nur eine Skinny Jeans haben kann, will ich fragen. Was rauskommt ist: „Du brauchst mehr Schkinny Scheans“ und schon sind wir vor lachen nicht zu halten. Ohne Schkinny Scheans keine Gruftlocke. Und Mecky ist nun mal Experte was Gruftlocken und toupieren angeht. Erbarmt hat er sich am nächsten Tag dann trotzdem. Vielleicht hat ihn die Reise durch den Äther zu den vielen bunten Planeten milde gestimmt. Neben dem ganzen Gequatsche, habe ich es dann doch noch geschafft Kriistal Ann zu sehen. Hatte ich anders in Erinnerung, gut war sie trotzdem. Durchaus mit Atmosphäre und mit einer unglaublich kraftvollen Sängerin.

Paul: Wo „familiär“ noch keine Floskel ist

Neu war dieses Jahr ein veganer Essensstand. Das ist eine klasse Neuerung, weil man in dieser Ecke Augsburgs sonst spät abends nichts mehr bekommt. Dort konnte der auch von mir stets benötigte Kaffee bezogen werden. Das Essen war lecker und die Preise waren fair. Dass ein Festival familiär sei, ist eine sehr bemühte Floskel. In Augsburg stimmt das aber, man kann mit den Künstlern einen Schwatz halten und und lernt spielend neue Leute kennen. Die Atmosphäre ist freundlich und ohne das „Schaulaufen“ eines WGT oder GPF. (Und hier gibt es Tageskarten.) Man sieht auch ganz dezent schwarz gekleidete Besucher. Drinnen gibt es gutes Bier, eine interessante Deko und einen sehr zu lobenden Merchstand, wo man vom Rückenbeutel bis zur LP alles erstehen kann. Wie der Festivalmacher und Inhaber von Young&Cold Records Marcel Leidenroth (DJ Bat) versichert, passen die LPs auch in die Tragebeutel. Das auszuprobieren und kräftig einzukaufen lohnt sich, denn die Musikauswahl auf der Bühne und auf CD/LP und Kassette (ja, wirklich) ist hochkarätig und international. Dieses Jahr konnte man Adam Usi, Psyche, Kriistal Ann, Plastikstrom, Bragolin, El Deux, Paradox Obscur, Detachments, Werther Efekt und Paar sehen. Ja genau DIE „El Deux“ aus der Schweiz. Zwei ältere Herren mit unglaublicher Spielfreude die nicht so recht glauben konnten, dass ihre Musik immer noch Menschen begeistert. Echtes 80er-NDW-Urgestein. Die Musikauswahl umfasst das ganze Spektrum des Wave, mal mehr gitarrig, mal mehr elektronisch. Nach den Konzerten gibt es eine Aftershowparty mit Djs des Labels und Gästen, dieses Jahr standen Djs vom GPF am Mischpult

Flederflausch: Alex hatte die Haare schön!

Samstag waren wir dann im Stress. Immerhin traf man sich schon um 14 Uhr beim Augsburger Dom um stilvoll mit Wein und guter Musik dem Austausch zu fröhnen und dem Stadtbild einen schwarzen Anstrich zu geben. Viel Zeit gab es für ausführliche Gespräche und Kennenlernen, für einen guten Austausch in entspannter Atmosphäre – auch wenn viele wohl der Müdigkeit erlegen sind. PAAR waren als erste Band dann ein wunderbarer Einstieg in den letzten Festivaltag, irgendwie entspannend die ganze Sache. Auch die Damen von Werther Effekt brachten das Publikum in Wallung. El Deux habe ich mit Gesprächen eingetauscht. Einfach nicht mein Fall, aber die beiden Herren schienen richtig Spaß zu haben, endlich mal wieder auf der Bühne zu stehen. Detatchements brachten wieder etwas Bewegung in meine Füße. Und Alex hatte die Haare schön. Mecky sei dank! Das wunderbare Highlight waren dann Paradox Obscure. Der Song „A different Hum„, hat mich immer noch nicht losgelassen und läuft bei mir seitdem rauf und runter.

Treffen am Dom, Young&Cold 2018

Flederflausch und Paul mit ihrem Fazit und vielen Bildern!

Paul: Die Musikauswahl der Party füllt die Tanzfäche, man hört Neues, Bekanntes aller nötigen Stilrichtungen. So ging der erste und der zweite Abend auch schnell rum. Auf mit WGT gemein ist, dass ich mit einer gewissen Trägheit in den Knochen heimfahre. Im Kopf habe Erinnerungen an tolle Menschen, im Gepäck neue Musik und es stellt sich die Frage „Warum geht sowas nicht in Baden-Württemberg?“. Liegt es am Pietkong, der (zum Glück) in anderen Bundesländern fehlt und der sehr kreativ bei der Verhinderung von Subkultur ist? Egal, es sind nur anderhalb Stunden zum Y&C. Bis zum nächsten Mal!

Flederflausch: Müde und erschöpft fanden wir uns am Sonntag zum Abschlussessen in einem indischen Restaurant, bevor auch schon wieder die Heimreise anstand. Erschöpft sank ich zu Hause mit der Katze ins Bett. Meinen neuen Lieblingssong „A different hum“ noch im Ohr.

Giovanni Perna – Schwarzromantische Bilder für Genießer der morbiden Stille

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Ein Dunkelromantiker mit Leichenwagen? Dieser vermeintliche Gegensatz machte mich neugierig, als ich mir das Profil von Giovanni Perna auf seiner Seite „totenstill.com“ angesehen habe. Der Fotograf aus Stuttgart schrieb mir neulich, ob ich nicht seine Ausstellung, die vom 6. Oktober bis zum 8. Dezember in der Galerie Bloody Colors zu sehen ist, vorstellen könnte. Als ich mich dann nach dem Schreck mit dem Leichenwagen durch die unglaublich vielen Friedhöfe auf seiner Internetseite klickte, war ich sprachlos. Denn tatsächlich kroch das mystische Kribbeln umgehend aus dem Bildschirm, machte sich auf den Synapsen wohlig-warm bemerkbar und führte zu dieser morbiden Stimmung, die ich sonst nur bei Besuchen historischer Grabstätten empfinde.

Fotografieren ist eben nicht Fotografieren, wie Giovanni mit seinen Arbeiten eindrucksvoll unter Beweis stellt. Ich wollte wissen, was der 1962 geborene Fotograf aus Stuttgart, der bereits 2006 mit Bildern im Orkus auf sich aufmerksam machte, über die dunkle Romantik denkt und was die Motivation hinter seinen Kunstwerken ist.

Spontis: Wie kam es zu deiner morbiden Leidenschaft, Friedhöfe zu fotografieren?

Giovanni: Ich habe schon immer gerne Friedhöfe besucht, vor allem alte Friedhöfe. Als Grafiker und Fotograf gab mir aber erst die digitale Fotografie die Möglichkeit, aus Fotos Bilder zu machen. Daraus entstand der dann typische totenstill-Look. Ich habe kein Interesse an der Dokumentation von Friedhöfen, sondern möchte Bilder machen, die wie romantische Gemälde wirken und bei den Menschen etwas auslösen, dass über das Dargestellte hinausgeht.

Spontis: Über Dich ist zu lesen, dass du Dich der Schwarzromantik verschrieben hast und Dich von düsteren Stimmungen und inneren Bildern einfangen lässt. Was meinst du damit?

Giovanni: Ein Großteil des gängigen Kanons an Gothic-Motiven kommt aus dieser Zeit: schiefe Kreuze auf dem Friedhof, die verfallene Kirche, Efeu-umrankte Ruinen, der ins Bild ragende tote Baum, Nebel oder auch Raben. Selbst aktuelle Grusel,- und Horrorfilme verwenden dieses Repertoire, das von Leuten wie Anne Radcliffe, Caspar David Friedrich, E.A.Poe oder Bram Stoker erfunden wurde. Auf Friedhöfen findet man diese Szenarien noch. Teilweise gänzlich unberührt von den Menschen, der Natur überlassen, unverfälscht. Im Gegensatz z. Bsp. zu Schlössern oder Burgruinen, die mit Cafes, Parkplätzen und Hinweis-Schildern übersät sind. Ich glaube, heutzutage ist die Idee der Romantik wieder aktuell. Vielleicht nicht der Begriff, der für viele etwas aus der Zeit gefallen zu scheint, aber das Gefühl ist aktueller denn je. Das fängt bei Bio und regionalem Essen an, geht weiter mit dem Entdecken der eigenen Heimat und der Tradition, der Hochzeit-Boom, der Run auf Trachten und Dirndl bei Volksfesten etc. Es erklärt auch den Erfolg von Fantasy,- und History-Romanen, Filmen und Serien (ich sage nur Game of Thrones), die ja nix anderes machen, als ein „romantisches“ Bild, im Sinne der Sehnsucht zu bedienen.

Spontis: Du scheinst schon viel herumgekommen zu sein und führst auf deiner Internetseite eine ganz beeindruckende Liste von Friedhöfen aus aller Welt. Wie würdest du die Unterschiede zur hiesigen Friedhofskultur beschreiben und welche Friedhöfe haben dich dabei besonders fasziniert?

Giovanni: Alte Friedhöfe haben immer etwas besonderes. Ich mag alle und habe keine besondere Vorliebe. Italienische oder spanische Friedhöfe sind voller unfassbarer Statuen, die aus jedem Friedhof ein Freilichtmuseum machen (siehe Beispiele). Hervorheben würde ich den Cimitero Staglieno di Genoa, die unglaublichste Statuen-Sammlung, die ich jemals gesehen habe, und der Cementiri del Poblenou in Barcelona, mit seiner ganz besonderen Darstellung des Todes (siehe Beispiel). Auf den britischen Inseln und Irland findet am ehesten das „Gothic-Feeling“ (siehe Beispiele). Die mitteleuropäischen Friedhöfe besitzen eine ganz eigene Stimmung. Die Mischung aus Parkanlage und Grabmäler, die von der Natur langsam vereinnahmt werden, finde ich faszinierend. Leipzig, Frankfurt, Köln, Prag, um nur einige zu nennen, sind Städte mit wunderschönen Friedhöfen. Die schönsten und überraschendsten  Momente habe ich regelmäßig auf kleineren und unbekannteren Friedhöfen. Das Hauptmotiv meiner Ausstellung habe ich auf dem Friedhof in Viareggio, einem Küstenort in der Toskana, fotografiert. Ich war auf der Durchreise und fand dieses tolle Motiv – das war geil.

Spontis: Das du Dich in der Gothic-Szene herumtreibst, ist offensichtlich. Ich kam nicht daran vorbei, Deine Leichenwagen-Foto auf deiner Internetseite schmunzelnd zu bewundern. Wir sind in einer Szene, die stets auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Kitsch wandert und sich zwischen Selbstverwirklichung und Selbstinszenierung aufreibt. Wo würdest du für Dich die Grenze ziehen?

Giovanni: Eine Grenze ziehen ist schwierig. Die Szene ist sehr tolerant und das ermutigt so manchen, sich völlig auszuleben – auch wenn einige dabei über das Ziel hinausschießen. Ich bin kein Richter und es ist mir eigentlich auch egal, wer was wie macht. Erlaubt ist, was gefällt. Wenn man authentisch bleibt, ist das für mich in Ordnung. Viele sind nur Teilzeit-Goths, auf großen Events oder Parties. Ich trage gern schwarz, mag aber keine Verkleidungen und kaufe meine Kleidung lieber beim Designer, und nur sehr, sehr selten in einem „Szene-Shop“. Ich sehe immer gleich aus: bei der Arbeit und privat. Mein Leichenwagen ist natürlich etwas dick aufgetragen, aber meine Kinder finden ihn toll, und in Stuttgart fährt jeder Zweite einen dicken Benz oder Porsche, da musste es was Besonderes sein.

Leichenwagen

Spontis: Ich bin mir sicher, dass du auch ein breiteres Publikum mit Deinen Arbeiten ansprechen willst, wie erklärst du einem Außenstehenden, warum du Dich für das Vergängliche, das Verfallene und das Morbide interessierst?

Giovanni: Viele Menschen haben wenig Verständnis dafür, dass ich soviel Zeit auf Friedhöfen verbringe, aber gleichzeitig erkennen doch die Meisten das Potenzial, dass sich für einen Fotografen auf alten Friedhöfen bietet. Erstaunlich viele Menschen erzählen mir, dass sie auch gern Friedhöfe besuchen – vor allem wegen der Ruhe und der Schönheit der Anlage. Und da kommen wir wieder zu Punkt 2. Über die Meta-Ebene Romantik ergibt sich dann ein Gespräch, das schnell die Klischees von Dunkel und Düster hinter sich lässt.

Spontis: Ich liebe Deine Bilder, ich liebe die dunkle Romantik und teile Deine Leidenschaft für das Morbide. Ich habe aber das Gefühl, dass diese Form der Ästhetik dieser Art des Inhalts immer weniger Rolle in unserer Szene spielt. Hat man früher in den Szene-Magazinen noch Bilder, Kunst, Gedichte und Gedanken veröffentlicht, sind es heute halbnackte Models, Fetish-Kalender und Blutüberströmte-Hobbie-Zombies. Was meinst du dazu?

Giovanni: Alles, was unter dem Druck des wirtschaftlichen Erfolges steht, richtet sich nach dem Markt. Die „Gothic-Industrie“ setzt natürlich auf Mainstream wenn sie damit die Zielgruppe erreicht, und der beinhaltet dann (leider) auch den Mittelaltermarkt und Halloween. Aber soll man solche Strömungen ausschließen? Ich denke nein. Vieles ist schrecklich. Die dämlichen Verkleidungen und die unfassbar banale Musik, die einer Helene Fischer in nichts nachsteht, nur eben düster klingt. Aber eine Szene, die sich als eine relevante und essenzielle (Sub-) Kultur etabliert hat, sollte selbstbewusst damit umgehen, dass sie für viele (neue und oft kurzlebige) Strömungen ein attraktives Dach darstellt. Auch wenn die Verstöße gegen das Gothic-Reinheitsgebot so manchem Traditionalisten die Tränen in die Augen treibt:  Die Klugen bleiben gelassen, denn sie wissen, was gut ist (grins).

Giovanni Perna

Spontis: Du hast bereits im Orkus veröffentlicht, ein Buch veröffentlicht, auf dem Wave-Gotik-Treffen ausgestellt und zeigst vom 6. Oktober bis zum 8. Dezember eine Ausstellung in Stuttgart. Wo soll die Reise hingehen? Was ist in Zukunft noch geplant?

Giovanni: Ich fotografiere auch viele Landschaften. Eines meiner Langzeit-Projekte sind die Kaarseen im Schwarzwald – dunkel, mystisch und legendenumwoben. Vielleicht entwickelt sich daraus etwas. Ich würde auch gern Covergestaltung für Bands machen, aber dafür fehlt mir der Zugang. Liegt auch an meinem Alter. Friedhöfe sind natürlich weiterhin ein Schwerpunkt. Im November gehts nach London – die „Magnificent Seven“ stehen auf dem Programm.

Spontis: Welchen Rat, welche Weisheit oder welches Zitat würdest du der Szene und/oder unseren Leser mit auf den Weg geben?

Giovanni Perna: Francis Bacon, ein britischer Künstler, sagte einmal: „In order for the light to shine so brightly, the darkness must be present.“ Ich finde, das Gleiche gilt auch andersrum.

Musikperlen – Während sich der Mond versteckt, kriechen Liliputaner unter der Kälte hindurch (Tauchgang #40)

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Im heutigen Musikperlentaucher widmen wir uns wieder einmal unseren deutschsprachigen Nachbarn der 3-Länder-Achse rund um den Bodensee. Zufälligerweise, wie ich zugeben muss, denn bis auf Grauzone, die erste der vorgestellten Bands, kannte ich die Herkunft der anderen beiden Bands zunächst nicht. Es passierte so, wie es immer passiert. Zufällig fällt mir ein Lied auf die Synapsen, das sich zunächst durch kitzeln bemerkbar macht, um sich dann im Kopf zu verfangen. Kennt ihr das? Wenn Euch ein Lied nicht aus dem Kopf geht und ihr mit winzigen Bruchstücken von Melodie, Text oder Herkunft auf die Suche geht? Jetzt bin ich jedenfalls wieder ein bisschen schlauer, meine Synapsen wurden zufriedengestellt und ihr bekommt wieder einmal 3 „frische“ Musikperlen präsentiert.

Grauzone – Kälte kriecht

Die wichtigste Band aus der Schweiz bleiben für mich die Brüder Eicher, die irgendwann 1979 die Band Grauzone gründen und mit ihrem kühlen Synthesizer-Sounds und ihrer Live-Präsenz, den Herausgeber eines Punk-Magazins beeindrucken, der die beiden Stücke „Raum“ und „Eisbär“ auf seinem „Swiss Wave Sampler“ veröffentlicht und für eine Verbreitung der Stücke sorgt. „Eisbär“ trifft Zeitgeist und Stimmung der damaligen Generation und wir nach einem Vertrag mit dem Label EMI (Welt-Rekord) in Deutschland zum Top-Ten Hit. Doch zu Gesicht bekommen nur die wenigstens die Band, denn die weigern sich beharrlich im Fernsehen aufzutreten. Bei ihren Live-Konzerten setzt sich die Rebellion fort, denn dort spielen sie nicht ihre Hits, sondern eigenwillige Synthiesizer-Improvisationen. „Wenn einer Eisbär hören will, soll er sich die Platte kaufen.“, sollen die Brüder laut dieser Internetseite ihren Kritikern entgegnet haben. 1982 ist der Spuk der Band dann auch schon wieder vorbei. Hinterlassen haben sie zahllose Meisterwerke des „typischen“ 80er Sounds, der das Jahrzehnt auch weiter über seine Dekade hinaus ins Langzeitgedächtnis gebrannt hat.

The Moon lay hidden beneath a Cloud – Untitled 4

Direkt nebenan, in Österreich, rumorte es in den frühen 90ern mystisch und spirituell. Albin Julius und Sängerin Alzbeth gründeten die Band „The Moon Lay Hidden Beneath A Cloud“, stellten sich selbst und ihre eigentliche Identität nicht in den Vordergrund, sondern wollte ihre Musik sprechen lassen. In überzeugter Ablehnung von Ideologien und Religionen erschufen die Beiden ihre eigene Interpretation von mittelalterlicher Musik, rituellen und geistlichen Gesängen zu einer elektronisch unterstützten Klang-Collage. Sie lehnten es ab, ihren Stücken Titel zu geben und hüllten sich in ihren seltenen Interviews in eben die Wolke, von der ihr Bandname zeugte. Nach 6 Alben und 6 Jahren endete die Beziehung und Zusammenarbeit der Beiden.Von ihrem Album „Amara Tanta Tyri“ lauschen wir dem vierten Titel und schweben auf den Klängen und Rhythmen über die mit Knochen bedeckte Tanzfläche.

Viele bunte Autos – Liliputaner

Wo wir schon gerade in Österreich sind. Fritz Ostermayer, der Wienern Radio-Hörern ein Begriff sein dürfte, hat nicht nur Musik gespielt, sondern auch gemacht. Schamlos hat er Anfang der 80er zusammen mit der stimmgebenden „Angie Modepunk“ (Angelika Hergovich-Mörth) und ein paar anderen Musikern die Band „Viele bunte Autos“ gegründet und sich an den Rockzipfel der NDW gehängt. Nachdem die Kassettenbeiträge von damals in der Belanglosigkeit versanken, hat der findige Wiener 2008 noch einmal Adrenalin ins längst tot geglaubte Herz gerammt und die Musik auf einer CD herausgebracht. Für uns, die Freaks des skurillen und absonderlichen, ein leckerer Snack. Die begabte Fachpresse schreibt dazu eindrucksvoll:

Wie bei vielen Austro-NDW-Gruppen zeigt sich eine in Deutschland selbst nur über mühseligen Konzeptualismus beizubiegende Popleidenschaft, die wohl in direkter Absetzungsbewegung zur hegemonialen Liedermachokultur um Fantasieknallchargen wie André Heller oder Authentizitätswuchteln wie Wolfgang Ambros leichter zu haben war. Jedenfalls entkommen Viele Bunte Autos deutschen Synthiepop-Tendenzen zu Tiefschwachsinn mit einer Leichtigkeit, die vielleicht eher nach New-Wave-Frankreich gehört hätte. Als Bonus gibt es noch den einen Unsterblichkeitshit, den eine gute obskure New-Wave-Band ja hingekriegt haben muss: „Komm in die Liga gegen Sex“ als verstörendes Bekenntnis zur Sexverweigerung – vorgetragen mit den Mitteln BowWowWow’scher Minderjährigen-Erotik. Ein typischer Widerspruch einer Zeit, in der die gelebten Widersprüche noch etwas galten.

 

Wisborg – Immer mit einem Hauch von Melancholie

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Ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt. Die Szene lebt, gedeiht und blüht. Ständig entdecke ich kleine Klangperlen, die mir das Gefühl geben, diese mit anderen zu teilen. Ohne Rücksicht auf objektive Berichterstattung und weit entfernt von einer Bewertung möchte ich darüber schreiben, wie ich Wisborg, die Band um die es hier geht, finde. Zehn Jahre musikalischen Erziehung haben sich leider nicht prägend in meiner Wahrnehmung verewigt. Subjektiv und emotional ist die Devise. Und bitte, wer steht schon auf der Tanzfläche und denkt, dass das jetzt sehr sotto voce gesungen und allgemein sehr grave war?

Der Drumcomputer hämmert den Rhythmus aus den Lautsprecher. Treibt. Gitarrenklänge erfüllen die imaginäre Bühne in der Musik. Fordernd. Darüber legt sich die Stimme von Konstantin, wie eine Robe aus dunklem Samt, die sich über die Melodie des Synthesizers legt. Tief und schwer zieht sie einen hinab. Fesselt den Hörer an die Klänge und führt weiter durch eine melodisch-dunkeldüstere Reise.

Vor meinem geistige Auge sitzt ein dramatisch gestylter Teenie mit Nietenarmband heulend in der Ecke und beklagt hingebungsvoll das fundamentale Zerwürfnis des menschlichen Seins und ich bin auch nicht weit davon entfernt mich dazu zusetzten. „Baby, this is the worst of all possible worlds “ (Desire). Der Vergleich mit HIM springt mir als erstes in den Sinn. Ein Mensch, der mehr von Musik versteht als ich, hat mir ja gesagt, dass der Vergleich deutlich hinkt, aber in meiner subjektiven Wahrnehmung ist mir das egal. Auch, wenn Wisborg für mein Empfinden musikalisch qualitativ hochwertiger sind und das schon mit ihrem ersten Album „The Tradegy of Seconds Gone„.

Anlass genug bei Konstantin und Nikolas von Wisborg mal nachzufragen.

Konstantin: Nikolas und ich haben schon vorher in anderen Bands Musik gemacht, an die allerdings nicht alle Mitglieder die gleichen Erwartungen hatten wie wir. Aus diesem Grund haben wir uns Anfang 2017 entschieden, gemeinsam ein neues Projekt zu gründen. Schnell war klar, dass wir es elektronischer aufziehen wollten als unsere vorherigen Bands, mit Drumcomputer und vermehrtem Einsatz von Synthesizern.

Nikolas: Die Wechselwirkung zwischen uns hat schon vor Wisborg sehr gut funktioniert, sei es in der Arbeitsweise, der gegenseitigen Inspiration oder instrumentalen Entscheidungen. Auch der experimentelle Wechsel von der bekannten Standard-Bandbesetzung zum Duo war von Anfang an eine spannende Idee.

„Haunting music that draws from elements of dark wave and post-punk“ sagen Wisborg über sich selbst auf ihrer Facebookseite. Und nicht nur in der Musik manifestiert sich das wieder, auch das Artwork des Albums „The Tragedy of Seconds Gone“ spiegelt diese Düsternis wieder. Die verwendete Ästhetik spiegelt die morbider Stummfilme der 1920er Jahre wieder und verwebt sich auf wunderbare Weise mit der Musik zu einem Gesamtkunstwerk.

Konstantin: Wir haben unsere Musik von Anfang an mit Visuals untermalt, die sich an den expressionistischen deutschen Horrorfilmen der Zwanzigerjahre orientieren. Nosferatu, Caligari und Co haben naturgemäß eine unheimliche Bildgewalt, um auch ohne gesprochene Dialoge auf den Zuschauer wirken zu können. Harte Kontraste zwischen Licht und Schatten, Farbfilter, die abstrakte Kulissen in unwirkliches Licht tauchen… all das untermalt die Schwere und den Pathos unserer Musik perfekt.

Wisborg nehmen einen mit auf eine Reise. Auf einen nächtlichen Spaziergang durch eine nebelige, morbide Landschaft, die von Grab- und Irrlichtern erleuchtet ist. Sie wirkt grotesk und finster und irgendwie auch zwielicht schmeichelnd. Dabei malen die Texte ihre eigenen Bilder zu der Musik, verstärken atmosphärische Aspekte und bedienen sich methaphorischer Elemente, die in ihrer Ausdrucksstärke auch alleine stehen und dem Kitsch anheim zufallen könnten – tun sie aber nicht. Auch wenn der Grad zu diesem dem ein oder anderen teilweise etwas schmal erscheinen mag.

„And now your tears are falling like leaves, Witness to the beauty of our spring, When our love was blooming, Autumn’s going by, I’m gonna bury you in snow […] And from your tomb, Flowers shall grow, And what we had, I’ll have again and again, But you won’t“ (Wisborg – Winter falls)

Konstantin: Die Texte sind meine Baustelle. In der Regel liegt ein Gefühl oder ein Erlebnis von mir zugrunde, das ich abstrahiere und verallgemeinere. Unabhängig davon habe ich großen Spaß daran, literarische und populärkulturelle Referenzen in meinen Texten zu verarbeiten. Wer Muße hat, kann ja mal das Booklet durchgehen und in den Lyrics auf die Suche gehen. Wer alle Referenzen findet und einschickt bekommt ein T-Shirt umsonst.

Worum es bei Wisborg geht, sind am Ende immer die wesentlichen Dinge im Leben: „Liebe, Sex, Tod und Vergänglichkeit“. Besonders spannend ist für mich – neben der sprachlichen Verarbeitung der Thematik – ist der punktgenaue Einsatz von Gitarre und Synthesizer, die sich wunderbar ergänzen. Musik und Klang waren dabei schon immer Teil des Lebens von Konstantin und Nikolas.

Nikolas: Das ganze Konstrukt des Musikmachens interessiert mich seit jeher, vom Erforschen verschiedener Instrumente, über Produktionsweisen bis zu Orga-Abläufen […] Die ersten Schritte waren bei mir auch väterlicherseits am Klavier, allerdings hatte ich bis Wisborg keine Ambitionen, dem Klavierspielen aktiv nachzugehen. Mit ca. 14 Jahren kam ich erst in Kontakt mit Rockmusik, habe dadurch für mich etwas gefunden, mit dem ich mich identifizieren konnte und habe mir zeitnah eine E-Gitarre besorgt. Musik ist für mich vor allem ehrliche Emotion, im übertragenen Sinn sogar ein Katalysator im Emotionschaos. Nichts anderes bringt es manchmal so auf den Punkt.

Konstantin: Ich habe eigentlich schon immer Musik gemacht. Meine Eltern sind beide Berufsmusiker, dementsprechend war Musik bei uns zuhause immer allgegenwärtig. Was Musik für mich ist? Das, was mich im Leben am meisten erfüllt. Ich habe einen unstillbaren Drang, mich künstlerisch zu verwirklichen und nichts hat eine so berauschende Wirkung auf mich, wie Musik zu hören und zu machen. Dabei ist fast nebensächlich, was sie ausdrücken soll; es geht doch nur darum, was sie im Kopf des Zuhörers für Assoziationen hervorruft. Niemand fühlt dasselbe beim Hören meiner Musik wie ich beim Schreiben und vice versa; deshalb ist das Rezipieren von Musik etwas unheimlich Persönliches und Intimes.

Die Leidenschaft und Begeisterung für Musik sprüht förmlich aus Wisborgs Musik heraus und gemeinsam fügt sich Klang, Text und Ästhetik zu einem wundervollen Gesamtkunstwerk, das sowohl kraftvoll wie melodisch ist. Immer mit einem Hauch Melancholie, ohne dabei eintönig oder angenutzt zu wirken. Dazu trägt sicher auch die gemeinsame Arbeit an der Komposition bei.

Konstantin: In der Regel schreibe ich ein Grundgerüst für einen Song, bringe es in den Proberaumkontext und wir schrauben zusammen daran, sodass etwas Gemeinsames daraus wird.

Nikolas: Das Endergebnis ist meist ein Zwitter aus geplanten Ideen, die von Anfang an das Fundament des Songs bilden, gemischt mit Unfällen, die im Arbeitsprozess entstehen. Einige Samples auf dem Album sind kurz bevor wir ins Studio gegangen sind noch im Proberaum entstanden.

Neugierig? Wisborg hat neben einer eigenen Homepage auch ein soziales Profil bei Facebook und Instagram. Im Bandcamp kann man das Album gleich für 7€ (digital) erwerben.

Romantik – Eine Epoche voller Melancholie zwischen Tod und Traum

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Die Romantik ist die Epoche, die das Gothic-Genre wie man es heute kennt, überhaupt erst hervorgebracht hat. Der Begriff „Romantik“ ist heutzutage ziemlich verwässert und lässt uns in der Regel an Kitsch, Blumen und traute Zweisamkeit denken. Doch weit gefehlt. Begrifflich bedeutet „Romantik“ ungefähr, sich mit Geschichte und Kultur des eigenen Volkes auseinanderzusetzen und nicht mehr mit der in der Renaissance so hoch geschätzten Antike. Die gelesenen Texte und Werke waren also nicht mehr in lateinischer Sprache, sondern in der jeweiligen Landessprache, was in Frankreich, Italien oder auch Spanien eben romanische Sprachen sind. Damit stellte die Romantik aber nicht etwa den neuen allgemeinen Zeitgeist dar, sondern war quasi Gegenspieler der Klassik, die sich weiterhin an der Antike orientierte.

Vor allem aber ist die Romantik des späten 18. und 19. Jahrhunderts ist als eine Gegenbewegung zur nüchtern und naturwissenschaftlich geprägten Aufklärung zu verstehen. In einer Zeit, in der alles durchleuchtet und erklärbar wurde und man die Dinge entmystifizierte und rational betrachtete, sehnten sich viele Menschen nach dem Undurchschaubaren, nach Mystik und Abenteuer. Also entdeckte man beispielsweise die Welt der heimischen Sagen und Volksmärchen für sich und romantisierte das Mittelalter, was in unserer heutigen Vorstellung noch immer dieser romantisch verklärten Vision entspricht. Vernunft, Rationalität und kühle Betrachtung waren passé, statt dessen standen große Gefühlsregungen, Leidenschaften und Sehnsüchte im Mittelpunkt.

Wanderer
Der Wanderer über dem Nebelmeer – Casper David Friedrichs | Caspar David Friedrich artist QS:P170,Q104884, Caspar David Friedrich – Wanderer above the sea of fog, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Da wir von einer mehr oder weniger bewussten Gegenbewegung (und somit ein Stück weit vielleicht auch von Realitätsflucht) sprechen, und in Anbetracht der allgegenwärtigen Ängste der Menschen vor einer bedrohlichen, unbekannten, und von Industrie dominierten Zukunft, sollte es nicht überraschen, dass die Romantik im Allgemeinen schon nicht sonderlich fröhlich war. (siehe etwa Goethes „Leiden des jungen Werthers„) Da wundert es nicht weiter, dass sich etwa in der deutschen literarischen Schauerromantik eine konkret düstere Ausprägung breit machte, in der Geistergeschichten rezipiert und geschrieben wurden und wo Melancholie, Tod, Verzweiflung und Wahnsinn oft im Mittelpunkt standen.

Beispielsweise wären hier E. T. A. Hoffmanns „Nachtstücke„, Gottfried August Bürgers „Lenore“ oder auch Goethes „Totentanz“ zu nennen, doch natürlich waren es nicht nur deutsche Autoren, die sich auf diesem Feld betätigten, und so waren es vor allem die Engländer, die dieses Sub-Genre vorantrieben und sich mit deutschen Autoren munter austauschten und hin und her inspirierten.

Romantik in der Architektur

Doch Literatur war natürlich nicht das einzige künstlerische Feld, in dem sich die Romantik manifestierte. Besonders in englischen Oberschichtkreisen kam es zu einem Revival der gotischen Architektur, und somit auch in diesem Bereich zu einer romantisierten Form dessen, was man sich unter dem Mittelalter vorstellte. Horace Walpole zum Beispiel, der mit seinem Roman „Das Schloss von Otranto“ Namen und Motive der Gothic-Kunst prägte, gründete eigens ein „Committee des (guten) Geschmacks“, dass ihn bei den Entscheidungen rund um das Umgestalten und Ausbauen seines berühmten Wohnsitzes Strawberry Hill in neugotischem Stil unterstützte, wobei Kathedralen ebenso Vorbild waren wie Grabmäler.

Andere gingen gar so weit und bauten sich gotische Ruinen und nachgemachte Friedhöfe in ihre Landschaftsgärten und schufen kleine Grotten, in denen als Einsiedler verkleidete Landstreicher hausten, die extra dafür bezahlt wurden.

Ebenso ist die Malerei der Romantik oft weniger geprägt von „romantischen“ Landschaftsbildern, sondern eher von düsteren, introspektiven Bildern von Bedrohung und Verzweiflung. Beispielsweise Francisco de Goyas Radierung „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ (siehe Titelbild) gehört einerseits zweifelsohne zu den bedeutendsten Werken der Romantik, wurde andererseits von Richard Davenport-Hines bezeichnet als „perhaps the most important single image for the historian of the gothic“ („das vielleicht wichtigste Bild für den Gothic-Historiker“).

Romantik in der Musik

Diese tendenziell düster-morbide Haltung macht sich auch kenntlich in der Bewertung von zeitgenössischer Musik. So gehen Beispielsweise bei der Kritik der Beethoven-Klaviersonate Nr. 14 (bzw. deren ersten, sehr langsamen und melancholischen Satzes) durch Kritiker der Romantik die Interpretationen drastisch auseinander:

Das Stück ist sehr schleppend und in (cis-)Moll geschrieben und inspirierte dadurch den Musikkritiker Ludwig Rellstab zu der bekannten Bezeichnung „Mondscheinsonate“, da er sich an eine romantische, nächtliche Bootsfahrt auf dem Vierwaldstätter See erinnert fühlte. Zeitgenosse und Kollege Wilhelm von Lenz dagegen hatte weit düsterere Assoziationen, als er sich vorstellte, Beethoven habe das Stück an der Totenbahre eines verstorbenen Freundes geschrieben und es handle sich um einen Trauermarsch. Solch unterschiedliche Assoziationen ein und desselben melancholischen Themas sprechen wohl für sich.

Andere gingen gar so weit und bezogen Elemente der Schauerromantik in ihre Kompositionen ein. So schuf Hector Berlioz 1830 die „Symphonie Fantastique“ (bei der David Stevens konkret von „gothic influence“ spricht), deren dramatische Handlung sich um unerwiderte Liebe, Verzweiflung und Träume von Tod dreht, und die mit einem Hexensabbath mit einer Parodie des Dies Irae (aus der katholischen Totenmesse) schließt. Musikalisch haben wir es mit einer Berg- und Talfahrt der Gefühle zu tun, bei der auch bei scheinbarer Euphorie ein bedrohlicher Kontrabass im Hintergrund brummt und ruhige Momente von einzelnen harten Tönen wie Blitz und Donnerschläge durchzuckt werden.

Und wer jetzt noch denkt, Romantik habe etwas mit verträumtem Friede-Freude-Eierkuchen zu tun, der bemühe kurz Google nach den Namen verschiedener romantischer Maler wie etwa erwähnter Francisco de Goya, Johann Heinrich Füssli oder Caspar David Friedrich, deren mannigfaltige Werke (rangierend zwischen Melancholie, Ohnmacht und wildem Alptraum) wohl mehr aussagen als ich in Worten transportieren könnte.

Abtei im Eichwald
Casper David Friedrich – Abtei im Eichwald | Caspar David Friedrich † 7. Mai 1840, CDFriedrich Abtei im Eichwald, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Dieser Artikel ist bereits 2010 in den inzwischen geschlossenen Otranto-Archiven erschienen und erfährt nun eine überarbeitete Neuveröffentlichung.

 

Pfingstgeflüster 2018 – Bruchstücke einer Szene zu einem wunderbaren Mosaik geformt

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Bereits zum magischen 13. mal ist das Pfingstgeflüster erschienen, das einzigartige Erinnerungsmagazin des Wave-Gotik-Treffens. Auf 92 Seiten kann man sich etwas von dem bewahren, was die Szene und das Treffen in Leipzig meiner Ansicht nach ausmacht. Nicht nur für Besucher des Treffens eine Pflichtlektüre, sondern für alle die, die sich der Szene, der Musik, den Inhalten und ihren Menschen verbunden fühlen. Unter allen Neugierigen, die hier kommentieren, verlost Spontis wieder 2 ungelesene Exemplare. Verratet uns in den Kommentaren einfach, mit welchem Gefühl ihr Euch an das WGT erinnert, warum ihr nicht kommen konntet oder was Euch an einem solchen Magazin fasziniert.

Damit ihr eine Idee davon bekommt, um welche Themen es sich 2018 dreht, habe ich die meisten enthaltenen Artikel kurz angerissen und meinen Gedanken dazu geschrieben. Zugegeben, mein Blick ist getrübt, weil ich die Idee des Magazins unterstützen will und auch selbst ein paar Zeilen beigesteuert habe, aber ich bin mir sicher, dass sich das Pfingstgeflüster auch unter einer objektiven Betrachtung bewähren wird.

Pfingsgeflüster 2018 - Monica Richards

  • Monica Richards hat nach 7 Jahren Abstinenz wieder das WGT besucht und erinnert sich an alte Zeiten und macht sich Gedanken über die aktuellen Zeiten. „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was die jüngere Generation über mich weiß. Alles hat sich scheinbar in die schnelllebige Welt der sozialen Medien verlagert, verloren in der Einöde des Kurzzeitgedächtnisses.
  • Die Ausstellung „Absurd Art“ von Franziska Strodl hat sich Guldhan genauer angesehen.  „Das Vergängliche macht ein fröhliches Gesicht“ betitelt er seinen wortgewaltigen und eindrucksvollen Beitrag, der den gezeigten Bildern in nichts nachsteht. Auch sein Beitrag „Das kleine Volk“ über die Bilder von Holger Much, BenSwerk und Luci van Org ergießt sich ähnlich eloquent über die Synapsen des Lesers, auch wenn mich die Bilder nicht so beeindrucken, wie die von Franziska.
  • Wortreich ist auch das Gedicht und der Titel von Thomas Manegold, welches das Heft inhaltlich zu schmücken weiß: „Ideen wachsen wie Unkraut in der Jugend und wie Orchideen im Alter.
  • Auch auf dem Friedhof wächst Unkraut, doch das ist nicht die Art von Ästhetik die Marcus Rietzsch beim Besuch des alten Johannisfriedhofs mit seiner Kamera und seinem Herzen eingefangen hat. Es lohnt sich, im Text des Artikels in der blutigen Vergangenheit des Friedhofs zu stöbern, während das eindrucksvolle Bildmaterial für Atmosphäre sorgt.
  • Für den diesjährigen Beitrag über die Besucher, der zur geliebten Tradition geworden ist, hat Ines Kranert die Interviews ersonnen, geführt und gesammelt und bietet wieder einen intensiven Einblick in den Lebens- und Gedankenwelt der dargestellten Besucher. Ich habe mich zu einer Einleitung und einer Art Fazit hinreißen lassen. Wir hoffen, ihr findet Euch darin wieder.

 

  • Dr. Wonka hat keine Schokoladenfabrik, sondern sein eigenes Festival in Bayern gegründet, um etwas vom Zauber des WGT, dass er schon so viele Jahre genießt, mit regionalen Bands in der eigenen Heimat zu erleben. „The Wave“ ist also der Versuch, den „Urlaub von sich selbst“ nie enden zu lassen.
  • Christian von Aster ist die personifizierte humorvolle Seite der Szene, die sich häufig genug in liebevoll geschriebenem Sarkasmus und bitterbösem Wortspiel äußert. Seine „Grufti-Glosse“ ist auch dieses Jahr mit der Geschichte von „Lukas – Die launische Liebesbrieftaube“ wieder ein Teil der Geflüsters.
  • Mit Otherness & Dimensions folgt ein visuell inspirierende Reise in die Ästhetik der Szene. Corinna Seifert sorgt für einen Einblick in das mexikanische Kulturverständnis: „Es sind nicht die weitgefächerten musikalischen Strömungen, die den gemeinsamen Konsens der aus Großbritannien stammenden Gothic-Szene bilden. Das Selbstverständnis der Mexikaner geht auf die Kultur ihrer eigenen Heimat und ihrem Umgang mit dem Tod zurück.
  • Jawa Seth von den Merciful Nuns erzählt von ihrer sehr inspirierenden Reise nach Mexiko, wo sie fernab von zivilisierten Dogmen den faszinierenden Hauch alter Religionen in sich aufsaugt, den sie erst durch ihre Musik im Gedächtnis manifestieren kann. Spannender kann man das Album „Xibalba“ nicht umschreiben, das Produkt dieser Reise sein soll.
  • Pia Stöger und Dr. Constance Timm erzählen uns in ihrem Artikel aus einem ihrer Vorträge über Monster und Menschen vom Mythos Frankenstein, den sie durch ihre wissenschaftlich und gleichzeitig leidenschaftliche Art erklären, ohne ihn zu entzaubern.
  • „Musik ist mein Leben“ meint Anatoly Pakhalenko von Nyttland, schade dass sein Beitrag über das WGT nicht mit ähnlicher Qualität überzeugt. Viel besser und viel intensiver liest sich Jae Matthews von Boy Harsher, die eine emotionale Achterbahn in einer Endlosschleife durchfährt, während sie von Paris nach Leipzig reist. „Pain“ bekommt eine ganz neue Bedeutung für mich. Großartig!
  • Von David Gray gibt es etwas „geschmackvolleres“ auf den Tisch, wenn er uns ins seinem Lesungsbeitrag „Herzragout“ von Pariser Mordfällen erzählt, zu dessen Aufklärung sich die ortsansässige Polizei niemand geringeren als den Marquis de Sade wendet, denn „Es brauchte schon ein Ungeheuer, um ein Ungeheuer fassen zu können.
  • Über ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit der schwarzen Szene und dem WGT berichtet auch Lydia Benecke: „Die bewusste Einbeziehung trauriger Aspekte des Lebens in die menschliche Existenz ist eine der Stärken, die ich an der schwarzen Szene enorm schätze. Durch vielfältigen, künstlerischen Ausdruck werden die düsteren Seiten des Lebens erfassbar, was zur psychologischen Verarbeitung beiträgt.
  • Abschließen möchte ich mich Carsten Klatte und einem Auszug aus seiner Gedichtsammlung mit dem Titel Widukind:

    Die Chance auf ein Heimkommen ist groß
    Sobald du dich selbst verlierst
    Durchs Zentrum entsteht ein Sog
    der dich führt, selbst wenn du nichts spürst.

Wieder ist Marcus Rietzsch ein unglaublicher Kraftakt gelungen, dessen Anstrengung ich gar nicht genug hervorheben kann. Auch wenn die gute Seele des Pfingstgeflüsters nicht aktiv bei der Vorbereitung und Erstellung zugegen war, bin ich mir sicher, sie zwischen all den Zeilen und Seiten spüren zu können. Wie ein zufriedener Blick von dem Ort, an dem sie jetzt verweilt.

Das Pfingstgeflüster 2018 ist am 21. Juli 2018 erschienen, umfasst 92 großartige Seiten und ist zum Preis von 8,90 Euro im Shop von Marcus Rietzsch erhältlich. Seltener konnte man sein Mammon sinnvoller und dunkler verteilen, als hier.

Video: Gothic, was ist das eigentlich?

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Karnstein hat sich bereits vor einigen Jahren mit der Begrifflichkeit „Gothic“ auseinandergesetzt und ein Video dazu veröffentlicht, das wir anhand dieses Beitrags noch einmal vorstellen möchten, weil es nichts an seiner Aktualität verloren hat. Sein damaliger Blog „Otranto-Archive“ wurde geschlossen und viele seiner Beiträge haben hier eine neue Heimat gefunden. Doch nun zum Beitrag:

Was hat es eigentlich auf sich mit diesem „Gothic“?

Natürlich muss ich euch nicht erklären wie die Szene aussieht in der sich mit einiger Wahrscheinlichkeit ohnehin mindestens 90% meiner Leser bewegen, und wie wir alle wissen waren sämtliche Versuche einem (ohnehin nur mäßig interessierten) außenstehenden Publikum die Szene zu erklären ohnehin von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Nein, was ich an dieser Stelle tun möchte ist ein Projekt präsentieren das ich tatsächlich begonnen habe als die Archive noch ganz ganz frisch waren und ich mich im Rahmen meines literaturwissenschaftlichen Studiums auf sehr ernsthafte und akademische Art und Weise noch etwas genauer mit meinem Lieblingsthema habe befassen dürfen.

Denn egal wie sehr die Menschen Gothic leben – ich habe doch schon oft festgestellt dass der Begriff „Gothic“ und all seine Facetten und Bedeutungen dennoch für den großen Teil der Szenegänger das eine oder andere spannende Geheimnis birgt (ging mir natürlich kein bisschen anders).

Also mal Fakten auf den Tisch! Was heißt das – Gothic? Was bedeutet das? Wo kommt es her? Und was ist auch heute noch alles Gothic ohne dass ich es sofort vermuten würde? Lasst mich den Versuch wagen ein reichlich verknotetes Knäuel nachtschwarzen Garns zu entwirren…

Keine Atempause! Dokumentation über den Punk aus dem Ratinger Hof in Düsseldorf

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Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran!“ Dieser Refrain steht stellvertretend für den Punk in Deutschland, obwohl der beim Erscheinen dieses Songs bereits seit einigen Jahren in vollem Gange ist. Der Ratinger Hof in Düsseldorf war eine Keimzelle der deutschen Punkbewegung, in der sich bereits Anfang 1977 Bands im wöchentlichen Takt gründeten. Die Band Male, die erst seit Dezember existierte, löste mit ihrem Auftritt im März 1977 eine wahre Flut von Neugründungen aus, der sich auch Peter Hein, späterer Sänger der Fehlfarben, nicht entziehen konnte. Mit Charlys Girls, S.Y.P.H., KFC, Mittagspause, DAF oder auch Östro 430 gründen sich viele kreative Punkbands, die einen bleibenden Eindruck hinterließen und von der Landeshauptstadt am Rhein die deutsche Musikszene nachhaltig beeinflussten.

Der Ratinger Hof in Düsseldorf 1978
Ralf Zeigermann, 1978-05-20 Duesseldorf Ratinger Hof, CC BY-SA 3.0

Eine Dokumentation des WDR bringt diese Ereignisse in sehr gelungener Art und Weise auf die Bildschirme. Interviews mit den damaligen Bandmitgliedern, sehenswertes Archivmaterial und eine gelungene Verknüpfung der Ereignisse machen einfach mal einen anschaulichen Geschichtsunterricht.

Mit Beginn der 80er Jahre überschlagen sich die Ereignisse, vielen Bands und Entwicklungen gelten bereits als kommerzialisiert und spätestens mit dem Siegeszug der Neuen Deutschen Welle, der sich über mit seiner Belanglosigkeit über die deutschen Charts ergießt, war der Kampf gegen das Establishment scheinbar verloren. Das Punk-Mädchen aus dem vorangegangenen Video kommt zur selben Einschätzung.

Die Idee des Punk sollte jedoch nie ganz untergehen. Denn auch in den kommenden Jahrzehnten sollte es weiterhin unkommerzielle Musik und Künstler geben, die das, was sie fühlen und denken, aus der Gitarre quetschen oder in Texten den Publikum entgegenschleudern. Doch konzentrierte Brutstätten von autonomen Bewegungen – wie der Ratinger Hof – versickern im digitalen Brei der Omnipräsenz von Musik, Meinung und Menschen.

Hier gibt es noch mehr zu hören und zu sehen: 1981 – Die verschmähten Perlen der NDW

Punk in Düsseldorf 1981: Leben und warten, das die Bombe fällt

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Punk ist tot.“ Sie wirkt ein bisschen trotzig, enttäuscht und traurig, die Punkerin aus Düsseldorf, als sie etwa 1981 feststellt, dass Punk von der Industrie aufgegriffen und vermarktet wurde und das elitäre Gefühl, das offenbar für sie darin zu finden war, verloren gegangen zu sein scheint. „Leute, die einem früher Schimpfwörter nachgeschrien haben, grinsen heute freundlich, wenn man mit seinem Mini-Röckchen vorbeigeht.“ Ein Leben, wie es die Gesellschaft vorzuschreiben scheint, lehnt sie ab. Für ein paar Stunden Freizeit, Gespräche über das Fernsehprogramm oder Unterhaltungen über das Essen 30 Jahre lang bügeln?

Die kurze Doku (leider in schlechter Qualität) mit dem sprechenden Titel „Punk und die Folgen – Schick in den Abgrund“ beschreibt treffend die Attitüde rebellischer junger Leute in den frühen 80ern.

Als wir 1977 die ersten Fotos von Punks sahen, da haben wir alle nur gelacht über die Leute in den merkwürdigen Fetzen mit den komischen bunten Haaren. Wir haben es nur hässlich gefunden und konnten uns überhaupt nicht vorstellen, dass daraus jemals Mode wird.“ Karin Felix, von der Zeitschrift Brigitte stellt bereits 1981 fest, das genau diese Art der äußeren Rebellion Mode geworden ist und unterstreicht damit das Gefühl, Punk sei längst kommerziell geworden.

„Ich interessiere mich nicht für Politik weil ich meine es hat keinen Sinn mehr. Es ist einfach zu spät. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo man einfach Leben und warten kann. Warten worauf? Das die Bombe fällt.“

Die Düsseldorfer Punkszene ist auch die nächsten Tage wieder bei Spontis ein Thema, dann erzählen nämlich die musikalischen „Legenden“ von damals, wie sie das damals so fanden. Und wir hören zu und lauschen.

Leserbriefe: Wie Rebecca auszog, sich selbst und ganz nebenbei Spontis zu finden

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Von Zeit zu Zeit erreichen mich E-Mails oder auch Nachrichten, die von persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen erzählen und wie in Rebeccas Nachricht, vom Szeneeinstieg, der erfreulicherweise ein wenig mit Spontis zu tun hatte. Ich habe mich entschlossen, daraus einen Leserbrief zu machen und würde mich freuen, wenn auch ihr die Möglichkeit ergreift, einfach mal zu schreiben. Eure Geschichte, eure Meinung, eure Erfahrungen. Doch zunächst zu Rebecca und ihrem Weg zum WGT:

Nun stehe ich hier an der Straßenbahnhaltestelle, immer wieder schweift mein Blick über das Stoffband an meinem linken Handgelenk. Ich habe es geschafft, dachte ich. All die Jahre des Wartens und Träumens hatten sich gelohnt. Ich steige voller Vorfreude in die erste Straßenbahn….

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf mitten in Sachsen. Fünfzig Familien, zwei Busse am Tag und eine Gaststätte. Als Kind das Paradies auf Erden. Zu dieser Zeit war ich ein klassischer Mitläufer. Die Musik, die die Anderen hörten, möchte ich auch. Wie meine Freunde sammelte ich Yu-Gi-Oh Karten und aß Centershock Kaugummis. Im Jahre 2004 saß ich dann des einen abends vor dem Fernseher und entdeckte plötzlich ein für mich völlig seltsames Musikvideo. Wenige Jahre später, 2008, um genau zu sein, fand ich heraus, dass es sich bei gesuchtem Video um den Song „Augen Auf“ von Oomph! handelte.

Dem Internet und einem Videoportal sei Dank begann ich nun weiterhin in dieser Musik zu stöbern. Es folgte Bands wie Rammstein und Unheilig, zugegeben keine ernsthaften Vertreter der Gothic Kultur. Jedoch dies waren die ersten zaghaften Berührungspunkte mit der Szene und bis heute höre ich diese Bands. Irgendwann (inzwischen war ich älter geworden), spürte ich wie sich mein Interessenschwerpunkt in der Szene wandelte. Ich begann mich immer mehr zu fragen, wie fing das alles an? Gab es bestimmte Auslöser für die Szene? Was für Musik lief damals und wie lebte man die Kultur damals aus? Alles das waren Fragen, die ich beantwortet haben wollte.

Nach kurzer Recherche stieß ich auf einen Blog der schwarzen Szene – Spontis. Hier wurden plötzlich die Themen angesprochen, die mich interessierten und auch mein Musikgeschmack begann sich zu wandeln. Dank der Videovorschläge eines Videoportals, vernahmen meine Ohren die Stimme eines jungen Mannes. Sein Gesicht war bleich geschminkt und seine Haare wild zerzaust. Ich weiß nicht mehr ganz genau, mit welchem Song die Band mich gewonnen hatte, aber ab jetzt besaß diese Gruppe namens The Cure einen festen Platz auf meinem MP3-Player und in meinem CD Regal. Es folgen weitere Künstler wie Joy Division, Sisters of Mercy oder Anne Clark. Wissend, dass ich nun endgültig in meiner Welt als Außenseiter galt, wusste ich jedoch eines. Ich hatte endlich mich selbst gefunden. Ich hatte endlich das Gefühl, frei zu sein. Einfach in dem Ich, Ich war und nicht nur Mitläufer um anderen zu gefallen. Dies war wohl ein sehr wichtiger Schritt in meinem noch jungen, pubertierenden Leben. Wie zu erwarten war ich in meiner Klasse die Einzige in einer Subkultur und auch in meiner Schule gab es nur ein wesentlich älteres Mädchen aus der Szene. Ich beginne also mich im Internet nach Communitys umzusehen, aber warum sich unterkriegen lassen? Ich werde immer mutiger meine Lebenseinstellung auch so gut es eben geht im Alltag auszuleben.

Mit Sicherheit laufe ich nicht in Plateaustiefeln früh zum Bäcker, um meine Brötchen zu kaufen, aber ein schwarzes Hemd, hier und da dezenter und symbolischer Schmuck gehören für mich schon zu meiner Wohlfühlkleidung. Die Monate verstreichen und es wird Pfingsten. Ich beschließe nach Leipzig zu fahren.
Ich möchte wissen, wie das WGT wirklich ist und nicht immer nur Dokus schauen, die ich im Internet finde. Was soll ich sagen, ich war fasziniert. So viele verschiedene Menschen und alles waren wahnsinnig herzlich zueinander. Die folgenden Jahre wird der Tagesausflug zu Pfingsten nach Leipzig mein jährlich Lichtblick. Hier werde ich nicht schikaniert, hier bin ich keine Einzelgängerin, die sich nach der Schule in ihr Zimmer verkriecht und hofft das es auch für sie eines Tages besser wird. Die Jahre verstreichen. Ich mache meinen Schulabschluss und eine Berufsausbildung. Der Szene bleibe ich treu. Bis Heute.

„Nächster Halt Leinestraße.“ Ich steige aus der Straßenbahn und folge der schwarzen Masse Richtung Torhaus. Nach all den Jahren bin ich nun endlich auf dem WGT.