Das Modemagazin Vogue hat in seiner Artikelserie „Extreme Schönheit“ Parma Ham dabei beobachtet, wie er sich zurechtmacht und zugehört, wie er von sich und seinem Styling berichtet. Parma Ham ist Stilikone einer Goth-Fashion-Bewegung, die bereits seit einigen Jahren den klassischen Goth-Style auf ein neues Level erhebt und die über Instagram tausende Bewunderer um sich schart. Designer und Modelabels bedienen sich seit einigen Jahren wieder verstärkt am Style dieser jungen Gothics und erzeugen dabei ein knisterndes Spannungsfeld zwischen Subkultur und Kunst.
Selbstinszenierung auf die Spitze getrieben
Instagram ist eine Möglichkeit, sich selbst und seinem Style eine Bühne zu bauen. Je extremer, je extravaganter und tabubrechender ein Gothic-Look ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, beachtet, geteilt oder geliked zu werden. Parma Ham hat diesen Trend früh für sich erkannt und geht in seinem Londoner Umfeld immer auffälligere Wege, sich auszudrücken. Dass seine Outfits weniger als Kleidung durchgehen, sondern vielmehr als Kunstform, lockt auch Designer und Modemagazine in die schwarze Subkultur.
Es bleibt allerdings im Auge des Betrachters, Kunst in Form von Outfits oder Stylings auch als solche anzuerkennen. Denn trotz aller Bewunderung und Selbstinszenierung scheint es völlig an zusammenhängenden Inhalten, musikalischer Identifikation oder einer rebellischen Attitüde zu fehlen. Die Frage ist allerdings, ob das überhaupt eine Rolle spielt.
Betrachtet man Parma Ham allerdings als Stilikone, so wirkt er wie ein modischer Querschnitt aus 40 Jahren Gothic-Szene, der sich an allen – möglichst extremen – Einflüssen der Szene bedient, die in den letzten Jahrzehnten zu einem Teil dieser wurden. Angefangen vom „Big Hair“-Look der 80er über die Lack- und Leder Trends der 90er bis hin zum „Genderfluid“-Style der letzten Dekade vereint er alle Einflüsse in seinen Outfits, die er dann ohne erkennbare Grenzen überspitzt.
Leider überschreitet Selbstinszenierung auch schnell die Grenzen zur Lächerlichkeit, wie ich finde, denn als ich die 4 Leute da so aufgebrezelt im Ruderboot gesehen habe, brach die coole, hippe und freakige Fassade zusammen wie ein Kartenhaus. Für mich jedenfalls.
Bis dahin ist so ein Video allerdings schön anzusehen, gerade während einer Zeit, bei der sich kaum Gelegenheit bot, sich selbst in Schale zu schmeißen. Auch wenn ich natürlich weit entfernt bin von Haarpracht, Hautzustand und Figur der Stilikone. Denn seien wir ehrlich, Selbstinszenierung ohne Zuschauer ist doch langweilig, oder?
„Last Christmas, i gave you my heart, but the very next day, you gave it away…“ Leise trällert der Song aus dem Radio. Wie gerne würde der Fangzahn, der traurig seinen Kiefer auf die nicht vorhandene Hand stützt, sich darüber beklagen, wie beschissen er diesen Song findet. Doch auch der Glühwein aus der Flasche, der still in seiner Tasse dampft, mag ihn in Stimmung dazu bringen. Was waren das für Zeiten, als er noch mit dem Knoblauchzopf und dem Dämon in einem Nebel aus Glühweinschwaden eine Parodie auf den Song trällerten, während die Pflöcke die Vampire auf der Eisbahn jagten und Alana Abendroth die nächste Runde erhitzte. Traurig blickt der Fangzahn auf den teuflischen Wandkalender an der Wand seiner völlig leeren Behausung. Wer hatte eigentlich die bescheuerte Idee mit dem Virus? Bestimmt die doofe Fledermaus! Traurig blickt er auf den Wandkalender. Noch 365 Tage bis Weihnachten 2021, vielleicht kann er dann wieder die Menschen verschrecken.
Abigail ist 18 und erklärt der BBC selbstbewusst, was Goth ist, denn „nichts für ungut, aber du hast keine Ahnung, was Goth ist.“ Doch gleich vorweg möchte ich dem Boot der Empörung den Wind aus den Segeln nehmen. In diesem Artikel geht es nicht darum, Abigail zu erklären, was Goth ist, ihre Meinung zu analysieren oder gar der BBC eine viel bessere Erklärung zu geben, was Goth ist, sondern darum, was vielleicht aus Goth geworden ist und – was vielleicht viel wichtiger ist – ob es eigentlich nicht immer schon so war.
Gothics sind ganz normale Leute
Wir sind nicht depressiv, sind keine Satanisten, hören keinen Metal und möchten nicht angestarrt, fotografiert oder gar angetatscht werden. Wir hören Gothic-Musik und kleiden uns anders.
Soweit Abigails markante Kurzfassung. Ich kann ihr allerdings nicht widersprechen, auch wenn ich gerne Monologe über die Inhalte und Leidenschaften der Szene halten würde. Gothic ist genau DAS geworden. Eine recht unspezifische und schwierig abzugrenzende Musik-Richtung und eine Mode, die die Farbe Schwarz in den Vordergrund stellt. Gothic ist ein Label, das einfach überall draufgeklebt wird, wo es düster ist, gruselig sein oder böse klingen soll. Wie früher, als die Mitarbeiter im Supermarkt mit diesen Etikettiergeräten die Preise auf die Waren geklebt haben. Übrigens kannst du Gothic auch in eben diesem Supermarkt kaufen, es gehören weder Kreativität noch „gute Connections“ dazu, ein Gothic zu werden.
Wenn wir in Zeitungen oder Fernsehberichten auftauchen, werden wir als harmlose, mal gruselig und mal sexy gekleidete Menschen dargestellt, die überhaupt nicht mehr zum Lachen in den Keller gehen und schon gar nicht den Dingen nachgehen, die man sich aufgrund des düsteren Aussehens zusammenreimen könnten.
Wenn wir nach den dunklen Flecken in unserer Vergangenheit, wie Grabschändung, Satanismus, Teufelsanbetung oder schwarze Messen gefragt werden, wiegeln wir großflächig ab. „Alles Quatsch„, so die Devise. Wir sind weder depressiv noch todessehnsüchtig oder leiden pauschal an irgendeiner anderen mentalen Störung. „Das mag es geben, aber eben nicht mehr als beim Rest der Gesellschaft.“ Sagt auch Abigail.
Gothics sind also ganz normale Leute, die sich anders anziehen und einen eigenen Musikgeschmack haben!
Gothics auf der Suche nach ihrer Daseinsberechtigung
Das reicht uns allerdings schon lange nicht mehr, um unser Dasein als Gothic für uns selbst und gegenüber anderen zu rechtfertigen. Ich meine, wie traurig wäre es auch, wenn wir immer noch im Klamottengeschmack unserer Jugend verharren würden? Wie unflexibel wären wir denn, wenn wir immer noch auf die gleiche Art Musik abfahren würden, die wir auch schon damals gehört haben?
In den späten 80ern, als die ersten jugendlichen Gothics erwachsen wurden, trennte sich die Spreu vom Weizen. Entweder hattest du als Gothic alles ausprobiert, was der Klischee-Katalog so hergab und dich dazu entschlossen, einem anderen Trend nachzulaufen, oder du bist geblieben, weil dir Kleidung und Musik immer noch gut gefallen haben. Dann musstest du jedoch eine Daseinsberechtigung kreieren, die Gothic dann von einer Musikrichtung und einer Art, sich zu kleiden, zum Lebensgefühl erhob. Wäre ja sonst ein bisschen peinlich, immer noch wie ein Jugendlicher rumzurennen, oder?
Literatur, Kunst, Religion, Mythologie boten viele Parallelen zur Szene. Nicht nur optisch waren wir von solchen Dingen inspiriert, auch die Szene-Bands schmückten sich nicht selten mit ebendiesen Quellen, um ihrer Musik und den Texten das „besondere Etwas“ zu verleihen. Daraus zimmerte man sich dann ein Lebensgefühl. Das ließ sich auch ganz prima vorschieben, wenn man aufgrund seines Outfits nach der Schul- oder Studienzeit auf Widerstände stieß. Warst du ein paar Jahre später immer noch nicht „klüger“ und in der Szene zu finden, krönte man das dann zur Weltanschauung. Tod und Trauer waren plötzlich cool, Satanismus klang spannend und verboten und sowieso baute man sich auch noch aus merkwürdigen Religionen seine ganz eigene.
Gothic ist nicht nur eine Musikrichtung und eine Mode, sondern eine Lebenseinstellung!
Satanisten und Todessehnsucht. Gothics werden böse!
Das hatte allerdings seinen Preis. Genau dieses Klima lockte auch viele Individualisten und Spinner in die Szene, die darin einen persönlichen Spielplatz sahen, ihre sexuellen Vorlieben, ihre Fetische, ihre psychische Instabilität oder ihren kranken Geist auszuleben. Gepaart mit dem Hang zur Selbstdarstellung und der Suche nach dem nächsten „Kick“ wuchs daraus eine Szene, die sich mit immer neuen Verrücktheiten zu übertrumpfen versuchte und damit Aufmerksamkeit erregte.
Satanisten, Grabschänder und Teufelsanbeter, die selbstmordgefährdet die Grenzen des Lebens ausloteten oder auch depressive Traurigkeitsfetischisten, die den Schmerz der Welt fühlen konnten.
Das lockte nicht nur die Medien an, sondern auch wirklich depressive Menschen, kranke Verrückte oder narzisstische Spinner. Einige Selbstmorde, Morde, rätselhafte Grabschändungen und schwarze Messen später war dann klar:
Von wegen harmlos! Gothics, die Musik und ihre Inhalte sind böse und gefährlich.
Gothics bringen es als Zurückruderer zu legendären Siegen
Die letzte große Bewegung in der Gothic-Szene war das Zurückrudern. Wir wurden zu Erklärbären und Aufklärern, die mit der Mission durch die Welt zogen, die bösen Vorurteile und Klischees auszuräumen. Wir suchten nach Akzeptanz, Toleranz und Anerkennung, weil uns die ständigen Vermutungen müde machten. Nein, wir sehnen uns nicht nach dem Tod. Nein, wir sind nicht nur traurig. Nein, wir feiern auch keine schwarzen Messen.
Allerdings machten wir das so effizient und allumfassend, dass dabei sämtliches, mystische und geheimnisvolle Kraut der Unverstandenheit ausstarb.
Was geblieben ist, lässt sich vielleicht so zusammenfassen. Gothics sind Verkleidungskünstler und Fashionvictims, die kein Mittel scheuen, sich äußerlich zu individualisieren. Für nahezu jede Kamera haben wir eine Pose übrig und wenn uns kein anderer ablichtet, setzen wir uns selbst in Szene. Gothic wird eine Art, sich zu schminken, ein Thema, zu dem man sich modisch einkleidet oder ein Motto für die nächste Party. Musikalisch lassen wir uns nicht einengen, der Begriff „Gothic“ ist uns als musikalische Richtung viel zu sperrig. Ach, was rede ich denn? Wehe, irgendjemand nennt mich noch „Gothic“!
Und wenn wir uns tatsächlich noch mit Gothic als Weltanschauung, als Lebensgefühl oder als inhaltsstiftende Leidenschaft beschäftigen, dann machen wir das im stillen Kämmerlein. Wenn uns einer konkret fragt, dann relativieren wir uns die Münder fusselig. Da wird dann aus Gothic schnell eine angeblich alternative Lebenseinstellung, die politische Richtung, aktive Rebellion oder irgendeine Meinung rechtfertigt.
Gothic Abigail ist das Ende vom Anfang
Für Abigail ist Gothic Musik und Mode. Mehr nicht. Ganz so, wie es früher einmal war. Die Musik ist ein bisschen trauriger oder düsterer und die Mode ausgefallen und symbolträchtig. Böse Zungen behaupten, dahinter steckt meistens nichts.
Wir grenzen uns als Subkultur nicht mehr ab, buhlen um Anerkennung und Akzeptanz, wollen leben und leben lassen. Toleranz ist uns wichtig, Beliebigkeit wird dabei vom Individualismus überfahren. Anders als die anderen, subkulturell cool und gleichzeitig akzeptiert und erfolgreich.
Ich komme mir ja selbst ein bisschen blöd vor, weil ich das Zurückrudern ebenso praktiziert habe wie das Relativieren. Und jetzt sitze ich hier vor dem Video von Abigail und sehne mich nach der Zeit zurück, in der man Angst vor Gothics hatte, uns argwöhnisch betrachtet und beschimpft hat oder tuschelte, dass wir dieses oder jenes machen würden. Ich sehne mich nach einer Zeit zurück, in der es reichte, mit schwarzer Kleidung seine empfundene Andersartigkeit und Verbundenheit zur Szene auszudrücken.
Aber ich werde mich arrangieren. Weder die Szene noch mein Gefühl dafür sind tot. Vielleicht müssen wir neue Wege der Abgrenzung gehen und die Intoleranz in dosierter Form wieder für uns entdecken? Vielleicht auch mehr Inhalt und weniger Mode? Vielleicht ein Sarg im Schlafzimmer? Vielleicht bin ich aber auch auf der Suche nach der Rechtfertigung, dass ich seit so vielen Jahren fast nur schwarze Klamotten habe.
Nichts für ungut, aber ich habe wirklich keine Ahnung, was Gothic ist!
Ein Bild vom WGT 2012 – Ob die auch keine Ahnung haben, was Goth ist?
Als ich neulich in einer alten Musikexpress-Zeitschrift blätterte, stieß ich auf einen Artikel über das „Zwischenfall“ in Bochum. Mir fiel ein, dass ich die Kultdisko im Jahr 2011 zum ersten und zum letzten Mal betreten habe.
Robert und ich waren gemeinsam dort gewesen. Ich ging damals tief beeindruckt und andachtsvoll durch die heiligen Hallen. In meinem Szene-Leben war ich in anderen Düster-Schuppen unterwegs gewesen, zum Beispiel im Old Daddy in Duisburg. Das Zwischenfall war für mich unerreichbar und ich weiß auch nicht, ob ich mich dort hineingetraut hätte. Schon damals hatte man ja immer das Gefühl, nicht gruftig genug zu sein. Ich hatte in den 80ern nicht einmal Pikes.
Anzeige fuer das Zwischenfall im Zillo
Ab Anfang der 90er-Jahre lebte ich dann fast 20 Jahre weit vom Ruhrpott entfernt. Also wieder kein Besuch im Zwischenfall. Im fortgeschrittenen Alter mit einem Haufen Szene-Erfahrung mehr durfte ich dann also nach meiner Rückkehr in die Heimat mit Robert endlich die sagenumwobene Kult-Disko kennenlernen. Wir nahmen uns nach dem schönen Abend dort vor, öfter dort tanzen zu gehen. Doch dazu sollte es leider nicht mehr kommen.
Am 19. August 2011 erreichte uns die Hiobsbotschaft. In der Nacht hatte es im Haus, in dem das Zwischenfall untergebracht war, einen Brand gegeben. Die Räumlichkeiten wurden durch das Löschwasser zerstört. Das Gebäude war nicht mehr zu retten. Für mich wurden mit dem Gebäude keine persönlichen Erinnerungen abgerissen, aber doch die Möglichkeit, den Geist der Vergangenheit in den gruftigen Mauern zu erkunden. Es tat schon ein bisschen weh, das Kleinod loszulassen, in das ich mich doch jetzt erst getraut hatte.
Ich saß also da und las den alten Artikel im Musikexpress aus dem Jahr 1987. Auf einem der dazugehörigen Bilder war DJ Klaus Märkert abgebildet. Klaus kennen wir schon seit vielen Jahren. Ich hatte die Idee, ein Interview mit ihm zu machen. Das Zwischenfall kann ich nicht mehr erkunden, aber Klaus kann mir von früher erzählen.
Wer will Bücher von Klaus Märkert gewinnen?
Wie im Video angekündigt, wollen wir euch die Weihnachtszeit versüßen – oder besser „verdunkeln.“ Wir verlosen folgende Bücher von Klaus Märkert, damit ihr euch aufs Sofa kuscheln und tolle Szene-Anekdoten aus den 80er-Jahren lesen könnt :
2 x Habt Sonne
2 x Requiem für Pacman
2 x Das Besondere kommt noch
Das müsst Ihr dafür tun:
Einen Kommentar zu diesem Artikel hier in diesem Blog hinterlassen! Unter allen Kommentaren verlosen wir etwa Mitte Dezember die 6 Bücher, damit die auch noch pünktlich vor dem Fest ankommen. Es können nur Kommentare berücksichtigt werden, die auch eine gültige E-Mail-Adresse zur Kontaktaufnahme hinterlassen.
Support your Lieblingsautor!
Gerade zu Coronazeiten brauchen die DJs, Autoren, Künstler und Händler der Gothic-Szene unsere Unterstützung. Vielleicht habt Ihr ja Lust, zu Weihnachten großartige Bücher zu verschenken. Eine Übersicht über die Bücher von Klaus Märkert findet ihr bei Amazon, zur Webseite von Klaus Märkert geht es hier.
Auf der jüngst erschienen Compilation „too much future“, die aus drei Vinyl-Schallplatten und einem 80-seitigen Booklet besteht, gibt es erstmal die Geschichte des Punkrock in der DDR von 1980-1989 zum nachhören. Henryk Gericke war damals mit seiner Band „The Leistungsleichen“ ein Teil dieser Bewegung, ist auf dem Sampler zu hören und ist auch Autor des ausführlichen Booklets. Bei Deutschlandradio Kultur spricht er mit Musikjournalist und DJ Thomas Thyssen über Punk, die DDR und seine Erinnerungen an eine der konspirativsten Musikbewegungen in Europa.
Punk existierte im Untergrund
Punk in der DDR ist ein wenig dokumentiertes Kapitel der ostdeutschen Vergangenheit. Das hat völlig pragmatische Ursachen, denn die Punks und ihre Musik waren der Staatsmacht ein Dorn im Auge. Veröffentlichung und Auftritte waren verboten und die Punks wurde allein wegen ihres Äußeren von der Staatssicherheit beobachtet und verfolgt. Die Subkultur fand ausschließlich im Untergrund statt. Es gibt daher keine Aufnahmen, keine Veröffentlichungen, keine Labels und kaum Erinnerung an diese Zeit.
In Westdeutschland drehte sich Punk häufig um das Establishment, die spießige Gesellschaft oder gegen die gefühlten Zwangsjacken eines vorbestimmten Lebens. In der DDR war Punk deutlich – wenn nicht sogar immer – politisch, rebellisch und wütend. Die Band Planlos singt beispielsweise 1983 von den allgewärtigen Spitzeln, die andersartigen und musikalischen Jugendliche stets im Nacken saßen:
Subkulturen wurden in der DDR gnadenlos verfolgt, als Staatsfeinde eingestuft und häufig auch inhaftiert. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem sei das Radio-Feature mit Thomas Thyssen empfohlen, in dem Henryk Gericke seine Erfahrungen schildert.
Jana, die Sängerin der Ostberliner Band „Namenlos“ zum Beispiel, kam mit 18 Jahren nach Hoheneck, dem schlimmsten Frauengefängnis in der DDR. „Da kamst du nicht hin, um deine Zeit abzusitzen. Da kamst du hin, um gebrochen zu werden“, erzählt Henryk Gericke im Gespräch mit Thomas Thyssen. Und sie war nicht die einzige.
Auch Gruftis waren damals im Visier der Staatsmacht. Wir machen uns heutzutage keine Vorstellung mehr davon, was es heißt, für seine Musik oder sein Aussehen verfolgt und belauscht zu werden. Da erscheint es fast schon ein bisschen verrückt, wenn aktuell tausende Menschen auf den Straßen skandieren, sie würden in einer Diktatur leben.
Wie die Punks von damals wohl darüber denken?
Bereits 2007 erschien der Dokumentarfilm „ostPUNK! – too much future“, in dem Punks von früher erzählen, jetzt ergänzt die Compilation die Erinnerungen durch eine musikalische Zusammenstellung. Viele der Aufnahmen sind nie erschienen und exklusiv auf der Compilation zu hören.
Diese Compilation dürfte wohl bei vielen Leuten von damals einen Sturm von Erinnerungen auslösen. Was früher höchst illegal war, gibt es heute ganz legal beim Major Label zu erwerben. Allerdings ist die erste Pressung bereits restlos vergriffen, eine zweite Pressung wird erst im Januar verfügbar sein.
too much future – Punkrock GDR 1980-1989. Die Compilation mit 3 Vinyl-Platten und dem umfangreichen Booklet ist erst wieder im Januar 2021 verfügbar, da die erste Pressung vollständig ausverkauft ist Foto: (c) Ilse Ruppert, Cover: (c) Major Label, Jena„Hohes Leistungswachstum durch steigende Arbeitsproduktivität, Effektivität und Qualit#t alles für das Wohl des Volkes und den Frieden“ Bild aus der Compilation (c) Major Label, Jena
Im sächsischen Torgau, rund 50 km von Leipzig entfernt, soll im August 2021 das „Schwärzeste Festival“ stattfinden. „Stella Nomine“ nennt Organisator Thomas Richter seine Vision von einem Gothic-Festival, das Besucher aus Deutschland und der ganzen Welt anlocken soll. In den sozialen Medien diskutiert die ausgehungerte schwarze Gemeinde diese angekündigte Vision sehnsüchtig, obwohl bisher weder Bands angekündigt noch ein Rahmen ausstaffiert wurde. Und obwohl ich objektiv berichten wollte, wirkt das auf mein Meinungszentrum, wie frühmorgendliches Sonnenlicht in Kajal-umrandeten Grufti Augen nach einer durchtanzten Nacht.
„Einfach etwas ausprobieren“
Thomas Richter organisiert seit 15 Jahren das Metal-Festival „In Flammen“ erfolgreich am gleichen Ort. Gegenüber der Torgauer Zeitung schildert er sein Beweggründe: „Schon in seiner Jugend habe ihn die Grufti- und Gothic-Szene fasziniert, nun wollte er diesem ganz speziellen Genre ein eigenes Festival in der Region bieten.“ Und obwohl er Gartenparty-Charme verströmen will, ist der Ansatz „alles anderes als Low-Budget„. Die Internetseite Tag24 nimmt sogar das geplante Festival zusammen mit dem WGT in die Schlagzeile und titelt: „Neben dem WGT: Neues Gothic-Festival bei Leipzig in Planung!“
Kommerziell findet Richter sein Festival nicht: „Ich möchte der Szene zeigen, dass es auch anders geht und mich vom Kommerz distanzieren.“
Die einzige Gemeinsamkeit mit dem WGT dürfte aber wohl die örtliche Nähe zu Leipzig sein, denn vom gewünschten „Gartenparty-Charme“ dürfte das Treffen zu Pfingsten wohl meilenweit entfernt sein.
Für mich ein weitere Derivat des Gothic-Franchise, dessen Ankündigung im November 2020 sich ein bisschen so anfühlt, wie Regen in der schwarzen Wüste, der nach fast einem Jahr völlig Festivallosigkeit die vertrockneten Grufti-Blumen wieder zum Blühen bringt.
Ja, ich wollte einfach nur über ein neues Festival berichten, aber leider ist meine Meinung heute stärker als der objektive Sachverstand. Das oben genannte Interview wirkte dabei wie ein Katalysator, denn Richter möchte keinen „großen Reibach“ machen, sondern „einfach etwa ausprobieren„. Ein paar Kontakte in die Gothic-Szene hätte er ja schon gesammelt und viele der guten Gothic-Bands kommen ja aus Deutschland, „was die Organisation etwas erleichtere„.
Gothic, das Festival Franchise
Der Name „Gothic“ ist ein lizenzfreies Franchise, an dem jeder teilnehmen kann. Es gibt (oder gab) unzählige kleine und familiäre Festivals in Deutschland, die mit den gleichen Begriffen auf sich aufmerksam machen wollen. Viele davon werden dann wirklich leidenschaftlich und voller Herzblut organisiert und wirken auf mich nicht so beiläufig wie „Stella Nomine“. Außerhalb des WGTs könnte man beispielsweise das NCN-Festival im Kulturpark Deutzen (30 km südlich von Leipzig) nennen, das im September für die Region durchaus etwas bietet. Auch für 2021 plant man bereits mit Front 242, Midge Ure und den Men Without Hats.
Sicher, in diesen Zeiten in denen Veranstalter unter Corona leiden, braucht es Zuversicht und Mut, um nach vorne zu schauen. Auch die Künstler freuen sich sicherlich wieder darauf, Live ihren Fans in die Gesichter zu blicken, während sie sich auf der Bühne verausgaben. Auf mich wirkt das „Stella Nomine“ allerdings so ein bisschen wie ein fahrender Händler, der mit seinen Wasserfässern durch die Wüste fährt und mit den Tropfen, die er auf seinem Weg verliert, die ausgehungerten Gruftis hinter sich schart.
Ich bin der Meinung wir brauchen keinen schwarzen Trittbrettfahrer, der zeigt, dass es auch „ohne Kommerz“ geht. Denn das wissen viele kleine und leidenschaftliche Festivals, die aus der Szene entstanden sind, schon seit Jahren.
Niemand weiß, was nächstes Jahr sein wird. Allerdings ist sicher, dass nach einer bedingungslosen Öffnung von Veranstaltung die Gruftis in Scharen zu Festivals strömen, um nachzuholen, was ihnen bis dahin entsagt bleibt. Ich hoffe, dass die damit belohnt werden, die durch die Krise hinweg an ihren Ideen festgehalten haben und auch möglicherweise 2021 schwarze Angebote für uns stemmen werden.
Bei Hagen und seiner Band „Thee Chemtrails“ dauert alles ein bisschen länger. Nicht nur die Fertigstellung des Albums „Under the Wire“ hat 30 Jahre gedauert, sondern auch für die Beantwortung dieser Interviewanfrage hat er sich Zeit gelassen. Das liegt aber nicht an Inspirationslosigkeit, Faulheit oder anderen künstlerischen Krisen, sondern dem genauen Gegenteil. Neben einigen Bands, einem Plattenlabel und seinem Dasein als Brauchtumsforscher und Burgretter steht er auch noch in Lohn und Brot, renoviert seine Hütte im Herzen von Oberhausen, schreibt Artikel für Spontis oder liest seiner frisch gebackenen Ehefrau Nathalie jeden Wunsch von den Lippen ab.
Es ist also überfällig, wenigstens ein Projekt der noch lebenden Grufti-Ruhrpott-Legende vorzustellen und einen Blick hinter die zahlreichen Masken zu werfen.
Oberhausener, Musiker, Grufti, Labelinhaber, Satiriker, Brauchtumsforscher und Filmemacher. Ich sehe viele Dinge, die du machst und trotzdem habe ich keine Ahnung wer Du bist – Wer ist Hagen Hoffmann?
In erster Linie jemand, der sich hinter Bands und Künstlernamen versteckt. Der dem Nachwuchs hilft, wo er kann und seine eigenen Projekte verfolgt. Teilweise sehr erfolgreich aber immer ohne den Anspruch auf „Fame“. Indie muss Indie bleiben. Leute sollen sich an dem erfreuen, was ich produziere. Mehr möchte ich eigentlich nicht. Und wer interessiert ist, kann auf jeden Fall herausfinden wer ich bin. :-)
Wie ist die Band „Thee Chemtrails“ entstanden und ist es überhaupt eine Band?
Thee Chemtrails ist mein Heiligtum und mein Tagebuch. Oliver Kalkhofe hat sich mal sehr über diese ganzen Verschwörungstheoretiker lustig gemacht. Und der Chorus war immer Chemtrails. So ist das erste Lied „Chemtrails“ entstanden. Und die Band wurde gleich genauso genannt. Die Band besteht aus Musikern, die herangezogen werden, wenn es einen Auftritt gibt. Ansonsten liegt alles in meiner Hand.
Die Idee, ein Album wie „Under The Wire“ zu machen, geisterte schon lange in deinem Kopf herum, wie du mir mal sagtest, wie kam es nach 30 Jahren dazu, deinen Traum zu verwirklichen?
Ich habe ja Anfang der 90er meine erste Platte mit einer Punkband veröffentlicht. Das war damals schon ein Riesenaufwand und hat mit Studio und Plattenpresse fast 5000 Mark gekostet. Unfassbar für den Schrott, den wir da abgeliefert haben. Heute hat die EP Kultstatus. Ich wollte nach 30 Jahren noch einmal was auf Vinyl veröffentlichen. Und da meine Plattenpresse 1000 Meter von mir entfernt liegt, war es nur eine Frage der Zeit das noch mal zu machen. Und wenn alles Digitale zerstört ist, bleibt diese Musik auf Rot-Marmoriertem Vinyl.
Und warum hat es so lange gedauert?
Weihnachten 2016 hatte ich nichts zu tun und habe mit vier Liedern im eigenen Studio angefangen. Dann sprudelte es nur so an Ideen. Alles was sich in den letzten 35 Jahren angesammelt hat. Es wurde immer mehr. Zum Schluss waren es so viele Songs, dass es noch mal einen Tonträger geben wird. Aufnehmen geht bei mir eigentlich immer sehr schnell aber das Mischen dauert ewig. Ich bin da sehr pingelig. Jedes Feedback, jeder Sound muss stimmen. So zog es sich dann bis Anfang 2018. Dann ging der bürokratische Teil los. GEMA und alles was damit zusammenhängt, die Frage, ob es eine Platte, Doppel LP, CD oder Download werden soll, Kosten, Nutzen, Covergestaltung und was noch alles so zu regeln ist, wenn man Musiker, Label und Manager in einer Person ist.
Ich spüre eine prickelnde Nähe zu „The Jesus and Mary Chain“. Wie würdest du die musikalischen Einflüsse beschreiben, die Dich zu dem unverwechselbaren Sound Deiner Platte getrieben haben?
Ja, die schottischen Brüder sind neben The Cure meine absoluten Helden. Verweigerung und Desinteresse total. Das was die Grufti Szene eigentlich ausmachen sollte. Die ganze Platte ist gespickt mit Zitaten und Hinweisen auf musikalischen Helden der 80er. Das alles dann verpackt in einem echten Subgenre namens Shoegaze. Selbst The Cure haben bei ihrem Album „Wish“ bei Jesus and Mary Chain abgeguckt. Bei ihrer Tour 1985 wurde viel Lärm im Tourbus gehört. Shoegaze ist sowieso ein Genre was irgendwie nur von eingefleischten Fans wahrgenommen wird. Eine Subkultur die selbst auf großen Festivals wie das WGT nur eine Randerscheinung ist. Ich liebe diesen Stil aus 60s und 80s, Garage und New Wave. Alte Anzüge und Strubbelhaare sind mein ein und alles. Und wesentlich günstiger als der ganze Schnallen-Ösen-Plastikscheiß aus dem Gothic Großversand.
Wieso eigentlich „Thee Chemtrails“? Glaubst du auch daran, dass die Regierung uns mit geheimnisvollen Chemikalien gefügig und linientreu machen will?
Diese Verschwörungstheorien sind total witzig dabei machen wir uns doch selber Linientreu durch das Internet. Früher gab es in jedem Ort einen Spinner, heute vernetzten die sich und die schweigende Mehrheit könnte glauben, das wäre die Übermacht. Jedes Jahr sterben tausende Leute in den Hafenstädten durch die Abgase von riesigen Schiffen und was an Kerosin bei den Flieger rauskommt ist auch nicht von schlechten Eltern. Warum sollte man da noch Chemikalien zusetzen?
Ernsthaft, worum geht es inhaltlich in Deinen Songs? Neben Deiner musikalische Nähe zu den 80ern scheinst du ja einen eher zeitgemäßen textlichen Anspruch anheimgefallen zu sein.
Es geht um Verzweiflung, Liebe, Tot, Verdrängung. Dazu kommen eben die ganzen wirren Ideen die über das Internet und andere Medien verbreitet werden. Es gibt so viel über das ich mich ständig aufrege. Aber ich versuche mich immer selbst zu beruhigen und mir einzureden, dass ein Großteil der Bevölkerung doch noch gerade denken kann.
Hagen mit seiner Band VVL bei einem Auftritt 1990
Kommen wir zur Szene, in der Du Dich offensichtlich bewegst. Im Laufe der Zeit hat sich „Gothic“ vor allem musikalisch entwickelt und wurde durch unzählige Stile beeinflusst. Musikalisch scheinst du den „alten“ Zeiten hinterherzutrauern. War früher alles besser?
Wenn ich dazu nun referieren müsste, würde das Stunden in Anspruch nehmen. Wir haben in den 80ern immer über die Althippies gelacht, die zu uns in die Discos kamen. Heute schauen uns einige neue Gothics vermutlich genauso an da sie nicht begreifen können, dass man immer so rumläuft und dass das eine Lebenseinstellung ist. Früher war eigentlich gar nix besser. Im Gegenteil, alles lief über Zettel und Mundpropaganda seine Platte musste man in schriftlicher Korrespondenz verbreiten. Sowas ist heute wesentlich einfacher.
Seit rund 30 Jahren bist du mit deinem Label „Hell Records“ und unzähligen Bands aktiv. Deine musikalische Bandbreite reicht von Oberhausener Folklore über Rock und Punk bis letztendlich zu Shoegaze, wie ich „Thee Chemtrails“ jetzt einordnen würde. Woher kommt diese musikalische Unruhe?
Als Kind der 70er/80er hat man viel Radio gehört. WDR 1 hatte zig Sendungen die sich mit allen möglichen Subgenres beschäftigten. Dadurch hatte man eine riesige Spannbreite an Musik gehört und auch gut gefunden. Da ich mit einem gewissen musikalischen Talent zur Welt gekommen bin, habe ich das alles in mir aufgesaugt. Besonders alles was anders klang als die Kassetten, die man bei Oma und Opa gehört hat. In mir war immer das Gefühl anders als andere zu sein und Musik mit ihren Künstlern konnte das zum Ausdruck bringen. Ich wollte immer Teil dieser Art von Menschen – Künstlern sein.
Wenn ich deine Einträge im sozialen Netzwerk verfolge, scheint es, als hättest du „Under the Wire“ völlig in Eigenregie auf die Beine gestellt. Eine unfassbare Leistung! Vertraust du niemandem oder will keiner mit Dir zusammenarbeiten? Wobei muss sich auch ein Hagen helfen lassen?
Ein ganz großes Problem: Ich musste lernen auch mal andere ranzulassen und nicht immer alles alleine zu machen. Ich habe eine richtige Band. Super Jungs, die genau wissen, was ich will. Aber Thee Chemtrails war so persönlich und intensiv, dass ich das nur alleine hinbekommen konnte. Da gab es keinen Platz für Improvisation anderer Bandmitglieder. Darum habe ich alles alleine eingespielt. Auf der anderen Seite liebe ich es, mit den Jungs den Bands „The Landlords“ und „VVL“ Leben einzuhauchen. Die haben eine riesen Power. So viel, dass ein berühmter Musiker aus Amerika mir „meine“ Jungs für seine Deutschlandtour abschwätzen wollte. Dazu kommen noch Leute, die sich um ganz andere Sachen kümmern. Ein guter Freund übernimmt für mich im ESPI Studio das Mastern , eine gute Freundin macht den ganzen Grafik-Part und meine Lebensgefährtin überprüft grammatisch meine Texte. Das sind alles Sachen, die ich nicht so gut kann. Und ich freue mich, dass Leute mir helfen. Genauso wichtig sind die ganzen Personen die mir konstruktive Kritik geben und mich damit am Boden halten. Vorneweg meine Lebensgefährtin und Volker von New Days Delay.
Wo soll die Reise hingehen? Kommen Deine Anhänger in den Genuss Dich live zu sehen? Mit welchen Bands hast du weitere Veröffentlichungen geplant?
Was Live Auftritte angeht, bin ich eher faul. Es wird aber weitere Auftritte geben. Veröffentlichungen gibt es demnächst von VVL, The Landlords und The Photographs of God. VVL haben zum 30jährigen Jubiläum auf dem Minicave Festival am 21. September 2019 in Münster zum ersten mal nach 27 Jahren wieder live gespielt. Dann kam Corona und damit die Pause. Als nächstes steht eine Vinyl EP Veröffentlichung von VVL in Kolumbien auf der Liste. Gerade in Südamerika haben wir erstaunlicherweise einige Fans. Aber wie gesagt, erst wenn der ganze Pandemie-Scheiß hoffentlich bald vorbei ist. In diesem Sinne: Bleibt gesund und GLÜCK AUF!
Corona hat die Unterwelt und damit auch die Protagonisten des Gruft-Orakels erreicht. Lockdown im Reich der Bösen, muss man gesehen haben! Der Knoblauchzopf hat es sich schon mal zu Hause gemütlich gemacht und ist eingeschlafen, nachdem er meditativ auf die Wohnzimmerlampe gestarrt hat. Im Hintergrund dudelt der Soundtrack von „Spiel mir das Lied vom Tod“, die Duftkerzen verströmen den angenehmen Geruch von Verwesung und die Höllenhunde, die der Knoblauchzopf eigentlich nur zur Pflege hat, schnurren friedlich vor dem Sofa. Wie gut, dass Alana Abendroths Orakel genau das vorausgesagt hat!
Allerheiligen. Das ist der Tag nach Halloween. Kennt man ja, schließlich müssen viele Menschen an diesem Tag nicht arbeiten und Friedhöfe erfreuen sich ungeahnter Beliebtheit. Das ist dieses Jahr völlig anders. Corona hat der Welt Halloween madig gemacht, keine Chance auf Süßigkeiten, die Kinder in gruseligen Kostümen eintreiben, keine feucht-fröhliche Clubnacht mit Vampiren, Werwölfen oder Hexen und auch keine Dekorations-Explosionen aus Spinnweben, Kunstblut, Kürbissen und Gummispinnen. Wofür auch? Darf ja keiner vorbeikommen um zu staunen. Armes Halloween.
Als wäre das noch nicht genug Unglück, fällt Allerheiligen dann auch noch auf einen Sonntag und kann nicht durch einen zusätzlichen arbeitsfreien Tag auf sich aufmerksam machen. Ohne freien Tag wird sich wohl niemand mit dem christlichen Feiertag beschäftigen. Armes Allerheiligen.
Wir helfen den beiden gebeutelten Feiertagen, nicht in Vergessenheit zu geraten.
Woher stammt Halloween eigentlich?
Die Iren sind schuld. Die feiern Samhain, eine keltische-heidnische Tradition, schon seit Jahrhunderten und schleppten als Einwanderer im 19. Jahrhundert diese Tradition in die Vereinigten Staaten. Dort kam Halloween so gut an, dass sich das Fest schnell ausbreitete und mittlerweile zu einem wichtigen US-amerikanischen Volksfest mutiert ist.
Nicht ganz ernst gemeint ist diese Grußkarte aus dem Jahr 1904. Die junge Frau erhofft im Spiegel ihren zukünftigen Ehemann prophezeit zu bekommen.
Der Brauch, Kürbisse zu Halloween gruselig auszuhöhlen, stammt übrigens auch aus Irland. Dort lebte eine Sage nach der Hufschmied Jack Oldfield, der durch eine List den Teufel erpresste, niemals seine Seele zu holen. Als Jack dann starb und vor den Himmelstoren um Einlass bat, wies man ihn ab, den Jack war Zeit seines Lebens ein geiziger, trunksüchtige Halunke gewesen. Also schlurfte er runter in die Hölle, um dort seine Seele eine Heimat zu geben. Doch auch hier wies man ihn ab, denn schließlich hatte der Teufel Jack geschworen, niemals seine Seele zu holen. Der Teufel schickte Jack zurück auf den windigen und dunklen Pfad zur Hölle und weil er Mitleid hatte, schenkte er ihm eine glühende Kohle aus dem Höllenfeuer, um ihn den Weg auszuleuchten. Jack steckte die Kohle in eine ausgehöhlte Rübe, die er als Proviant mitgenommen hatte, um letztendlich als verdammte Seele „Jack O’Lantern“ mit einer Laterne am Vorabend von Allerheiligen durch die Dunkelheit zu schlurfen.
Das endete in den USA damit, dass verkleidete Kinder von Haus zu Haus ziehen und Süßigkeiten erpressen wollen. „Trick or Treat“ meint: Entweder rückst du deine Süßigkeiten freiwillig heraus, oder wir spielen dir einen Streich.
Seit Anfang der 90er Jahre macht sich Halloween auch bei uns breit. Man macht dafür den Golfkrieg verantwortlich, dem 1991 die Karnevalsfeierlichkeiten zum Opfer gefallen sind. Damals war man noch sensibel genug, Leid und Krieg nicht in aufgesetzter Fröhlichkeit zu ertränken. Niemand wollte sich freuen oder feiern. Das stellte die Kanervals-Industrie vor ein großes Problem, denn die Umsätze brachen schlagartig weg. Dieter Tschorn vom Deutschen Verband der Spielwarenindustrie hatte damals angeblich die Idee, den Deutschen Halloween schmackhaft zu machen und so die Kassen zu füllen. Der Plan ging auf.
Ein Gedenktag für Heilige und solche, die es werden sollten
Kommen wir zu Allerheiligen, den wir, so eine gewagte These, auch den Kelten zu verdanken haben. Aber dazu später mehr. Die Christen gedenken an diesem Tag „aller ihrer Heiligen, auch solcher, die nicht heiliggesprochen wurden, sowie der vielen Heiligen, um deren Heiligkeit niemand weiß als Gott“
Doch das taten sie nicht immer am 1. November. Papst Gregor IV. legte 835 den Tag, der ursprünglich im Mai stattfand, für die westliche Kirche auf den 1. November. Dieser Feiertag gilt bis heute in vielen europäischen Ländern, außer bei den Niederländern. Die haben den Feiertag 1960 abgeschafft, um die von der Arbeit befreiten umliegenden Nachbarn zum Einkaufen in Holland zu animieren, behaupten jedenfalls spöttische Zungen.
Direkt mit Allerheiligen verbunden ist auch Allerseelen, der auf den 2. November fällt. Denn nachdem man den Heiligen gedacht hatte, widmete man sich dem undankbaren Rest, der im Fegefeuer schmorte.
Schon den ersten Christen ging es darum, einen Tag den Toten zu widmen – ganz so, wie man es von den Heiden oder Kelten her kannte. Da eindeutige Belege fehlen, behaupte ich unverblümt, dass sich die Christen den keltischen Feiertag zu eigen gemacht haben, um der wichtigen Tradition, den Toten zu gedenken, eben einen christlichen Rahmen zu geben. Ganz nach dem Motto: Kommt zu uns, wir beten auch für die Toten!
Allerheiligen als billige Kopie menschlicher Tradition?
Die Kelten glaubten schon lange vor den Christen, das in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November die Sommergöttin mit dem Todesgott tauscht, denn Sommer bedeutete Leben, Winter häufig den Tod. Man dachte, das an diesem Tag das Jenseits besonders nahe sei und die Seelen der Verstorbenen zum Greifen nah erschienen. So feierte man gemeinsam mit den Toten das Fest der Toten und brachte den Göttern ein Opfer, um sie für den kommenden Winter möglichst gnädig zu stimmen. Die Irischen Kelten haben den Brauch dann abgewandelt, sie zogen sich in dieser Nacht möglichst schrecklich an, damit sie die Toten und Geister die in dieser Nacht ihr Unwesen treiben, von ihnen ablassen würden, weil man sie als ihresgleichen ansah. Die Masken und Kostüme diente also der Abschreckung.
Jetzt kommen die Christen ins Spiel. Die sahen, wie wichtig den Kelten ihre Tradition war und vereinnahmte daher den Feiertag für ihre Zwecke um die Missionierung einfacher zu gestalten. „So einen Feiertag haben wir auch!“ Allerheiligen und Allerseelen sind die Ergebnisse dieser geschickten Strategie der Kirche; die Menschen müssen sich nicht umstellen und auch ein verpönter heidnischer Brauch wurde erfolgreich bekämpft.
Machen wir uns nichts vor, Glaube ist etwas sehr Individuelles und persönliches geworden und auch die christliche Kirche bietet mit Allerheiligen und Allerseelen ausreichend Gelegenheit seinen Toten zu gedenken, ganz so wie man sich selbst dabei fühlt. Es muss nicht immer Halloween sein, auch die Stille – die man hierzulande auch unter gesetzlichen Schutz stellt – hat ihren Reiz und erscheint als Zeit für Gedanken um die Ahnen auch nicht ungeeignet. Möglicherweise bietet Corona ja wieder ein wenig Raum dafür, den Toten zu gedenken, die in der Pandemie ihr Leben lassen mussten. Ob christlich, heidnisch, keltisch oder ganz ohne Gott.
Und bevor jemand fragt,
weder Halloween noch Allerheiligen haben für die Gothics eine besondere Bedeutung. In ihrem allgemeinen Interesse für alte Naturreligionen und heidnische Bräuche beschäftigt man sich gerne damit. Allerdings finden wir es cool, wenn alles so schon nach Halloween aussieht, denn das ist unserem natürlichen Lebensraum viel näher. An Halloween deckt der geneigte Grufti seinen Jahresvorrat an morbider Dekoration, die dann im Laufe des Jahres Wohnung, Umfeld oder den Träger selbst schmückt.
Liebe Feiertage. Irgendwann wird alles wieder gut. Klingelnde Kinder, Kunstblut und Spinnweben und an deinem Tag, liebes Halloween, in der Dunkeldisco mit dem Werwolf schwofen. Und auch wenn Allerheiligen wieder bedeutet, einen Tag frei zu haben, finden ihn Millionen von Menschen dich auch wieder ganz toll.
Liebes Tagebuch. Tag 225 der Pandemie. Möglichst heimlich schiebe ich den Einkaufswagen zu Kasse. Wenn mich jetzt jemand mit der letzten 16 Rollen Packung 4-lagigen Klopapiers sieht, die im Regal lag, ernte ich bestimmt argwöhnische Blicke. Eigentlich ist noch genug da von dem begehrten Gut, aber nur noch lächerlich dünnes 2-lagiges oder das merkwürdig graue 3-lagige Recyclingpapier. Vom 4-lagigen Arschschmeichler habe ich das letzte Paket. Ich komme mir fast so schmutzig vor wie der Hintern in der Fantasie der deutschen Bevölkerung, wenn der totale Lockdown dazu führt, dass niemand mehr Klopapier kaufen kann. Eigentlich sollte uns die Erfahrung doch gezeigt haben, es wird uns an nichts mangeln und deshalb fühle ich mich so, wie der, der das letzte Toffifee aus der Packung genommen hat, den letzten Rest Nutella aus dem Glas gekratzt hat oder eiskalt die letzten leckeren Weingummis aus der Colorado-Mischung gefischt hat.
Immerhin, die Maske im Gesicht verdeckt einige meiner wichtige Gesichtsmerkmale, die Mütze auf meinem Kopf erledigt den Rest und hüllt mich in einen Hauch von Anonymität. Hoffentlich treffe ich jetzt niemanden, der mich an meinem Kleidungsstil erkennt. In der Schlange vor der Kasse schiele ich in die Einkaufswagen der anderen Kunden. Flüssigseife und Toilettenpapier untermauern die gefühlte Jahresproduktion der Barilla-Nudel-Werke im malerischen Parma. Hamsterkäufe nennt man das dieser Tage und ich habe die letzte Packung 4-lagiges Toilettenpapier. Peinlich.
Was wurde aus den tapferen Germanen, die im Wald hockten und sich mit Laub, Stroh oder – dem Arschschmeichler der Frühzeit – Moos säuberten? Hatten die Römer mit ihrem Schwamm, den man in öffentlichen Latrinen an einen Stock gebunden aus einem Krug voll desinfizierende Salzlösung fischte, bereits Angst davor, dass der Krug leer war?
Was wurde aus den Urängsten meiner Jugend? Atomkrieg, Umweltzerstörung, versehentlich gelöschte Disketten und Spinnen? Untergegangen im Strudel gesellschaftlicher Entwicklungen. Disketten gibt es nicht mehr, jetzt habe ich Angst davor mein Master-Kennwort zu vergessen. Umweltzerstörung hat mit dem Stichwort Klimawandel ein Update erfahren, Atomkrieg scheint immer unwahrscheinlicher zu werden nur Spinnen find ich immer noch fies.
Dafür habe ich jetzt Angst vor Dingen, die mir noch vor ein paar Jahren nicht so wichtig waren. Vollidioten mit Waffen, Meinung oder Macht zum Beispiel.
Warum man nicht immer eine Meinung haben muss
Liebes Tagebuch, sag Hallo zu Tag 229 der Pandemie. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte meinem Beruf von zu Hause aus nachgehen. Tagtäglich muss ich mich dort mit Meinungen umgehen, die mir ungefragt um die Ohren gehauen werden, oder die ich am Rande kollegialer Zusammenkünfte so aufschnappe. Und obwohl ich meine Sozialkontakte durch Lebensmittellieferservice, Online-Versandhäusern und E-Mail minimieren konnte, begegnen mir gelegentlich auch Alltagsmenschen. An der Tankstelle, am Geldautomaten, beim Bäcker oder bei der Post.
„Bitte nur zwei Kunden im Verkaufsraum!“ Die Verkäuferin beim Bäcker brüllt durch Mundschutz, Plexiglas, die ältere Dame vor mir und über meine Schulter in Richtung der beiden Kunden, die gerade in den Laden gekommen sind. Sie klingt genervt, fast schon verzweifelt.
„Draußen regnets!“ Weinerliche Empörung bebt durch die Stimme des einen Herrn, der sich genötigt sah, dem lebensgefährlichen Regen durch eine Flucht zum Bäcker zu entkommen. „Ja, tut mir leid, bitte warten sie draußen!“ Routiniert tütet die Verkäuferin währenddessen die Mohn- und Sesambrötchen der Kundin ein, legt den Schutzhandschuh ab um die Kasse zu bedienen. Ja, sie macht das definitiv öfter.
Jetzt schlägt allerdings die Stunde der Meinungshaber. Das sind Menschen, die in einer peinlichen Situation lautstark mit ihrem Senf die Umwelt vergiften, um den Mist, den sie gebaut haben, zu vertuschen. Den Fehler einsehen, rausgehen, warten. Nein, das wäre ja eine Schwäche.
„So ein Schwachsinn! Als würde das einen Unterschied machen, ob 2 oder 4 Kunden in ihrem Laden sind!“
„Wir machen die Regeln nicht, wir müssen uns nur dran halten.“ Im gleichen Atemzug, nur halb so laut bittet sie die ältere Dame vor mir um 1,90€ für ihre Brötchentüte. Der Herr im Hintergrund trollt sich und brabbelt noch was von „Blödsinn“ und „Scheiß Laden“ zu seiner Begleitung, während sie demonstrativ ihrer Wege gehen. Ohne Brötchen. Ich wette, er sagt zu seinem Freund, dass er „hier nicht wieder hingeht“ und jetzt zum Supermarkt geht, wo die sich ja „bestimmt nicht so anstellen“. Hosentaschenrebellion.
Jeder weiß Bescheid. 6 Monate Pandemie reichen aus, um tausende Virologen auszubilden, Seuchenexperten zu schulen, Durchblicker zu formen und Entscheidungsträger zu etablieren. Der eine findet Masken Schwachsinn, weil die ja gar nichts bringen, der andere hält von den Schutzmaßnahmen rein gar nichts und fragt mich: „kennst du denn jemanden, der krank ist?“ Die anderen „müssen mal wieder raus“ und sind total gegen Alkoholverbote oder Geisterspiele beim Fußball. Und das binden sie Dir nur auf die Nase, weil du auch auf dem Weg vom Auto zur Umkleidekabine eine Maske trägst. Manche Meinungen sind wie Klopapier: Für den Arsch.
Liebes Tagebuch, die Pandemie hat mich verändert. Vom Hobby-Misanthropen bin ich zum Vollblut-Menschenverabscheuer mutiert.
Zu Hause angekommen desinfiziere ich mir die Hände, hänge meine Maske an den Nagel, schmiere mir ein Käsebrötchen und schalte in den sozialen Netzwerken wieder einige Meinungen aus. Stummschalten? Ja, bitte! Nicht mehr abonnieren? Auf jeden Fall! Ich habe heute einfach keinen Bock mehr auf Meinung. Schöne neue Welt.
Um dir ein optimales Erlebnis zu bieten, verwenden wir Technologien wie Cookies, um Geräteinformationen zu speichern und/oder darauf zuzugreifen. Wenn du diesen Technologien zustimmst, können wir Daten wie das Surfverhalten oder eindeutige IDs auf dieser Website verarbeiten. Wenn du deine Zustimmung nicht erteilst oder zurückziehst, können bestimmte Merkmale und Funktionen beeinträchtigt werden.
Funktional
Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.