Bei Hagen und seiner Band „Thee Chemtrails“ dauert alles ein bisschen länger. Nicht nur die Fertigstellung des Albums „Under the Wire“ hat 30 Jahre gedauert, sondern auch für die Beantwortung dieser Interviewanfrage hat er sich Zeit gelassen. Das liegt aber nicht an Inspirationslosigkeit, Faulheit oder anderen künstlerischen Krisen, sondern dem genauen Gegenteil. Neben einigen Bands, einem Plattenlabel und seinem Dasein als Brauchtumsforscher und Burgretter steht er auch noch in Lohn und Brot, renoviert seine Hütte im Herzen von Oberhausen, schreibt Artikel für Spontis oder liest seiner frisch gebackenen Ehefrau Nathalie jeden Wunsch von den Lippen ab.
Es ist also überfällig, wenigstens ein Projekt der noch lebenden Grufti-Ruhrpott-Legende vorzustellen und einen Blick hinter die zahlreichen Masken zu werfen.
Oberhausener, Musiker, Grufti, Labelinhaber, Satiriker, Brauchtumsforscher und Filmemacher. Ich sehe viele Dinge, die du machst und trotzdem habe ich keine Ahnung wer Du bist – Wer ist Hagen Hoffmann?
In erster Linie jemand, der sich hinter Bands und Künstlernamen versteckt. Der dem Nachwuchs hilft, wo er kann und seine eigenen Projekte verfolgt. Teilweise sehr erfolgreich aber immer ohne den Anspruch auf „Fame“. Indie muss Indie bleiben. Leute sollen sich an dem erfreuen, was ich produziere. Mehr möchte ich eigentlich nicht. Und wer interessiert ist, kann auf jeden Fall herausfinden wer ich bin. :-)
Wie ist die Band „Thee Chemtrails“ entstanden und ist es überhaupt eine Band?
Thee Chemtrails ist mein Heiligtum und mein Tagebuch. Oliver Kalkhofe hat sich mal sehr über diese ganzen Verschwörungstheoretiker lustig gemacht. Und der Chorus war immer Chemtrails. So ist das erste Lied „Chemtrails“ entstanden. Und die Band wurde gleich genauso genannt. Die Band besteht aus Musikern, die herangezogen werden, wenn es einen Auftritt gibt. Ansonsten liegt alles in meiner Hand.
Die Idee, ein Album wie „Under The Wire“ zu machen, geisterte schon lange in deinem Kopf herum, wie du mir mal sagtest, wie kam es nach 30 Jahren dazu, deinen Traum zu verwirklichen?
Ich habe ja Anfang der 90er meine erste Platte mit einer Punkband veröffentlicht. Das war damals schon ein Riesenaufwand und hat mit Studio und Plattenpresse fast 5000 Mark gekostet. Unfassbar für den Schrott, den wir da abgeliefert haben. Heute hat die EP Kultstatus. Ich wollte nach 30 Jahren noch einmal was auf Vinyl veröffentlichen. Und da meine Plattenpresse 1000 Meter von mir entfernt liegt, war es nur eine Frage der Zeit das noch mal zu machen. Und wenn alles Digitale zerstört ist, bleibt diese Musik auf Rot-Marmoriertem Vinyl.
Und warum hat es so lange gedauert?
Weihnachten 2016 hatte ich nichts zu tun und habe mit vier Liedern im eigenen Studio angefangen. Dann sprudelte es nur so an Ideen. Alles was sich in den letzten 35 Jahren angesammelt hat. Es wurde immer mehr. Zum Schluss waren es so viele Songs, dass es noch mal einen Tonträger geben wird. Aufnehmen geht bei mir eigentlich immer sehr schnell aber das Mischen dauert ewig. Ich bin da sehr pingelig. Jedes Feedback, jeder Sound muss stimmen. So zog es sich dann bis Anfang 2018. Dann ging der bürokratische Teil los. GEMA und alles was damit zusammenhängt, die Frage, ob es eine Platte, Doppel LP, CD oder Download werden soll, Kosten, Nutzen, Covergestaltung und was noch alles so zu regeln ist, wenn man Musiker, Label und Manager in einer Person ist.
Ich spüre eine prickelnde Nähe zu „The Jesus and Mary Chain“. Wie würdest du die musikalischen Einflüsse beschreiben, die Dich zu dem unverwechselbaren Sound Deiner Platte getrieben haben?
Ja, die schottischen Brüder sind neben The Cure meine absoluten Helden. Verweigerung und Desinteresse total. Das was die Grufti Szene eigentlich ausmachen sollte. Die ganze Platte ist gespickt mit Zitaten und Hinweisen auf musikalischen Helden der 80er. Das alles dann verpackt in einem echten Subgenre namens Shoegaze. Selbst The Cure haben bei ihrem Album „Wish“ bei Jesus and Mary Chain abgeguckt. Bei ihrer Tour 1985 wurde viel Lärm im Tourbus gehört. Shoegaze ist sowieso ein Genre was irgendwie nur von eingefleischten Fans wahrgenommen wird. Eine Subkultur die selbst auf großen Festivals wie das WGT nur eine Randerscheinung ist. Ich liebe diesen Stil aus 60s und 80s, Garage und New Wave. Alte Anzüge und Strubbelhaare sind mein ein und alles. Und wesentlich günstiger als der ganze Schnallen-Ösen-Plastikscheiß aus dem Gothic Großversand.
Wieso eigentlich „Thee Chemtrails“? Glaubst du auch daran, dass die Regierung uns mit geheimnisvollen Chemikalien gefügig und linientreu machen will?
Diese Verschwörungstheorien sind total witzig dabei machen wir uns doch selber Linientreu durch das Internet. Früher gab es in jedem Ort einen Spinner, heute vernetzten die sich und die schweigende Mehrheit könnte glauben, das wäre die Übermacht. Jedes Jahr sterben tausende Leute in den Hafenstädten durch die Abgase von riesigen Schiffen und was an Kerosin bei den Flieger rauskommt ist auch nicht von schlechten Eltern. Warum sollte man da noch Chemikalien zusetzen?
Ernsthaft, worum geht es inhaltlich in Deinen Songs? Neben Deiner musikalische Nähe zu den 80ern scheinst du ja einen eher zeitgemäßen textlichen Anspruch anheimgefallen zu sein.
Es geht um Verzweiflung, Liebe, Tot, Verdrängung. Dazu kommen eben die ganzen wirren Ideen die über das Internet und andere Medien verbreitet werden. Es gibt so viel über das ich mich ständig aufrege. Aber ich versuche mich immer selbst zu beruhigen und mir einzureden, dass ein Großteil der Bevölkerung doch noch gerade denken kann.
Kommen wir zur Szene, in der Du Dich offensichtlich bewegst. Im Laufe der Zeit hat sich „Gothic“ vor allem musikalisch entwickelt und wurde durch unzählige Stile beeinflusst. Musikalisch scheinst du den „alten“ Zeiten hinterherzutrauern. War früher alles besser?
Wenn ich dazu nun referieren müsste, würde das Stunden in Anspruch nehmen. Wir haben in den 80ern immer über die Althippies gelacht, die zu uns in die Discos kamen. Heute schauen uns einige neue Gothics vermutlich genauso an da sie nicht begreifen können, dass man immer so rumläuft und dass das eine Lebenseinstellung ist. Früher war eigentlich gar nix besser. Im Gegenteil, alles lief über Zettel und Mundpropaganda seine Platte musste man in schriftlicher Korrespondenz verbreiten. Sowas ist heute wesentlich einfacher.
Seit rund 30 Jahren bist du mit deinem Label „Hell Records“ und unzähligen Bands aktiv. Deine musikalische Bandbreite reicht von Oberhausener Folklore über Rock und Punk bis letztendlich zu Shoegaze, wie ich „Thee Chemtrails“ jetzt einordnen würde. Woher kommt diese musikalische Unruhe?
Als Kind der 70er/80er hat man viel Radio gehört. WDR 1 hatte zig Sendungen die sich mit allen möglichen Subgenres beschäftigten. Dadurch hatte man eine riesige Spannbreite an Musik gehört und auch gut gefunden. Da ich mit einem gewissen musikalischen Talent zur Welt gekommen bin, habe ich das alles in mir aufgesaugt. Besonders alles was anders klang als die Kassetten, die man bei Oma und Opa gehört hat. In mir war immer das Gefühl anders als andere zu sein und Musik mit ihren Künstlern konnte das zum Ausdruck bringen. Ich wollte immer Teil dieser Art von Menschen – Künstlern sein.
Wenn ich deine Einträge im sozialen Netzwerk verfolge, scheint es, als hättest du „Under the Wire“ völlig in Eigenregie auf die Beine gestellt. Eine unfassbare Leistung! Vertraust du niemandem oder will keiner mit Dir zusammenarbeiten? Wobei muss sich auch ein Hagen helfen lassen?
Ein ganz großes Problem: Ich musste lernen auch mal andere ranzulassen und nicht immer alles alleine zu machen. Ich habe eine richtige Band. Super Jungs, die genau wissen, was ich will. Aber Thee Chemtrails war so persönlich und intensiv, dass ich das nur alleine hinbekommen konnte. Da gab es keinen Platz für Improvisation anderer Bandmitglieder. Darum habe ich alles alleine eingespielt. Auf der anderen Seite liebe ich es, mit den Jungs den Bands „The Landlords“ und „VVL“ Leben einzuhauchen. Die haben eine riesen Power. So viel, dass ein berühmter Musiker aus Amerika mir „meine“ Jungs für seine Deutschlandtour abschwätzen wollte. Dazu kommen noch Leute, die sich um ganz andere Sachen kümmern. Ein guter Freund übernimmt für mich im ESPI Studio das Mastern , eine gute Freundin macht den ganzen Grafik-Part und meine Lebensgefährtin überprüft grammatisch meine Texte. Das sind alles Sachen, die ich nicht so gut kann. Und ich freue mich, dass Leute mir helfen. Genauso wichtig sind die ganzen Personen die mir konstruktive Kritik geben und mich damit am Boden halten. Vorneweg meine Lebensgefährtin und Volker von New Days Delay.
Wo soll die Reise hingehen? Kommen Deine Anhänger in den Genuss Dich live zu sehen? Mit welchen Bands hast du weitere Veröffentlichungen geplant?
Was Live Auftritte angeht, bin ich eher faul. Es wird aber weitere Auftritte geben. Veröffentlichungen gibt es demnächst von VVL, The Landlords und The Photographs of God. VVL haben zum 30jährigen Jubiläum auf dem Minicave Festival am 21. September 2019 in Münster zum ersten mal nach 27 Jahren wieder live gespielt. Dann kam Corona und damit die Pause. Als nächstes steht eine Vinyl EP Veröffentlichung von VVL in Kolumbien auf der Liste. Gerade in Südamerika haben wir erstaunlicherweise einige Fans. Aber wie gesagt, erst wenn der ganze Pandemie-Scheiß hoffentlich bald vorbei ist. In diesem Sinne: Bleibt gesund und GLÜCK AUF!
Mehr Informationen:
The Photographs of God sind göttlich – ich empfehle auch den YouTube-Kanal von Hell Records, auf dem man ganz viel tolle Musik und wundervoll gruftige Videos hören bzw. sehen kann:
https://www.youtube.com/channel/UCUrWJ1OBnNGAC5Y4nGrr0uw
Der Auftritt von VVL auf dem Minicave Festival war genial. Davon wünsche ich mir mehr. Thee Chemtrails muss ich mir mal ganz in Ruhe anhören – dazu bin ich – zugegebenermaßen und Asche über mein Haupt – noch nicht wirklich gekommen. Aber lieber Hagen: Deine Musik ist großartig und ich bin ein Fan! 🖤 🦇 😘
Ja, Hagen ist – als er damals in mein Gehör getreten ist – überraschend gut. Das hatte ich – auch Asche über mein Haupt – nie erwartet. Umso schöner ist, das er trotz 1000 anderer Projekte auch noch Zeit findet, Platten zu machen oder gar Live aufzutreten. Ich bin auch ein Fan von Hagen :D