Heute wird die nukleare Katastrophe von Tschernobyl 30 Jahre alt. Erinnert Ihr euch? Damals war ich 12 Jahre alt und hatte allenfalls Angst vor dem Spinnen im Keller, dem Lauchgemüse meiner Mutter und vor Dirk von gegenüber, der mich damals immer verprügelt hat. Was jedoch im April 1986 in der einstigen Sowjetunion geschah, sollte nicht nur die Welt, sondern auch die Jugendkulturen und natürlich mich nachhaltig beeinflussen. Mit der jugendlichen Unbeschwertheit war es irgendwie vorbei.
Als der ambitionierte Fotograf und Spontis-Leser Konrad mir Anfang des Jahres von seiner bevorstehenden Reise in die Sperrzone um den Reaktor Tschernobyl erzählte, war für mich klar, dass ich die den Eindrücken und Bildern des 26-jährigen Friedbergers eine Plattform bieten wollte. Nicht nur, um eindrucksvolle Aufnahmen und einen interessanten Artikel zu präsentieren, sondern auch, weil diese Katastrophe für mich unmittelbar mit der Szene zu tun hat. Vielleicht geht es dem ein oder anderen genauso.
Im Morgengrauen des 26. April 1986 ereignet sich im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl der sogenannte Super-GAU. Während die Bewohner der nahe gelegenen Stadt Prypjat schlafen, fliegt die gewaltige Hülle des Reaktors durch eine enorme Detonation in die Luft. Eine Stichflamme schießt 1000 Meter in den ukrainischen Nachthimmel und bietet den aufgeschreckten Einwohner ein buntes und gleichzeitig bizarres Schauspiel. Die radioaktive Wolke, die sich durch die Explosion und den brennenden Reaktorkern ausbreitet, verbreitet in den folgenden Wochen in ganz Europa Angst und Schrecken. Ich weiß noch genau, wie groß die Verwirrung war, als die Nachrichten über den nuklearen Unfall berichteten und wie sich im Wetterbericht die radioaktive Wolke durch die vorherrschenden Windverhältnisse immer weiter Richtung Deutschland ausbreitete. Noch waren es Bilder in Nachrichten. Als dann aber Spielplätze gesperrt wurden, in der Tagesschau dazu geraten wurde bei Regen das Haus nicht zu verlassen, Gemüse und Salat aus den Regalen genommen wurden und die Leute begannen die jungen Pflanzen im Schrebergarten zu vernichten, war alles irgendwie unmittelbar, unausweichlich und unkontrollierbar.
Ein paar Monate später ist für viele alles vergessen. Deutsche Kernkraftwerke seien sicher, das AKW Brokdorf geht im Oktober 1986 ans Netz. Für mich war nichts in Ordnung. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Szene und ihre Musik damals so interessant waren. Texte und Auftritte voller Botschaften, Traurigkeit, Melancholie, Angst und Hoffnungslosigkeit fühlten sich nach Antworten an, die einem sonst keiner geben konnte. Für mich sind die Erinnerungen an Tschernobyl und die Entwicklungen der folgenden Jahre essentieller Bestandteil meiner Szenezugehörigkeit. Konrads nun folgender Bericht unterstreicht diese Erinnerungen und meine heutige Einstellung für mich sehr eindrucksvoll.
Mit der Kamera durch Tschernobyl – Impressionen von Konrad
Im März machte ich eine Fotoexpedition von urbexplorer.com in die Sperrzone von Tschernobyl. Die Reaktion seitens Familie und Freunde war ziemlich durchwachsen. Von „Das ist doch gefährlich wegen der Strahlung. Bist du sicher, dass du das machen möchtest?“ bis hin zu „Krass, wird bestimmt sau cool. Bring gute Bilder mit!“ war alles dabei. Ich kann auch verstehen, dass Einige Bedenken hatten. Allerdings würde es die Tour nicht geben, wenn es zu gefährlich wäre. Also fuhr ich nach Berlin und von da aus mit den anderen Teilnehmern erst nach Kiew und dann in die Sperrzone.
In die Zone kommt man nur mit den nötigen Genehmigungen der Regierung, weshalb es sinnvoll ist, das über einen entsprechenden Reiseveranstalter zu machen. Es ist militärisches Sperrgebiet, welches in zwei Bereiche unterteilt ist. Der erste ist die 30km-Zone um den Reaktor, in welchem sich die Stadt Tschernobyl, in welcher wir übernachtet haben, und die Radarstation Duga-3 befinden. Die Stadt Prypjat liegt in der 10km-Zone, wenige Kilometer vom AKW entfernt. Jeden Tag arbeiten dort immer noch etwa 3000 Menschen am und um den Reaktor und an dem neuen Sarkophag, der später über den Block 4 geschoben werden und isolieren soll.
Wir besuchten als erstes Einsiedler, welche sich nach dem Supergau wieder niederließen. Auch, wenn das Gebiet als unbewohnbar eingestuft ist, werden sie und alle anderen Einwohner von der Regierung dort geduldet. Ihre Lebensmittel baut das Ehepaar selbst an, die Wohnräume sind klein und vollgestellt mit Kleidung, Nahrung und Erinnerungsstücken. Ich fühlte mich dort in ein anderes Jahrhundert versetzt. Ein Leben in Abgeschiedenheit, umgeben von leeren Häusern und Einöde ist für mich unvorstellbar.
Nach dem Besuch fuhren wir in die Geisterstadt Prypjat
Es ist schon seltsam, durch tote Straßen und Häuser zu gehen und sich vorzustellen, dass dort vor 30 Jahren das blühende Leben herrschte. Die Natur hat sich die Straßen und Plätze zurückgeholt, in den Gebäuden findet man das, was die Menschen einst zurückgelassen haben. Ich kam während unseres Aufenthalts aus dem Staunen kaum heraus. An jeder Ecke gab es etwas neues zu sehen. Es war faszinierend, verstörend, dystopisch und apokalyptisch. Einige Bilder waren beängstigend und für uns heute unvorstellbar. Überall, besonders in den Schulen lagen Gasmasken herum – als Vorbereitung auf den Ernstfall.
Vieles wurde wahrscheinlich erst Jahre später so drapiert, hat aber seine Wirkung nicht verfehlt. Im Gegenteil, denn so wird die Tragik noch einmal drastisch verdeutlicht. Es war eine Mischung aus natürlichem Verfall, Vandalismus (der sich leider nie ganz vermeiden lässt) und dem ebenfalls häufigen Umgestalten ehemaliger Besucher.
Wir besuchten hauptsächlich öffentliche und soziale Einrichtungen, wie Kindergärten, Schulen, das Krankenhaus, aber auch die Fabrik Jupiter mir Bürogebäude und riesigen Hallen.Wir machten einen Spaziergang durch den Stadtkern mit einigen Stopps, wie dem Kulturzentrum, Läden, einem Café und natürlich auch dem Rummelplatz mit Autoscooter, Karussell und Riesenrad. Von 2 Hochhäusern hatten wir einen eindrucksvollen Blick über die gesamte Stadt uns deren Umland.
Am Horizont konnte man das Kernkraftwerk mit dem neuen Sarkophag sehen. Der Übeltäter ruht nur wenige Momente von der ehemaligen 50.000 Einwohnerstadt, als wäre nichts gewesen, wie ein Drache in seinem Horste neben einem Dorf, welches er gerade niedergebrannt hat.
Umso beeindruckender war es, als wir zum Kraftwerk selbst gefahren sind. Wir hielten direkt am Tor zu Block 4 mit dem Denkmal, welches an den Unfall erinnern soll. Bei dem Anblick wird einem schon etwas mulmig – von hier waren es nur noch wenige Meter bis zum Reaktor. Wissend, dass der alte Sarkophag eher eine Übergangslösung ist. Die Menschen, die wir hier gesehen haben, arbeiteten ganz normal, als wäre es ein Ort, wie jeder andere. Lediglich der Straßenkehrer hatte eine Staubmaske auf. Generell wirken die Menschen in der Zone, egal, ob Militär, Arbeiter, etc., sehr entspannt. Ich denke mal, dass sie einfach an das Leben hier gewöhnt sind. Es gibt feste Regeln, die zu befolgen sind, und solange jeder ordentlich seine Arbeit verrichtet, besteht wenig Gefahr für alle.
Radarstation Duga 3
Eine der letzten Stationen war die Duga 3 Radarstation, die nach dem Unfall aufgegeben wurde. Dieses 150m hohe und 750m lange Gebilde soll wohl den Westen abgehört haben. Berichten zufolge hat die Station aber auch in der Sowjetunion in vielen Sendern ein Störsignal hinterlassen, ähnlich dem Klopfen eines Spechts. Daher hat sie auch den Spitznamen „Woodpecker“. Imposant ist sie allemal. Das Gelände ist riesig und hat auch wieder viel zu bieten, wie Schulen, Steuereinheiten, Spielplätze und vieles mehr. Wir haben davon nur einen Teil besucht.
Dokumentation oder Sensationstourismus?
Sowohl vor, als auch nach der Reise kam immer wieder die Frage nach der Strahlung. Klar gibt es dort radioaktive Strahlung und einige Bereiche dürfen deswegen auch nicht betreten werden. Allgemein gesehen ist der Wert dort aber im Bereich des Erträglichen und auf den Straßen nicht höher als in Berlin. Wir hatten genug Dosimeter dabei, die uns vor zu hoher Strahlung gewarnt haben, und unser Guide hat uns einige Hotspots gezeigt, bei denen einem schon etwas mulmig wurde – Werte um die 90 Mikrosievert/h. Beim Verlassen der Zone muss man zudem einen Scanner passieren, damit man nichts Radioaktives mit raus nimmt. Sofern man sich also an die dort herrschenden Regeln hält, ist alles in Ordnung.
Abschließend möchte ich noch sagen, dass es die wohl beeindruckendste und interessanteste Reise meines Lebens war. Durch verstrahltes Land zu gehen, die Kamera immer im Anschlag, auf der Suche nach dem richtigen Motiv ist angesichts der tragischen Geschichte etwas merkwürdig, auch für mich selbst. Es ist eine Gratwanderung zwischen geschichtlich-fotografischer Dokumentation und Sensationstourismus (womit ich auch schon konfrontiert wurde). Jeder hat seine Beweggründe für diese Tour. Meine konnte ich hier hoffentlich etwas verdeutlichen.
Oft habe ich mich gefragt, wie die Stadt in ihrer Blütezeit aussah und wie die Menschen hier lebten. Hatten sie Angst, dass es eines Tages einen Unfall im Kraftwerk geben könnte und wie sind sie damit umgegangen? Hätte man das alles verhindern können? All diese Gedanken mit den Eindrücken vor Ort haben mir oft eine Gänsehaut beschert. Den Blick zu uns gerichtet, komme ich auf ähnliche Gedanken.
Ich war letztes Jahr auf dem Maintower in Frankfurt und konnte von da aus das Kraftwerk Biblis sehen. 60 km sind eine vergleichsweise große Distanz und dennoch nicht groß genug. Ich gehe mal davon aus (und hoffe), dass unsere Kernkraftwerke recht gut gesichert sind und im Falle eines Lecks im Reaktor oder Ähnliches schnell und gut reagiert wird. Einen Ausstieg aus der Atomenergie sehe ich in den nächsten Jahren nicht. Wünschenswert wäre es auf jeden Fall. Es wird noch lange dauern, bis sich erneuerbare Energien so sehr etablieren, dass sie die alten Quellen ablösen können. Und selbst dann ist die Gefahr der Kraftwerke noch nicht vorbei. Tschernobyl ist noch heute in Betrieb und kann nicht einfach abgeschaltet werden. Auch der Atommüll ist ein weiteres Problem, für das es noch keine endgültige Lösung gibt. Ich hoffe aber, dass es diese gibt, bevor es zu spät ist. Vielleicht ist dieser Jahrestag ja ein Anreiz für neue Diskussionen auf allen Ebenen, welche auch die ein oder andere gute Idee hervor bringen und zu Taten anregen.
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