Interview mit der „Goth Slipper“ Macherin: Warum die Szene Pikes-Hausschuhe braucht

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Irgendwann, so um den Jahreswechsel, stolperte ich über ein recht eigenartiges Bild von Pikes. Als Liebhaber dieses ungewöhnlichen Schuhwerks habe ich mir das Foto näher angesehen, denn sie sahen nicht ganz so aus, wie die Modelle, die bereits meinen Schuhschrank bevölkerten. Waren die etwa vollständig aus Fleece gefertigt? 

Tatsächlich. Bei näherer Betrachtung entpuppten sich die schwarze Fleece-Pikes als  waschechte Pikes Hausschuhe! Das kleine Label aus Berlin, das sich „young-BAT“ nennt und diese ungewöhnlichen „Goth Slippers“ anfertigt, musste sich ein paar unverschämte Interviewfragen von mir gefallen lassen. Ich wollte wissen, wer hinter der jungen Fledermaus steckt und wie man auf die Idee kommt, das ultimative Schuhwerk für echte Gruftis auch als Hausschuh zu fertigen.

Kathrin, der Kopf hinter dem Label, ist 30 Jahre alt, lebt in Berlin und ist ausgebildete Maßschneiderin und damit rein fachlich prädestiniert, um aus schwarzem Fleece Hausschuhe zu fertigen. Seit 2007 betreibt sie ihr Label „young-BAT“, das die Deathrocker, Batcaver und Postpunker mit all den Dingen versorgen soll, die sie zum DIY-Aufwerten der eigenen Kleidung benötigen. Neben Aufnähern, Ansteckern und Buttons bietet sie mittlerweile auch fertige Kleidungsstücke und Accessoires an.

Kathrin, du wirkst auf den Bildern bei Facebook nicht wie jemand, der die Szene nur als Phase oder Jugendsünde behandelt. Wie bist du in die Szene gekommen und wann hat das mit der Näherei angefangen?

Kathrin mit 14 Jahren.

In der Szene bin ich seit etwa 16 Jahren. Als im Alter von 13 Jahren immer mehr Menschen aufgrund meiner düsteren und rockigen Kleidung auf mich zukamen und mich als Grufti bezeichneten, fing ich an mich zu informieren was das denn überhaupt sein soll. Gar nicht so leicht in Zeiten ohne Facebook und ich informierte mich dann mit Hilfe von vielen Büchern und CDs aus allen umliegenden Büchereien.

Da es mir damals noch nicht möglich war, Festivals oder Partys zu besuchen und meine Eltern hart gegen meinen neuen Lebensstil vorgingen, bin ich zwar schnell extrem, aber auch recht autonom in die Szene gewachsen, was im Nachhinein hilfreich war um meinen eigenen Stil zu entwickeln. Seit etwa 10 Jahren lasse ich mich in die Schublade der Batcaver, Deathrocker oder Gothpunks stecken.

Bereits zu Beginn fing ich an sehr viel selbst zu nähen, erst von Hand, dann mit der Nähmaschine meiner Mutter. Welche 13jährigen haben schon das Geld sich in Gothic-Läden einzukleiden?

young-BAT auf dem Dark Market
Kathrin auf dem jüngsten Dark Market

Das mit der Näherei ist dann schnell ausgeartet. Ich lernte mit Hilfe eines Nähforums (natronundsoda – sagt vielleicht manchen noch was) Schnitte zu erstellen, habe bei vielen Swaps mitgemacht und angefangen selbst Anleitungen zu schreiben.

Nachdem immer mehr Freunde und Bekannte aus der Szene anfragten ihnen auch Sachen zu fertigen, blieb nur die Entscheidung das Ganze etwas professioneller aufzuziehen. So kam es 2007 das erste Mal zu einem kleinen Stand auf dem Apocalyptic Factory Festival mit Batcave-Blazern, Aufnähern und anderen Kleinigkeiten.

Es kam so gut an, dass es sich schnell etabliert hat. 2010 war ich das erste Mal mit einem Stand auf dem Gothic-Pogo Festival (Leipzig), seit 2012 kann man auch über meinen Shop fündig werden.

Die Szene braucht alles Mögliche. Schwarze Hosen, schwarze Leggings, schwarze Oberteile, jede Menge Buttons, Haarfärbemittel, Unmengen an Haarspray und natürlich spitze Schuhe. Warum jetzt noch Pikes-Hausschuhe?

Heutzutage kann sich NATÜRLICH keiner mehr ernsthaft „Grufti“ nennen, der nicht eine beeindruckende Pikes Sammlung zu Hause hat. Original 80er Pikes, eigens angefertigte und entworfene Pikes (von einem der 2 großen Pikeshersteller), verschiedene Materialien, Farben, Designs und nun eben auch Pikes Hausschuhe.

Wer auf Pikes steht, wird sich zu Hause – egal ob alleine oder mit Freunden – einfach wohler fühlen auch dort die Lieblingsschuhe tragen zu können.

Außer dem wohligwarmen Gefühl an den Füßen, bekommt man ein wohligwarmes Gefühl etwas besonderes zu besitzen. 

Ich gehe stark davon aus, das du Pikes gut findest und versuche gerade nachzuvollziehen, wie man auf die Idee kommt, warme und vor allem bequeme Pikes herzustellen. Bis du mal mit Pikes auf dem Sofa eingeschlafen und hast Dir dann gedacht: „Gar nicht so schlecht!“? Wie bist du auf die Idee gekommen, solche Hausschuhe zu machen?

So wie die meisten meiner Sachen basiert die Idee auf der Lösung eines „Alltagsproblems“. Ich war mit meinem Freund auf der Suche nach spitzen Schuhen. Dabei mussten wir feststellen, dass ihm die meisten Pikes aufgrund seines muskulösen Körperbaus einfach nicht stehen.

Da ich bereits etwas Erfahrung mit dem Umbau von Stiefeln zu pikeartigen Modellen und mit der Herstellung von Hausschuhen hatte, entwickelte sich die Idee der Pike Hausschuhe um auch ihm ein Pärchen zu ermöglichen. Eines kalten Herbstabends entstand der erste gestreifter Fleeceprototyp in meiner Schuhgröße. Kurz danach ein zweiter voll ausgearbeiteter Prototyp in seiner Größe. Aus diesem entwickelte sich dann das fertige Modell, das ich nun anbiete.

Du verkaufst in deinem DaWanda-Shop neben Unmengen an tollen Accessoires, auch Klamotten, Wärmflaschen, Katzenspielzeug und Gardinen. Wie kam es dazu, einen Grufti-Tante-Emma-Laden aufzumachen?

Grufti-Tante-Emma Laden klingt etwas ramschig. Das ist es aber nicht. Alles ist auf hohem Niveau selbstgefertigt. Ich habe einfach keine Lust die Kommerzschiene zu fahren. Natürlich könnte ich mich auf weniger Produkte beschränken und damit sicherlich auch meine Gewinnmarge erhöhen, das hieße aber auch, dass ich viel höhere Stückzahlen anfertigen müsste und irgendwann wie üblich in Fernost anfertigen lassen müsste.
Wie anfangs erwähnt, entwickelte sich alles aufgrund vieler Anfragen von Freunden und Bekannten. Es ging darum auch Freunden, die nicht nähen können, eigene Unikate zu ermöglichen. Die Szene lebt ja durch ihre Individualität (bzw. sollte es) und genau das möchte ich so leben und unterstützen.

Viele Ideen entstehen in meinem Alltag. Oft sind es Dinge, die ich für mich fertige und dann das Interesse von Freunden wecken, wie die Gardinen oder die Wärmflaschen.Mit Kleidung ist es ähnlich. Manches habe ich mir zuerst angefertigt, Freunde wollten das Stück dann auch so oder so ähnlich.

Ich bekomme auch immer wieder Sachen von Freunden, die aufgemotzt werden müssen, daraus entstehen oft neue Ideen und manchmal auch Techniken mit denen ich dann weiterarbeite und manches entwickelt sich einfach aus einem Bedürfnis, wie warme Accessoires für den Winter nach meinem ersten Return to the Batcave Festival in Polen, auf dem wir alle ganz schön gefroren haben.

Deine Goth Slipper kosten rund 55€ und in Zeiten, in denen wir Hausschuhe, die von tibetanischen Kindermönchen mundgeklöppelt wurden, für 5€ bei sogenannten Textil-Discountern kaufen können, musst Du Dir die Frage gefallen lassen, warum Deine Hausschuhe teurer sind.

Naja, wir sprechen von handfertigten kleinen Stückzahlen aus eigener Werkstatt in Berlin. In diesen 55 € stecken:

  • Materialkosten. Wer sich mal informiert was stabile 2 Reißverschlüsse, ein Meter guter Fleece, Klettband, Bügeleinlage und ABS Farbe kosten, wird ganz schön Augen machen
  • diverse Abgaben, Steuern, Gebühren;  von Sozialabgaben, die bei Angestellten der Arbeitgeber übernimmt, über Kosten für die Bereitstellung der Produkte im Online-Shop inkl. Kosten für Bezahlsysteme bis hin zu einem Rechtsanwalt, der in Deutschland aufgrund der sich monatlich ändernden Online-Gesetze und geldgeilen Abmahnanwälten nötig ist
  • Zeit für Entwicklung des Prototyps, Fotos, Einstellen der Sachen in den Online-Shop
  • Instandhaltung und Anschaffung von Maschinen inkl. Strom, Wasser usw.
  • der Rest nennt sich dann Lohn einer ausgebildeten Maßschneiderin, der sich in Deutschland mit dem eines Frisörs vergleichen lässt. Ein Lohn für den viele noch nicht mal aufstehen würden.

Ich betreibe mein Label schon immer neben einem regulären Job, um die Preise nicht doppelt so hoch kalkulieren zu müssen wie nötig. Außerdem möchte ich auch meine Ideale einhalten, wie beispielsweise keine Massenware anzubieten, keine Asiawaren „weiterverkaufen“ zu müssen, wie andere kleine Labels, und weder Kinderarbeit noch Umweltverschmutzung in Fernost zu unterstützen.Man kann sich ja mal aufgrund des eigenen Stundenlohns ausrechnen wie lange man dafür arbeiten müsste und dann entscheiden ob einem meine Arbeit soviel Wert ist oder nicht. ;)

Was planst du für 2018 und wo kann man deine handgefertigten Goth Slipper einer genaueren Betrachtung unterziehen?

Die Daten von Märkten und Festivals auf denen ich bin, finden sich auf den ersten Blick auf meiner Seite www.young-BAT.de In Berlin findet man mich regelmäßig auf verschiedenen Märkten.

In den letzten Jahren haben sich 2 Festivals etabliert, das Gothic-Pogo-Festival und das Return to the Batcave Festival. Dort bin ich wie in den letzten Jahren wieder mit großem Stand vertreten.

Erstmalig bietet sich mir dieses Frühjahr die Möglichkeit mit einer neueren erfolgreichen Deathrock Band auf Europa-Tour zu gehen. Dort werde ich eine kleine Auswahl meiner Sachen anbieten können. Details werden sobald bekannt natürlich auf meinen Seiten (Shop, Facebook, Instagram) veröffentlicht. Manchmal bringe ich auch spontan Sachen mit auf Partys, vor allem wenn ich weiter reise, wie zur Punks Undead. Seit Jahren würde ich gerne nach Augsburg zum Young & Cold Festival. Bisher war es logistisch ein Problem, dieses Jahr bin ich zuversichtlicher.

Ein Tipp: Da ich aufgrund meiner breiten Produktpalette nicht immer alles mitnehmen kann, ist es immer sinnvoll mich vorher anzuschreiben, wenn man etwas Bestimmtes live begutachten will. ;)

Goth to Gorgeous – Von der Individuellen zur Angepassten

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Nicole Guilbault aus Jersey City beschreibt sich selbst als „Victorian-Goth“ und obwohl Gothic für sie bedeutet, sich so zu kleiden wie sie sich im Inneren fühlt, hat sie sich für ihren Patenbruder und eine bevorstehende Familienfeier von Transformed in etwas Gorgeous „Wunderschönes“ verwandeln lassen. Eine schrecklich nette Familie?

Wir kennen diese Art von Verwandlungsshows. Da wird stets ein möglichst abweichend aussehendes menschliches Wesen dazu genötigt, sich für irgendwas oder irgendwen in etwas möglichst angepasstes verwandeln zu lassen. In die Archetypen ihrer Spezies. in die gute aussehende Girlie-Wunder-Braut die stets hübsch bleibend die Familie hütet oder den maskulinen und stets adretten Mann in Standard-Uniform und neuerdings mit Bart. Vielleicht stelle ich mich an, aber für mich heißt das immer: Von der Individualität zur Angepasstheit. „From Goth to Gorgeous“ kann dann auch nur bedeuten: Von hässlich zu hübsch.

Nicole macht das auch nicht ohne triftigen Grund. Patenbruder Ben wünscht sich schon lange von ihr, etwas weiblicher, süßer oder unschuldiger auszusehen:

I’m surprising my godbrother Ben and his boyfriend, today. He gives me so much support with everything I do, but he’s expressed this many times that he wanted to see me girlier or sweeter or more innocent.

Ben scheint also blind zu sein. Denn nichts auf dieser Welt erscheint mir weiblicher als ein viktorianischer Gothic. Corsagen, Röcke oder Kleider, Schuhe mit Absätzen und eindeutig feminines Makeup sind dann doch eindeutig weibliche Attribute, oder? Als wäre das nicht schon genug, soll es auch noch süßer und unschuldiger sein. Ich wiederhole mich nochmals: Als Nicole vor die Kamera tritt, trägt sie eine hochgeschlossene Bluse, einen weiten Rock und zeigt sehr wenig Haut oder sonstige Dinge, die man gemeinhin als das Gegenteil von „unschuldig“ definieren könnte. Ist es vielleicht das „unnahbare“, das „arrogante“ und das „fremdartige“ in Nicoles Outfit, das Männer und offensichtlich auch Familie und Gesellschaft abstößt?

Anyway. Um Ben also zu überraschen, lässt sich als kurz vor eine Familienfeier verwandeln. Die beiden Gestalten in schwarzen Klamotten (?) sind vom „Glamsquad“ und sollen Nicole verwandeln. Die reden doch tatsächlich in Anwesenheit der wirklich gut aussehenden Nicole von einer totalen Verwandlung in etwas „hübscheres“, „schöneres“ und „weiblicheres“. Wahrscheinlich leiden die dort alle und einer Wahrnehmungsstörung.

Stichwort Ben. Wenn wir schon bei Äußerlichkeiten sind und überhaupt keinen Wert auf das „Innere“ legen, wie wäre es mal mit einer Transformation in einen „hübschen“, dem gesellschaftsbild entsprechenden Mann?

Vielleicht übertreibe ich ja, und alles ist nicht so schlimm wie es aussieht, doch ich finde es 2018 immer noch ein wenig befremdlich. Wieso predigt man in einer so jungen und hippen Internet-Facebook-Sendung ein Frauenbild aus der Steinzeit? Abgesehen davon sieht Nicole in ihrem neuen Outfit ziemlich bescheiden aus.

Was lernen wir daraus? Verlogenheit sind die Werte unserer Gesellschaft. Es zählt nicht, dass du dich wie ein viktorianischer Goth fühlst, sondern es zählt, das du aussiehst, wie man es von Dir erwartet. Wie es vorteilhaft für dich wäre, wie du möglichst vielen gefällst und wie du einfach zu einem besseren Menschen wirst. In 8 Minuten.

Und die Familie? Ich hoffe, sie haben sich nicht gefreut, ihre Tochter, Enkelin oder Cousine so wieder zu sehen. So langweilig. So eintönig und so furchtbar fremd. Und ich bin mir sicher, dass von den 13 Millionen Zuschauern dieses Videos nicht alle meiner Meinung sind.

https://www.facebook.com/transformedtheshow/videos/200862873817561/

Ab Freitag im Kino: Anne Clark – I’ll Walk Out Into Tomorrow

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Anne Clark ist eine Institution in Sachen Weltschmerz. Eine rappende Poetin der New Wave Bewegung. Keine Playlist der schwarzen Szene ohne einen von ihren größten Erfolgen. Und tatsächlich auch Live ist Anne Clark eine interessante Erfahrung, wenn man sich dann von den üblichen Ritualen, wie zum Beispiel frenetisches Mitklatschen oder aufgeregtem Tanzen, verabschiedet. Anne Clark steht einfach nur da und trägt ihre Lieder vor. Untermalt von eingehenden und mitunter faszinierenden Synthie-Teppichen, vermag sie es den Weltschmerz, der ihr in so ziemlich jeder Beschreibung nachgesagt wird, zu transportieren.

Jetzt kommt das längst überfällige Lebenswerk der bald 58-jährigen Britin auf die Kinoleinwand. „I’ll Walk Out Into Tomorrow“ heißt Film, der ab dem 25. Januar in deutschen Kinos gezeigt wird.

Was den Zuschauer erwartet? Keine Ahnung. Die Künstlerin, die frei von Skandalen, Klatsch und spektakulären Exzessen in Norfolk, im Osten Englands, lebt, ist schüchtern und wirkt verschlossen, obwohl sie sich in ihren Texten so zu öffnen scheint. Und obwohl sie sich äußerlich nicht für eine Szene vereinnahmen lässt, ist sie der New Wave Bewegung dankbar, denn ohne die, hätte ihre Musik wohl in den frühen 80ern nicht so viel Aufmerksamkeit erregt. Vor allem in Deutschland feiert Anne Clark immer wieder Erfolge und hat eine aktive und generationenübergreifende Fangemeinde um sich geschart.

Nun, vielleicht bekommen wir einen Einblick in diesen viel beschriebenen Weltschmerz, der von den Unzulänglichkeiten der Menschen handelt, den Schattenseiten des alltäglichen Lebens auf dieser Welt und der menschlichen Abscheu, eben diese Gedanken zuzulassen.

Bereits am 19. Januar (also am Freitag) gibt es in Neumünster, Dresden, Dortmund, Magdeburg, Ludwigshafen, Leipzig, Weimar, Düsseldorf, Karlsruhe, Kassel, Potsdam, Erlangen, Berlin, Ingolstadt, Bremen, Lübeck, Hürth, Erfurt, Bochum, Rostock, Mainz, Saarbrücken, Bielefeld, Oberhausen, Wiesbaden, Chemnitz, Bonn, Hamburg, Frankfurt, Aachen, Jena und vielen anderen Städten eine Vorführung. Einfach mal bei Facebook nachgucken.

 

Bilder des Todes – Faszination Post-Mortem Fotografie

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Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen. Ich meine, jetzt in echt und wirklich und so.  Zugegebenermaßen habe ich bisher in den Momenten, in denen es die Möglichkeit gab, sich von einem Verstorbenen am offenen Sarg zu verabschieden, immer dankend abgelehnt. Auch weil ich weiß, wie Tote nach Krankheiten aussehen können. Und trotzdem faszinieren mich bildliche Darstellungen von Toten. Eben weil man mit diesem kaum konfrontiert wird. Gestorben wird heute vornehmlich in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, offene Särge während Trauerfeiern sind gänzlich unüblich und Rituale wie beispielsweise Totenwachen gehören in deutschen Gefilden auch nicht mehr zu den etablierten Bestattungsritualen. Von Bildern der Verstorbenen, die nach deren Tod aufgenommen wurden, also Post Mortem, ganz zu schweigen.

Post-Mortem oder Totenfotografie bezeichnet das Fotografieren von Verstorbenen und die dadurch entstehenden Aufnahmen. Schon in der Renaissance, also noch vor der Erfindung der Fotografie, wurden Adelige oder hohe Geistliche auf ihrem Totenbett gemalt. In Europa spielten die fotografischen Aufnahmen als Teil des Totenkultes im späten 19. Jahrhundert – als noch meist zu Hause gestorben wurde und der Tod als ganz normaler Teil des Lebens galt – eine bedeutende Rolle. Die Aufnahmen ermöglichten es die Verstorbenen in Erinnerung zu behalten. Besonders Kinder, welche im viktorianischen Zeitalter (1860-1910) nicht selten früh verstarben, wurden nach ihrem Tod fotografiert. Die Darstellungen der Toten in den Aufnahmen, lassen sich in drei Typologien aufteilen: „der letzte Schlaf“ – die Toten wurden schlafend, seltener auch in Särgen dargestellt; „lebend aber tot“ – die Toten wurden möglichst lebendig dargestellt, Kindern oftmals mit Spielzeug und „mit Angehörigen“ – die Verstorbenen waren im Kreis von Familie zu sehen. In der Regel trugen die Verstorbenen ihre besten Kleider. Metallene Ständer gelten oft als Mitte um die Toten aufrecht zu erhalten, einige kritische Stimmen gehen allerdings davon aus, dass diese Vorrichtungen eher die Lebenden darin unterstützen sollten still zu stehen.

Die Post-Mortem Fotografien waren oft eine der wenigen, wenn nicht die einzigen Aufnahmen, die eine Person zeigten, denn Fotos waren zu dieser Zeit noch recht unüblich und gehörten nicht zum alltäglichen Leben. Die neue Technik ermöglichte es zudem die Bilder zu vervielfältigen und waren oft das Letzte was von den Verstorbenen blieb. Zwischen 1940 und 1960 verschwand die Post-Mortem Fotografie fast vollständig aus dem nordeuropäischen und nordamerikanischen Raum. Nur in den USA sind Bilder mit totgeborenen Babies auch heute nicht unüblich.

Mittlerweile gibt es auch in Deutschland wieder einen Fotografen, der Tote für deren Angehörige fotografiert. Dr. Martin Kreuels begann nach dem frühen Tod seiner Frau sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und ist mittlerweile seit vier Jahren als Totenfotograf tätig. Die Bilder, so erzählt er in einem Interview, können helfen den Tod wahrzunehmen und zu akzeptieren. Immer gibt es eine Perspektive oder ein Detail, dass sich bildlich besonders gut einfangen lässt.

Für gewöhnlich begegnet man dem Tod als dem großen Rätsel, dem opaken Nichts und der abgründigen Leerstelle des Lebens, die nicht aus sich selbst heraus zu erfahren ist, allein im Spiegel der Kultur.

Die Bilder, so finde ich, machen auf abstrakte Art den Tod zugleich greifbar, wie ungreifbar. Sie zeigen das Mittelbarste was bleibt vom Leben: den Körper. Das Äußere eines Menschen, das ein Teil von ihm ist und gleichzeitig die leere Hülle in der der Mensch nicht mehr ist. Ähnlich wie Friedhöfe, Kreuze oder Grabmale erinnern sie an die Vergänglichkeit des Lebens und inspirieren zur weiteren Auseinandersetzung.

Am Ende sind sie wie das Leben: eine Momentaufnahme in der Zeit.

Totenfotografie
Félix Nadar (1820-1910) | Nadar creator QS:P170,Q40116, Félix Nadar 1820-1910 portraits Victor Hugo sur son lit de mort, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Totenfotografie
Bismarck auf dem Totenbett | Willy Wilcke und Max Christian Priester, Bismarck auf dem Totenbette, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Totenfotografie
Totes Kind im Bett | Ole Tobias Olsen creator QS:P170,Q1772896, 1286. Bertholts Datters Lig – NB bldsa OTO0458 A (cropped), als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Edvard Grieg - Totenfotografie
Edvard Grieg (1843-1907) | Nasjonalbiblioteket, Edvard Grieg (1843-1907) på lit de parade, september 1907, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Totenfotografie
Totes Kind | Museo Soumaya, 5628 Retrato póstumo de la niña María Ovdulia Chabez Perez, Ausschnitt, CC BY-SA 4.0
Totenfotografie
Henrik Ibsens | Anders Beer Wilse creator QS:P170,Q144339, 5015. Henrik Ibsens Lig død 23-5-06 25-5 1906 – no-nb digifoto 20160721 00107 bldsa ib2a3027, Ausschnitt, CC0 1.0

2018: Frohes neues Jahr!

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Spontis wünscht allen Lesern, Autoren und Neugierigen ein tolles Jahr 2018! Egal wie, wo und mit wem ihr den Jahreswechsel begangen habt, hoffe ich, dass ihr die schlechten Erfahrungen loslassen konnte und Euch mit einem lächelnden Auge an die düsteren und schönen Momente des vergangenen Jahres erinnert habt. Und obwohl der Jahreswechsel ja im Grunde nur mit der Einführung des Kalenders gekommen ist, bleibt das – neben den nostalgischen Momenten – ein schöner Anlass, nach vorne zu schauen. Auch für Spontis wird es aufregend: Neben einer Reinkarnation, die in der kommenden Nacht stattfindet, gibt es wieder ein Spontis-Treffen in Leipzig und darüber hinaus feiert Spontis im August 2018 seinen 10-jährigen Geburtstag!

 

Schwarze Weihnachten: Wie feiert die Szene?

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Schwarze Weihnachten. Gibt es das eigentlich? Schwimmen die Gruftis im Strom aus glitzernden Lichtern, Weihnachtsbäumen, Geschenken und dem obligatorischen Kirchenbesuch? Oder sind wir, als Kinder des Punk, eher einer Rebellion erlegen, verweigern alles was mit der gesellschaftlich auferlegten Stimmung zu tun hat und nutzen die Tage um den Sarg frisch zu streichen?

Unzählige schwarze Partys locken die Gruftis dieser Tage in die Tanztempel und suggerieren, dass wir mit Weihnachten und dem ganzen Trubel nichts zu tun haben. Obwohl eben so viele „bunte“ Partys stattfinden und damit eher suggerieren, dass die Menschen an Weihnachten eher danach streben irgendwo feiern zu gehen, statt zu Hause unterm Weihnachtsbaum die Geschenke auszupacken. Die Kirche ist schon seit Jahren auf die harten Bänke in der zweiten Reihe des Weihnachtsfestes verwiesen worden und Weihnachtsmärkten, Lichterketten und Weihnachtsbäumen gewichen. Das wichtigsten Fest des Jahres folgt keiner Blaupause aus christlichen Traditionen, sondern scheint individueller geworden zu sein. Wie individuell genau, das wollte ich von einigen Menschen aus der Szene wissen und habe gefragt, was ihnen Weihnachten bedeutet und wie sie das Fest verbringen.

Lena & Patrik

Weihnachten hat für uns keinerlei Bedeutung, da wir beide überzeugte Atheisten sind und obwohl Weihnachten im Ursprung ja kein christliches Fest ist, hat es sich in christlichen Ländern dahingehend gewandelt. Ich denke, dass man daher hier durchaus von einem rein christlichen Fest sprechen kann. Für uns ist es ehrlich gesagt teilweise sogar etwas befremdlich, wie manche Szeneangehörige scheinbar einen Persönlichkeitswandel zu dieser Zeit durchlaufen – was aber auch nicht Szeneangehörige an den Tag legen. Auf uns wirkt vieles aufgesetzt.
Weihnachten - Jelena und Patrik

Wie feiern wir das Fest?

Traditionell gingen wir bisher immer auf eine ziemlich beschissen Party, die immer am 24. stattfand. Also neben den familiären (Pflicht-) Besuchen, die alle in der Zeit haben. Da meine Familie nie wirklich gefeiert hat, ist es eigentlich nur Lenas Mutter, die wir bespaßen müssen. Leider findet die Party dieses Jahr erstmals nicht statt und so werden wir wahrscheinlich gemütlich netflixen.

Simone & Ralf

Weihnachten bedeutet für uns nichts. Schlicht und ergreifend ausgedrückt, hat Weihnachten mit Gott, Jesus und dem ganzen Kirchenkram zu tun, dem wir nichts abgewinnen können. Wir sind ja nicht umsonst vor unendlichen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Daher brauchen wir auch nichts feiern. Ich verteile auch keine Weihnachtswünsche. Ganz oder gar nicht. Für uns ist Weihnachten das Konsum- und Heuchelfest. Der ganze Weihnachtstrubel ist uns zuwider. Es fängt damit an, dass schon im September erste, auf Weihnachten getrimmte Leckereien in den Supermärkten zum Kauf animieren sollen und kurz vor dem Fest drehen dann alle durch, als würde es am nächsten Tag nichts mehr zu kaufen geben. Als Höhepunkt wirft man völlig maßlos Geschenke in die Runde, macht ein paar Stunden auf liebevolle Familie, um sich dann später wieder die Augen auszukratzen und rumzuheulen, wie stressig das doch alles war. Und das jedes Jahr. Mit dem Zusatz…. „es war wieder viel zu viel…. nächstes Jahr schenken wir uns nichts“. Jaja! Ne, danke, ohne uns. Wir feiern also nicht.

Weihnachten - Simone und Ralf - STW-6153
Ralf und Simone
Bild: (c) Stefan Wasmund, STW Fotos

Wie feiern wir das Fest?

Falls der Rabe überhaupt frei bekommt – was er gerade mal drei Tage vorher erfährt – fragen wir unsere Mütter, was sie so geplant haben an den freien Tagen. Haben sie nichts vor, gehen wir vielleicht zusammen irgendwo etwas essen und quatschen ein wenig. Einfach nur so, weil man sonst im Jahr so wenig Zeit füreinander findet. Wir halten uns diese Tage also einfach nur frei. Es hat lange gedauert, bis die Mütter kapiert haben, dass wir a) nicht feiern möchten, b) nichts schenken und c), das schwierigste für die Mütter, nichts geschenkt bekommen möchten! Nach einigen Jahren knallhartem Durchsetzen klappt das jetzt endlich. Romantische Kerzen haben wir oft genug an, eine Lichterkette hängt das ganze Jahr über im Treppenhaus und im Wohnzimmer – und im Wald wohnen wir auch noch. Reicht an Atmosphäre. Das ganze Jahr über. Weihnachten kann so entspannend sein, wenn man es einfach ignoriert und sich den ganzen Rummel einfach aus der Ferne ansieht. Wir können gönnen. Und wenn ich jemandem etwas schenken möchte, mache ich das, wenn ICH finde, dass es die richtige Zeit dafür ist und nicht weil irgendwer das so festgelegt hat.

Janina & Nikita

Mein Mann hat als gebürtiger Russe keinen so starken Bezug zu Weihnachten. Für ihn ist Silvester wichtiger. Ich verbinde mit Weihnachten viele schöne Kindheitserinnerungen. An geschmückte, leuchtende Bäume, Mamas Vanilleparfait, Plätzchen und Kerzenschein. Und ganz viel daran, anderen eine Freude zu machen. Beispielsweise bin ich mal an Heiligabend extra morgens um 4 Uhr aufgestanden, um Süßigkeiten in den Baum zu hängen, damit sich mein kleiner Bruder am Morgen freuen würde. Überhaupt war Weihnachten für mich immer ein wirklich entspanntes Fest mit der Familie. Dass auch in der Kirche die Geburt Jesu eher symbolisch an genau diesem Tag gefeiert wird, war mir (dank ehrlicher Erklärungen ohne christliche Indoktrination) schon als Kind bewusst und ist mir heute auch nicht sonderlich wichtig. Ich kann trotzdem feiern. Ob wegen einem Märchen, einer wahren Begebenheit oder weil der kürzeste Tag des Jahres überstanden ist, ist mir dabei egal. Weihnachten gehört einfach in den Dezember, wie Eiscreme und Pommes vom Freibad-Kiosk in die Sommerferien gehören.

Weihnachten - Janina und Nikita
Ein Aufnahme aus dem letzten Jahr, in diesem Jahr haben die drei (bald vier) noch keine Zeit gefunden, ein neues Bild zu schießen.

Wie feiern wir das Fest?

Dieses Jahr ist unser erstes Weihnachten in Deutschland. In Shanghai haben wir Weihnachten nur richtig gefeiert, als unser Sohn geboren war. Vorher ging mir der dortige Konsumwahn im Dezember mehr auf den Geist wie alles andere. Wirklich, das ist da nochmal eine ganz andere Hausnummer als hier.

Was wir jedes Jahr machen, ist an Weihnachten „The nightmare before Christmas“ zu sehen. Außerdem Glühwein selbst zubereiten. Und die Gitarren in der Wohnung bekommen alle Weihnachtsmützen auf. Jetzt haben wir auch einen richtigen, großen Baum. Dieses Jahr kommt meine Familie zu uns, da ich hochschwanger bin und nicht mehr so weit weg fahren kann. Immerhin wohnen wir noch immer über 400km auseinander. Wir werden gemeinsam Bescherung feiern (mit einem nicht zu großen Geschenk für jeden), dann wahrscheinlich ein paar Gesellschaftsspiele spielen und gut essen. Allerdings weder Gans noch Karpfen oder so. Das mag bei uns niemand so recht. Stattdessen gibt es Brot und Fisch. Und an den Feiertagen je einmal Raclette und einmal Chinesisch. Auf jeden Fall möchten wir wieder gerne mit der ganzen Familie feiern. Denn am wichtigsten ist mir, meinen Kindern ebenfalls diese schönen Erinnerungen an ein glückliches Fest zur dunkelsten Zeit des Jahres zu geben.

Larissa & Johannes

Weihnachten hatte für uns beide, als wir noch bei unseren jeweiligen Eltern wohnten, eine ähnliche Bedeutung. Johannes wuchs mit drei Geschwistern in einer relativ großen Familie auf, sodass Weihnachten immer gleichzeitig auch ein großes Familienfest war. Der Gang zur Kirche gehörte ebenso dazu wie ein gemeinsames Essen sowie die anschließende Bescherung. Ich war (und bin) das einzige Kind aus zwei Familien, Weihnachten bedeutete für mich in erster Linie viele Geschenke, dafür ließ man auch den eher langweiligen Gottesdienst, den meine Familie ebenfalls nur an den Feiertagen besuchte, über sich ergehen. Schon als Kinder waren wir der christlichen Religion nicht verbunden, sodass das Fest keinerlei tiefere Bedeutung für uns hatte. Heute sieht es kaum anders aus. Religiös sind wir beide nach wie vor nicht und gehen auch dem ganzen Drumherum so gut es geht aus dem Weg. Eine Bedeutung hat das Fest für uns nicht.

Larissa und Johannes
Larissa und Johannes
Schmuck: Ars Notoria

Wie feiern wir das Fest?

Für gewöhnlich tun wir unseren Familien den Gefallen und besuchen sie über die Feiertage. Dieses Jahr haben wir uns allerdings freiwillig für den Dienst an den Feiertagen gemeldet, da wir beide in Bereichen arbeiten die auch an Weihnachten durchgehend besetzt werden müssen. Johannes kann so für die Menschen, die er betreut, die Feiertage so angenehm wie möglich gestalten. Mir selbst ist die Arbeit, so ganz ohne andere Menschen, im Tierheim auch weitaus lieber als ein Treffen von zumeist viel zu unterschiedlichen Familienangehörigen. Jedoch bemühen sich die viele Spender*innen sehr um ein weihnachtliches Flair – sei es ein Adventskalender für das Hundehaus oder eben neues Putzartikel mit festlicher Schleife. Zeit für Menschen die einem lieb sind haben wir auch außerhalb von religiösen Feiertagen.

Jenny & Reinhard

Was bedeutet Weihnachten für Reinhard? Weihnachten bedeutet für mich erinnern, erinnern an die gute Zeit mit der Familie. Weihnachten war immer eins der schönsten Feste, man hat Teile der Familie gesehen, die man sonst selten sieht. Geschenke und viel Essen. Diese guten Erinnerungen versuche ich in die heutige Zeit zu übertragen. Das hat alles nichts mit Glauben oder dem Grund Jesus Geburt zu feiern, sondern einfach Familie zu genießen. Und auch Freundschaften zu stärken mit unaufgeforderten Überraschungen .

Was bedeutet Weihnachten für Jenny? Weihnachten bedeutet für mich vor allem Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Ich feiere aber weder eine christliche Weihnacht, noch den alljährlichen Konsumrausch (soweit ich es sich vermeiden kann). Sobald Ende Oktober die ersten Geschenke in den Schaufenstern liegen, bekomme ich normalerweise das Gruseln. Es geht also vor allem darum, dass die mittlerweile verstreute Verwandtschaft sich zu einem schönen Anlass zusammenfindet.

Weihnachten - Reinhard und Jenny (4)

Wie feiern wir das Fest ?

Reinhard: Für einen Grufti sehr klassisch. Viel Deko mit Lichterketten selbstgebastelten Fensterschmuck, echtem Weihnachtsbaum und klassischem Essen. Aber ohne Kirchenbesuch. Eher der Besuch der Familie steht im Vordergrund und das Beschenken, wobei mir das Beschenken wichtiger ist als das beschenkt werden. Von der Dekoration muss ich zugeben bin ich auch der extremste in meiner Straße. Meine Fenster leuchten stark in der Dunkelheit. Heilig Abend ist dann sehr traditionell, nachdem am 23. Der Baum geschmückt wurde, gibt es Kartoffelsalat, einen Weihnachtsfilm (meist „Schöne Bescherung“) und danach die eigene Bescherung. Danach geht’s für mich als Leipziger Grufti in die Moritz Bastei zum Schwarzen Leipzig Tanzt um mit denen, die auch noch in Leipzig sind, anzustoßen. Witzig ist, dass jeder eigentlich nur „kurz“ da sein will weil er morgens früh raus muss, um zu einem anderen Teil der Familie zu fahren.

Jenny: Die ‚Traditionen‘, die sich auch bei mir finden, sind zum einen die Weihnachtsmarktbesuche, an denen ich erstaunlich viel Freude habe. Zum anderen findet sich bei mir auch ein wenig weihnachtliche Dekoration, die aber hauptsächlich von Reinhard oder meinen Eltern stammt. Ich selbst würde allein für mich wahrscheinlich nur wenig dekorieren oder weihnachtliche Veranstaltungen besuchen.

Gemeinsam finden sich übrigens Beiden am 1. Weihnachtsfeiertag zur Sondervorstellung von Dr. Who Weihnachtsspecial „Twice Upon A Time“ im Kino ein.

Stephie & Teddy

Was bedeutet Weihnachten für uns? Autobahn. Nein, im Ernst. Aber seit wir vor 10 Jahren nach Leipzig gezogen sind, ist Weihnachten ein Grund für einen großen Familienbesuch mit 500km Fahrt hin und 500km wieder zurück. Und weil mittlerweile diverse Teile der Familie nicht mehr wie früher in einem Ort wohnen, sondern in ganz NRW verteilt, sind auch die Tage nach der Ankunft von der Autobahn geprägt. Das wir den Stress auf uns nehmen, zeigt uns selbst immer wieder, wie wichtig uns unsere Familien sind. Und damit lässt sich Weihachten auch ganz kurz beschrieben: Familienfest. Nix religiöses, auch nicht wirklich besinnlich (wie auch, bei 4 Städten in 4 Tagen). Aber trotzdem schön. Das liegt aber an der Familie, nicht am Fest. Ansonsten ist es schön, dass zur Weihnachtszeit überall und alles mit Lichtern geschmückt wird. Uns regt es jedes Jahr ziemlich auf, dass nach Weihnachten alles wieder dunkel ist. Dunkle Jahreszeit ist genug Grund für hübsche Lichter, oder? Da braucht man doch kein Weihnachten für.

Weihnachten - Stephie und Teddy

Wie feiern wir das Fest?

Im Kreise der Familie. Es wird gegessen, getrunken, geredet. Aber eigentlich spielt Weihnachten nicht wirklich eine Rolle, es ist halt nur der Rahmen. Und zumindest bei unseren Familien auch die Deko. Wir gehen nicht zum Gottesdienst, es wird nicht gesungen etc. Ok, Geschenke austauschen gehört dann doch dazu, vor allem mit unseren Nichten. Aber vor allem einfach Beisammensein. Und dann wieder Autobahn.

Alex & Thomas

Auch den DJ Alexx Botox habe ich zu Weihnachten befragt, der jedoch mündlich und nicht schriftlich geantwortet, daher hier eine Zusammenfassung

Alex ist im evangelischen Norden aufgewachsen und zählt sich zum ironischen Landadel irgendwo zwischen Bremen und Hannover. Seit 1987 in der Szene fühlt er sich eher zu Christian Death als zu Lacrimosa hingezogen, liebt den Stil der 80er und 90er Szene und hat nicht nur durch seinen Austritt aus der Kirche mit Weihnachten abgeschlossen, auch wenn er das Fest immer als schöne und harmonische Zeit für sich und seine Familien in Erinnerung behalten hat. Auch Thomas, so erzählt Alex, ist kein Weihnachtsgrufti, obwohl der in Kempten (Allgäu) aufgewachsen ist und dort mit alle christlichen Insignien bedacht wurde, die eine katholische Erziehung mit sich bringt. Alex ist spirituellen und esoterischen Erfahrungen nicht abgeneigt „Ich mach gerne irgendwelche Workshops mit, in denen es um Seelenheil oder irgendwas Esoterisches geht, meinetwegen auch Joga oder Meditation, aber die christliche Religion ist dann schon so ein bisschen zusammengesucht“, dementsprechend ist Weihnachten für ihn Arbeitszeit und nicht unbedingt eine festliche Zeit.

Weihnachten - Alex und Thomas

Wie feiert ihr das Fest?

Alex und Thomas feiern getrennt, denn während sich Thomas bei seiner Familien in Bayern aufhält, ist Weihnachten für den DJ Alexx die Hauptgeschäftszeit. Unzählige schwarze Partys während der Feiertage wollen schließlich adäquat beschallt werden. Alex war es wichtig, dass Thomas die Zeit nutzt um bei seiner Familie zu sein, denn in seiner Familien fehlen einfach viele Menschen, mit denen man ein gemeinsames Fest feiern könnte. Er hat dann mit seinem Bruder, der ihn in der Vorweihnachtszeit besucht hat, ein wenig gefeiert. Alex am Mischpult und sein Bruder auf der Tanzfläche in der Zeche in Bochum.  Mit privater weihnachtlicher Dekorationen können sich weder Alex noch Thomas anfreunden und auch wenn sie die Feiertage gemeinsam verbringen sollten, sind das dann doch eher normale Tage für die Beiden, auch wenn sie durchaus auch Geschenke verteilen: „Wir machen diese gesellschaftlichen Verpflichtungen mit Geschenke verteilen so ein bisschen mit, da wir in dieser Gesellschaft leben. Wir geben was, wir bekommen was – das ist eben so. Man kann sich nicht wie in den 80ern nach Punk-Motte „No Future“ aus allem herausziehen. Das machen wir ein bisschen mit, aber ganz dezent für uns eben.“

Die düstere Adventsgeschichte – Kein Sommermärchen für Mirjam (4/4)

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Vierte Kerze, vierter Teil der Adventsgeschichte. Es ist Heiligabend. Heute ist alles zu spät, denn wenn irgendetwas fehlt, schaut man in die Röhre und verbringt ein möglicherweise minimalistisches Fest ohne Thymian auf dem Festgericht, ohne Senf zu den Würstchen, fehlender Spitze auf dem Baum oder auch ohne ein Geschenk für Oma Luise. Auch Mirjam ist ein Minimalist. Außerhalb der üblichen Empfangsbereiche gibt sie sich nur gelegentlich der Informationsflut preis, telefoniert spärlich, schaut nicht fern und schätzt am Internet, dass man mit wenigen Menschen wirklich reden muss. Sie beobachtet lieber den Sonnenaufgang auf ihrer Terrasse oder durch das Fenster ihres Wohnmobils. Wenn Mirjam dann doch mal auf andere Menschen trifft, wie sie häufig mit Siouxsie Sioux verwechselt, denn auch während ihrer Szene-Abstinenz hat sie sich diese „Fledermausflügelabdruck-über-den-Augen-Deko im Gesicht“ erhalten.

Ich bin froh, dass Mirjam wieder „zurückgekehrt“ ist und diese absonderliche, erstaunlich bizarre und vielschichtige Geschichte gespendet hat, die uns weniger zum diskutieren, als zum lesen und nachdenken anregen könnte. Wer weiß, vielleicht ist das eine schaurig schöne Abwechslung für die, die keine Lust auf die x-te Wiederholung des weihnachtlichen Fernsehprogramms verspüren.

Kein Sommermärchen für Mirjam (Teil 4)

Der Hof wirkte eng zwischen den hohen Mauern, die aus Quadern des Felses gefügt waren, auf dem die Burg stand. Streng, schmucklos und massiv strebten sie ringsum auf und färbten das einfallende Licht mit ihrem Grau.

Wer hier hereinkam, musste ebenso sein, oder er wurde erdrückt.

Lautlos schwangen die Torflügel hinter mir zu und verschlossen mein Reich vor der Außenwelt. Tief atmete ich ein, zog Härte und Dauerhaftigkeit des Steins zu mir und spürte Befriedigung, wieder daheim zu sein. Einem Reich nach meinem Maß, das allein mir gehorchte und diente, denn dazu war es erschaffen. Ich überquerte den Hof und trat durch das Portal in die Halle, die dunkel vor mir lag. Das einzige Licht hier ging von einer Öllampe aus, die in der Feuerschale auf der Säule vor der Tür zum Versammlungsraum stand. Diese Tür, zweiflüglig, mit einer Schlupftür in ihrer Mitte, nahm den Großteil der hinteren Hallenwand unterhalb des Treppenbalkons ein.

In der Halle

 

Ich nahm die Treppe zur rechten und legte, oben angekommen, eine Hand auf die Klinke der ersten Tür, derjenigen, die in mein Gemach führte. Hier hatte alles seine Richtigkeit.

Ich ging weiter und öffnete die mittlere der drei Türen, die es hier oben gab und trat hinaus auf den Dachhof, wohin sie den Durchgang freigab. So beklemmend eng und düster der untere Hof war, so himmelweit frei lag diese Fläche unter den Sternen. Teils in den Gipfel geschlagen, teils auf dem Mauerwerk des Gebäudes befindlich, war sie rückwärtig durch den Abgrund geschützt, zu dem der Fels dort abfiel und ihre Vorderseite grenzte an die Burg.

Mein Adlerhorst.

Ich legte den Kopf in den Nacken und sog die Nachtweite des Himmels ein. Ja, hier war gut sein.

Gemächlich begab ich mich zurück auf die Empore, wo ich mich nach rechts, der dritten Tür zuwandte. Auch hier legte ich meine Hand prüfend auf die Klinke. Was ich spürte erregte mich, und ich schob den Riegel zurück, der den Raum hinter dieser Tür zum Gefängnis derer machte, die nicht freiwillig geblieben wären.

Im Türrahmen blieb ich stehen und genoss ihr Entsetzen.

Ja, nun war ich zurückgekehrt. Schließlich hatte ich es versprochen und Versprechen soll man halten.

Die Dauer meiner Abwesenheit und damit ihrer Haft, hatte sie mürbe gemacht. So lange hatte sie Gelegenheit gehabt zu bangen dass ich wiederkäme, dass bereits die Hoffnung, dass dies nie mehr der Fall sein würde, Zeit gehabt hatte in ihr zu keimen.

Genau richtig. Ich beglückwünschte mich und trat vollends ein. Sie wich zurück, als erwartete sie einen Angriff. Süß krampfte sich mein Unterleib zusammen. Ja, sie war reif.

Ich lachte auf. „Wo denkst du hin, meine Schöne? Hältst du mich für einen Flegel, der gleich über dich herfällt?“ Natürlich würde ich über sie herfallen, aber ein Flegel war ich nicht. Ich war Genießer.

Sie war offensichtlich und gemäß meinen Anordnungen gut versorgt worden, sodass sie nicht vom Fleische gefallen war. Weiber, deren Knochen ich beim Akt klappern hören konnte, hatten mich noch nie gereizt.

Dennoch war ihr die Gefangenschaft anzusehen. Die sonnige Unbekümmertheit, die sie mir so appetitlich gemacht hatte, war gebrochen und damit auch die lebensfrohe Selbstverständlichkeit, mit der sie vordem ihren Körper gepflegt hatte.

Nun, für mich würde sie es tun und sich dabei der alten Zeiten erinnern. Und ihres Verlustes. Ich verließ den Raum, um meine Vorbereitungen zu treffen. Bevor ich die Tür schloss, lächelte ich ihr zu: „Du weißt doch, dass du mir gehörst – warum solltest du Angst vor mir haben?“

Nichts ist so gewiss, wie der Tod – warum sollten wir ihn fürchten?

Wer ihn verstand, konnte ihn nutzen, ihn sich zum Helfer machen und dies gedachte ich zu tun.

Ich stieg die Treppe hinab und strebte im Erdgeschoss des rechten Flügels der Küche zu, wo ich den Küchenjungen, einen blassen, dürren Novizen von vielleicht sechzehn Jahren anwies, heißes Wasser und einen Waschzuber zu richten und vor der Tür mit dem Riegel abzustellen.

Diesen Jungen hatte ich aufgelesen, wie einen herrenlosen Hund und ebenso hatte er gelebt. Auf einer meiner Reisen war er mir aufgefallen, wie er in der Herberge, in der ich des längeren Unterkunft genommen hatte, allerlei Dienste versah. Er arbeitete für den Wirt, doch gehörte er nicht zu dessen Gesinde. Trotzdem ließen sie ihn im Stall schlafen. Auch von den Gästen nahm er Aufträge an, die er, wie es schien, stets gewissenhaft versah, denn nie wurde ich Zeuge von Unzufriedenheit oder lauten Szenen, wenn er mit seinen Auftraggebern sprach. Mir gefielen an ihm das unstete Wesen, das er so gut verbarg und der wache, kalte Heißhunger seiner Augen. Es würde schwer für ihn werden, sich unterzuordnen, an seinem Talent jedoch zweifelte ich nicht.

Ich bot ihm an, in meinen alleinigen Dienst zu treten und so kam es, dass er mit mir ging, als ich weiterreiste.

Ich hatte vor ihn zu unterrichten, doch ihn mit den anderen Schülern laufen zu lassen, hätte nicht zu ihm gepasst. Die Anfänge wären ihm so leicht gefallen, dass er einige Ältere schnell überflügelt hätte und danach wären ihm Erfolg und Fähigkeit zu Kopf gestiegen, die Wanderlust hätte ihn gepackt und mich vor die Wahl gestellt, ihn zu zwingen, oder zu töten. Beides hätte weder ihn, noch mich weitergebracht. So hatte ich schon während der Reise entschieden, ihn in der Küche und den dortigen Aufgaben unterzubringen und ihn mir im Übrigen zu Handdiensten heranzuziehen.

Wenn er erst herausgefunden hatte, was es auf der Burg zu holen gab, würde er die Wege finden, es zu stehlen. Ich hatte vor, dafür zu sorgen, dass es diese gab und wie beiläufig er die Menschen seiner Umgebung um all das erleichterte, was ihm nützlich oder genehm dünkte, hatte ich unterwegs oft genug Gelegenheit gehabt zu beobachten.

Dies lag jetzt ein gutes Jahr zurück und während dieser Zeit hatte er nichts anderes von der Welt zu sehen bekommen, als Küche Hof und Wirtschaftstrakt. Ich musterte ihn.

Aufrecht stand er da und ließ es über sich ergehen. Die Flut von Hass und Ungeduld, die diese Zeit unter dem Joch der Eintönigkeit in ihm aufgestaut hatte, hielt er hinter glattem Gleichmut im Zaum. „Nachher werde ich mich von deinen Fortschritten überzeugen. Ich gebe dir Bescheid“, nickte ich ihm zu und verließ die Küche.

Dem Verwalter hatte ich aufgetragen, ihn im Lesen, Schreiben und Rechnen zu unterweisen und ich war mir sicher, dass der Junge die Zeit meiner Abwesenheit gut genutzt und viel gelernt hatte. Schon um seinen hungrigen Verstand davon abzuhalten, ihn aufzufressen.

In meinem Gemach trat ich vor den Bücherschrank und zog nach kurzem Abwägen einen schmalen Band in heller Leinenbindung heraus.

Das Lehrbuch

Diese Sammlung nützlicher Rezepturen war von einem meiner Schüler zusammengestellt, geschrieben und gebunden worden und würde ihm als Lehrbuch dienen können. Ich blätterte hindurch – ja, die Zubereitungen waren größtenteils in der Küche und mit dortigem Gerät durchzuführen, die Zutaten würde er im Laufe des kommenden Jahres in den Vorratsräumen finden und einige der Anwendungen – ich schlug das Büchlein weiter hinten auf – ja, das war gewiss, die würden ihn interessieren.

Auf seinen Ehrgeiz konnte ich so sicher bauen, wie auf den Wandertrieb, dessen Folgen er mir gegenüber eben so heldenhaft unterdrückt hatte. Wenn der Körper weiter eingesperrt blieb, würde er gar keine andere Wahl haben, als zu experimentieren. Ich klappte das Buch zu und legte es auf meinen Schreibtisch.

Leises Poltern auf dem Treppengang verriet mir, dass die georderten Dinge an ihren  Platz vor der besagten Tür gefunden hatten, und ich wandte mich diesem Thema zu.

Umhang und Gürtel hängte ich an ihre Haken neben der Tür und dann setzte ich mich, um die Stiefel aufzuschnüren. Die würde ich schließlich nicht brauchen. Barfüßig ging ich hinüber zu ihr und trat ein.

Sie hatte sich im Vergleich zu vorhin ein wenig gefasst und wartete, sichtlich um Haltung bemüht ab, was ich vorhätte. Zunächst stellte ich unter ihrem erstaunten Blick die Badeutensilien in die Mitte des Raumes, um dann die Tür zu schließen. Der aufmerksame Bengel hatte sogar einen Korb mit Lappen, Seife und einem Bund Lavendelzweige dazugestellt. Er schien sich seine Gedanken gemacht zu haben.

Ich würde mich revanchieren.

Ich begann Lavendel abzustreifen und zu zerreiben, ließ die Krümel in den Zuber fallen und beobachtete, wie sie mir ungläubig dabei zusah. „So bin ich zu dir, Mädchen“, ließ ich mich vernehmen und goss das heiße Wasser ein. „Und nun, da ich dir das Bad bereitet habe, wirst du dich waschen.“ Verschreckt blickte sie von der Wanne zu mir herüber, der ich mich nach Abschluss dieser Vorbereitungen in ihren Lehnstuhl gesetzt hatte und keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass ich gedachte, ihr dabei zuzusehen.

Der Lavendel duftete und der Kampf von Scham und Angst in ihr war köstlich. „Nur zu!“, forderte ich sie auf „lange bleibt das Wasser nicht warm.“ Stockenden Schrittes ging sie zum Bett hinüber und begann sich zu entkleiden.

Dann wurden ihre Bewegungen mechanisch. Ich spürte den Gehorsam der Angst in ihr einrasten und wie sie sich dahinter verbarg.

Zorn wallte in mir auf. Natürlich wollte ich ihren Gehorsam, aber noch viel wichtiger waren mir ihre Empfindungen. Da sie offenbar fähig war, sich von ihnen zu trennen, war sie für mich so gut wie wertlos.

Nichtsdestotrotz  würde sie heute für meine Befriedigung sorgen. So oder so. Während sie sich wusch, zunächst unbeholfen, doch als ich mich nicht regte und nichts kommentierte mit zunehmend sicherer werdenden Bewegungen, kämpfte ich meinen Zorn darüber nieder, dass mein Plan, mich den Winter über von ihr zu nähren, nicht aufgehen würde. Das Strohfeuer heute. Zu mehr war sie nicht gut.

Wer seine Befriedigung daraus zieht, eine Frau auf der körperlichen Ebene zu drangsalieren, ist mit einem solchen Exemplar bestens bedient – sie können unglaublich viel ab, bevor sie eingehen – aber ich?

Ich versuchte, mich auf den Anblick zu konzentrieren, den sie bot und ihm irgendetwas abzugewinnen. Vom Körperlichen her war sie eine gute Wahl. Ebenmäßig gebaut, jung und ein wenig zur Fülle neigend, wie ich es gern hatte und nichts in ihrer kurzen, wohlbehüteten Lebensgeschichte hatte darauf hingewiesen, dass sie es nötig gehabt haben könnte, diese unsägliche Fähigkeit zu entwickeln, der sie sich gerade bediente.

Eine weitere heiße Welle raubte mir die klare Sicht. Als sie verebbt war, hatte ich wieder Ruhe, ihr zuzusehen. Ich würde einfach das nehmen, was sie zu bieten hatte und mich im Übrigen nach Ersatz umschauen müssen.

Ärgerlich, aber nicht zu ändern.

„Mädchen!“ Sie hob den Kopf. „Lass gut sein und leg‘ dich aufs Bett.“ Sie nickte gehorsam, ließ den Lappen in den Zuber fallen und legte sich hin. Ich stand auf, trat zu ihr und beugte mich über sie, um ihr in die Augen zu sehen. Glasig und etwas blöde wie er war, erstaunte es mich nicht, keines Gefühls in ihr habhaft werden zu können.

Ich strich ihr mit der Rechten über den Scheitel, ergriff mit der anderen ihr Kinn und als meine Finger in den Haaren ihres Hinterkopfes Halt gefunden hatten, brach ich ihr mit einem Ruck das Genick.

Ich richtete mich auf und atmete in tiefen Zügen das Leben ein, das ihr entwich.

Ich begab mich zur Küche hinunter, wo ich den Jungen wissen ließ, dass ich ihn nun erwartete und dass er einen Imbiss mit Hinaufbringen solle.

Kurz darauf klopfte es und er trat ein. Ein Tablett mit Brot, kaltem Fleisch, Wein und getrockneten Früchten war das erste, was er brachte, und im zweiten Gang trug er seine Schulsachen herein, mit denen er bei der Tür stehenblieb. Ich saß am Schreibtisch, auf dem er auch das Essen abgestellt hatte, und nun forderte ich ihn auf, die Türe zu schließen und auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen.

Auf dem Schreibtisch

 

„Nun?“ ich streckte die Hand nach seiner Mappe aus. „Was hast du vorzuweisen?“ Er händigte mir das Ergebnis seiner Übungen aus und ich legte die Mappe auf dem Tisch ab. „Zunächst will ich essen und da du lesen gelernt hast, wirst du mir dabei zur Unterhaltung vorlesen“, bestimmte ich. „Welches Buch du dazu wählst, soll mir gleich sein – sieh dich um, die Auswahl ist groß genug.“

Er zögerte nicht, bevor er mit: „Jawohl, Herr“ antwortete, aufstand und dann begann, die Regale nach einem ihm geeignet erscheinenden Buch abzusuchen. Er ging systematisch vor, verschaffte sich zunächst einen Überblick über die Ordnung und kam alsbald mit einem Band aus der Rubrik: Reiseberichte aus fernen Ländern, wieder.

Eine kluge Wahl, war es doch immerhin möglich, dass ich ihm im Anschluss an die Lektüre, Fragen zum Verständnis stellte. Er wies es vor, ich billigte seine Entscheidung mit einer Geste des Einverständnisses, die mein voller Mund eher zuließ, als eine Antwort und wies auf den Stuhl, dass er sich wieder setzen solle. Ich schob ihm kauend die Lampe weiter hin und er schlug in ihrem Lichte das Buch auf.

Sein Vortrag war noch langsam, aber gleichmäßig, was darauf schließen ließ, dass er keine Fehler machen wollte und sich und seine Fähigkeiten einzuschätzen wusste. Ich kaute in Ruhe, hörte mit einem Ohr zu und verspürte erstmalig seit meiner Ankunft Entspannung.

Der Junge hier war gut. Ich säuberte meine Finger vom Essen und nahm seine Unterlagen zur Hand.

Er hatte Schreibübungen mitgebracht und zwar nicht nur die neuesten, sondern einen Querschnitt durch das vergangene Jahr, wie er sich von einzelnen Buchstaben über die Wiederholung kurzer Sätze zur Abschrift ganzer Buchseiten vorgearbeitet hatte.

Ich nickte anerkennend und griff nach dem nächsten Packen. Hier hatte er exemplarische Rechnungen aufgeführt, die alle Grundrechenarten umfassten und eine sauber gestaltete Tabelle der Multiplikation beinhaltete.

Ich sah zu ihm hinüber. Für ein einziges Jahr ein beachtliches Ergebnis.

Zu unterst in der Mappe lag noch ein dünner Stapel Blätter, den ich nun durchzusehen begann. Hier hatte er gezeichnet. Dinge aus seinem Umfeld, der Küche. Sparsam und ausdrucksstark mit einem guten Gespür für wichtig und unwichtig und in korrekten Proportionen. Ich stand auf, um zwei Gläser für den Wein aus dem Bord zu nehmen und hieß ihn, mit dem Lesen aufzuhören, als ich mich wieder setzte und uns einschenkte.

„Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis deiner Studien“, ließ ich ihn wissen und schob ihm eines der Gläser hinüber. „Lass uns darauf anstoßen und dein zweites Lehrjahr einläuten.“ Ich prostete ihm zu und wartete ab, bis auch er einen Schluck genommen hatte, bevor ich fortfuhr. „In diesem Jahr wirst du die Kenntnisse und Fertigkeiten, die du im ersten Jahr erworben hast, miteinander verbinden.“

Ich griff nach dem hellen Leinenband, den ich für ihn ausgewählt hatte. „In diesem Buch findest du Rezepturen, die du zubereiten wirst. Gerätschaft und Gelegenheit dazu bietet dir die Küche, und am Ende des Jahres erwarte ich von jeder Zubereitung eine passable Probe und“ – hier sah ich ihn scharf an – „dass du fürderhin ohne dies Buch auskommst.“

Seine Augen weiteten sich kurz im Verstehen, doch er nickte gehorsam. „Jawohl, Herr.“

Ich leerte mein Glas mit einem langen Zug, sah wie sinnierend hinein und sagte: „Nebenan wirst du das Mädchen finden. Sauber, warm und fügsam. Geh zu ihr. Ich überlasse sie dir bis zur Morgendämmerung.“ Ich schob die Blätter zurück in seine Mappe, stand auf und reichte sie ihm. Er griff zu, stand ebenfalls auf und antwortete: „Jawohl, Herr.“

Im ersten Morgenlicht schulterte ich ihren Körper, überquerte mit dieser Last den Dachhof und warf ihn an der dafür vorgesehenen Stelle über die Kante.

Er hatte ihn hinterher ordentlich hingelegt gehabt, die Augen zugedrückt und ein Tuch als Decke darübergebreitet.

Als er mein Frühstück servierte, hatte der Glanz seiner Augen eine neue Facette und wir waren uns ein Stück näher gekommen. Ich würde ihn wohl mitnehmen, wenn ich aufbrach, um nach Ersatz für sie zu suchen.

Das Arbeitszimmer in dem ich saß, verschwamm vor meinen Augen, als Sif mir seine Rechte entwand um mir über den Rücken zu streichen. Einmal schluchzte ich unter dieser begütigenden Berührung auf, um dann ruhig dazuliegen.

Sie alle, die ich gesehen hatte hatten mein tiefes Mitgefühl. Jeder Einzelne, der gefangen in seiner Eigenart, verflochten mit seinen Mitmenschen, dies Theater des Grauens aufführte, das wir als Leben kennen, und die Gewissheit sie alle selbst zu sein, erfüllte mich mit einem unendlich traurigen Frieden.

Sofi Lichtkreuz
Bild: Sofi – Lichtkreuz
Musik: Pharaoh – Old egyptian dance

 

Caros Gedanken: Wir leben in einer „ICH!“ Gesellschaft!

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Pünktlich zur längsten Nacht hat sich Tanzfledermaus Caro ein paar dunkle Gedanken über die Kälte in unserer Gesellschaft gemacht.  Dreht sich alles in unserem Leben nur noch um uns selbst? Wieviel Egoismus brauchen wir zum Selbsterhalt und auf was können wir verzichten?

Wenn das ICH zum Egozentriker mutiert – Der Winter hat Einzug gehalten, Weihnachten steht vor der Tür, die Menschen rücken (scheinbar) näher zusammen. Oder etwa doch nicht? Okay, rund um Weihnachten ist oftmals alles stressig und hektisch, da kann es zwischenmenschlich schon mal etwas ellenbogenlastiger zugehen.

Doch das Phänomen beobachte ich schon länger, unabhängig von saisonalen Ereignissen. Die Menschen in meinem Umfeld, mit denen ich bisher darüber gesprochen habe, bestätigten meine Beobachtung, daher gehe ich davon aus, dass mich mein Eindruck nicht trügt. Es macht nachdenklich und traurig, oft auch wütend und hilflos, je nach Ausmaß der persönlichen Betroffenheit. Das Zusammenleben wird immer kälter und aggressiver.

Die düstere Adventsgeschichte: Kein Sommermärchen für Mirjam (3/4)

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Unsere Adventsgeschichte leuchtet mit der dritten Kerze. Zeit, wieder etwas über die Autorin zu erfahren. Mirjam ist ein Womo-Grufti, eine Spezies, die ich im vergangenen Jahr besser kennengelernt habe. Das sind Gruftis mit Wohnmobilen, die von Festival zu Festival pilgern und stets ihren Rückzugsraum und ihre Unterkunft dabei haben. Mal bewusst angeschafft, mal von den Eltern geerbt und manchmal todesmutig gemietet. Eine durchaus interessante Alternative zu nassen Zelten, überfüllten Hostels oder überteuerten Hotels. Ich finde das spannend, für Mirjam ist das ein zentraler Bestandteil ihres Szenelebens. Das sie heute mit dem Wohnmobil durch Deutschland reist, Festivals besucht und die Szene unsicher macht, hat sie ihrem Entschluss zu verdanken, mit Gewohnheiten zu brechen. Sie stellt sich ständig selbst in Frage und trug nach einer schwarzen Phase des Kleiderschranks auch bunte Kleidung, um sich nun ganz gezielt als leuchtendes Beispiel die Szene zu infiltrieren:

Wenn ich jetzt Flohmarktstände und Second-Hand-Läden gezielt nach schwarzen Stücken durchforste, ist dies eine ganz neue, gezielte Hinwendung zum Schwarz. Und ich werde kombinieren. Sowohl als auch. Nichts lässt Buntes so leuchten, wie ein schwarzer Hintergrund und nichts die Schwärze so klar hervortreten, wie ein buntes Umfeld.“ Sie driftet durch ihre Identitäten und spielt mit der Sichtbarmachung aller Aspekte, die in ihr stecken.  Das Schreiben und Zeichnen scheinen auch Aspekte dieser Persönlichkeit zu sein, denn Mirjams Sommermärchen geht in eine möglicherweise spannende und interessante dritte Runde.

Kein Sommermärchen für Mirjam (Teil 3)

Danach war ich in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen, der von Traumbruchstücken durchsetzt war. Allesamt fühlten sie sich unvollständig und unbefriedigend an, ohne dass ich mich an sie erinnern konnte. Bis eine ungnädige Stimme mich weckte: „Allgemein wird Schlaf zur Erholung genutzt. Wenn du still lägest, würde sich dieser Effekt womöglich sogar einstellen.“

Oh-ha. Da hatte ich wohl wen wachgewühlt. Wahrscheinlich hätte ich mich gemaßregelt fühlen und mich entschuldigen sollen – immerhin hatte ich schon ein paar Stunden Vorsprung, was das Schlafen anging. Stattdessen war ich froh, dass er mich aus dieser Aneinanderreihung anstrengender Träume gemäkelt hatte und nahm darüberhinaus an, dass er es überstehen würde – so oft, wie er ganze Tage und Nächte wachblieb, konnte das hier nicht so schlimm sein.

Aus einer Anwandlung des Übermutes heraus entgegnete ich: “Du kannst mich ja festhalten“ und spürte kurz darauf voller Vorfreude, wie er diesem Wunsche nachkam, sich zu mir herumdrehte und eine Hand unter meine Decke schob. Unterhalb der Rippen kam sie zu liegen, und ich wollte gerade anfangen, diese Berührung zu genießen, als die Finger seiner Linken sich in die Nackengruben beidseits meiner Wirbelsäule bohrten. Zumindest fühlte es sich so an. Ein Teil von mir wusste, dass er nur die Fingerspitzen dorthin gelegt hatte, aber dies reichte, damit der Kreis sich schloss. Und ich hatte es so gewollt.

Eisige Ketten beugten und banden mich, hielten mich in der Starre unnennbaren Zornes, dem der Ausdruck verwehrt war. Sie bannten mich in dem Moment, in dem mein Schrei dem empfundenen Unrecht Ausdruck verleihen sollte. Statt aller Welt von mir zu künden, wurde er in meiner Kehle gespiegelt, rann an den Ketten, sie damit stärkend herab und versank in dem brodelnden Sumpf, zu dem mein Leib dort geworden war, wo Sifs rechte Hand lag. Ich zuckte zusammen, wollte Luft holen um zu protestieren, da ich meinte, es so nicht gemeint zu haben, doch auch in dieser Richtung war hier Schluss, war meine Kehle etwas, worauf ich keinen Zugriff hatte.

Ich sah ein hohes, schwarzes Tor. Zwei glatte, hölzerne Flügel, die ebenso abweisend unangreifbar wirkten, wie sie fugenlos ineinandergriffen und dem umgebenden grauen Felsmauerwerk eingefügt waren.

Sommermaerchen - 9 - Das Tor

Ein herrisches Gefühl wissenden Triumphes ließ mich wissen, dass auch ich hinter diesen Mauern Heimstatt hatte, doch jetzt riss ich mich los, rang aus dem Schlafzimmer stolpernd nach Luft und floh ins Bad, weil ich glaubte, mich übergeben zu müssen.

Dort stand ich dann schwer atmend und mit zitterigen Knien, stützte mich auf den Waschbeckenrand und versuchte mich neu zu sortieren, während ich in den Abfluss starrte und feststellte, dass es ohne Erbrechen gehen würde. Auch gut.

Aufkommenden Zorn auf Sif schob ich beiseite. Das war Quatsch. Ich hatte ihn darum gebeten und das Ganze war schließlich nicht sein Werk, sondern er hatte der Geschichte nur den Weg an die Oberfläche gebahnt. Mir war immer noch übel – nur, dass es nichts gab, was ich hätte auskotzen können. Doof eigentlich. Ich wusch mir Gesicht und Hände mit warmem Wasser ab und ging zurück.

Sif lag mit aufgestütztem Kopf auf der Seite und musterte mich skeptisch, während ich es mir wieder im Bett bequem machte. „Und? War die Flucht erfolgreich?“, wollte er wissen „Hat weglaufen genützt?“ „Ja“, flappte ich zurück „hat es. Ich hab´ zum Beispiel nicht ins Bett gekotzt.“ „In der Tat vorteilhaft.“, gestand er mir zu und ein unterschwelliges Grinsen schlich sich in die Gegend um seine Mundwinkel. „Außerdem“, setzte ich feixend hinzu, als ich diese Reaktion gewahrte, „hab´ ich im Bad die Tür zugehalten – da konnte ich nicht hinterher.“

„Professionell gelöst.“, bestätigte er, um dann, wieder in Ungeduld verfallend, fortzufahren: “ Und wenn du dich jetzt dazu bequemen würdest, dich auf den Rücken zu legen, könnten wir hier weitermachen.“

Ich wühlte mich zurecht und lag erwartungsvoll, wennauch ein wenig bange da. „Mit geschlossenen Augen“, gnarlte es von rechts. Ergeben klappte ich die Augendeckel zu.

Als nächstes spürte ich seine Linke, sich über meine Stirn und Augen breiten, und seine andere Hand bezog rechts, am unteren Rand meines Brustkorbes Stellung. ‚Leber‘, dachte ich noch, als sich ein unerbittlicher Finger in meine Galle bohrte, sodass ich zusammenzuckte.

Mit dem Schmerz, der mich quer durchzuschneiden schien, blitzten Bilder auf.

Viele, die so schnell wieder verblichen, dass ich nichts erkennen konnte, viele, die einander überlagerten, sich ablösten und sich damit einer genauen Betrachtung entzogen, doch allen war gemein, dass sie mir auf entsetzliche Art vertraut waren.

Ja. All dies war ich. Schon immer gewesen, wie es schien. Entsetzlich, allein der schieren Menge wegen, die mich weder an ein Ende, noch mehr auf Gnade hoffen ließ. Bilder von unbeherrschtem Zorn, in welchem ich Untergebene schlage, auspeitschen lasse oder einfach töte, Schüler, die für mangelnden Erfolg bei den aufgetragenen Übungen Qualen leiden, von denen ich mir nicht vorstellen konnte, sie je ersonnen zu haben und die ich voller Genugtuung trinke, mich an ihnen labe und daraus Stärke beziehe.

Alles in dem sicheren Empfinden von Wahrheit. Meiner ganz persönlichen Wahrheit. Meiner Geschichte eines Menschen auf Erden.

Mein Oberbauch verkrampfte sich bretthart und ebenso starr steckte mir ein Würgereiz im Halse fest.

Die Demütigung, den Zorn eines anderen ertragen zu müssen, ohne aufbegehren oder fliehen zu können. Aus der Luft gegriffene Anschuldigungen für Versäumnisse anderer. Die perfiden Vorwürfe eines berechnenden Sadisten, der auf ein Widerwort hofft, um dann seinen Neigungen freien Lauf zu lassen…

Alle Formen des Ausgeliefertseins, die ich je durchlebte, steigen in diesen Bildern in mir auf. Ebenso wie alle Versuche der Sühne. Flagellantenmärsche und Bußexerzitien im härenen Hemd tauchen ebenso auf, wie ganze Leben, die nichts anderem als dem Selbsthass und der Zerstörung aller Lebensfreude gewidmet sind.

‚Und genau da hänge ich jetzt fest. ‘, war der Gedanke, der sich in lähmender Schwere in mir breitmachte.

Relativitätstheorie für Anfänger

Mit einem Ruck zog Sif die Hände von mir ab. „Einstein ist lange genug tot, als dass du dich mit seinen Forschungsergebnissen hättest auseinandersetzen können!“, fauchte er mich an und es dauerte eine Weile, bis ich aus der Verflechtung in Bilder und Gefühle soweit aufgetaucht war, dass ich mich mit dieser Aussage befassen konnte. Allerdings so ergebnislos, dass es mir anzusehen gewesen sein musste. „So ergiebig die Beschäftigung mit seinen Erkenntnissen sein kann, würde es vorderhand vollkommen ausreichen, wenn du dir klarmachen würdest, dass Stillstand, relativ zu einer herrschenden Bewegung einer Abwendung vom Bewegten gleichkommt.“

Ok – Relativitätstheorie für Anfänger. Soweit schon klar und nichts Neues und immer noch stellte sich mir der Bezug zum eben Erlebten nicht dar.

Sif betrachtete mich kopfschüttelnd, schlug die Decke zurück und stand auf. „Stillstand“, ließ er im Hinausgehen über die Schulter fallen, „ist die Flucht der Feiglinge.“

Ich hätte mich ohrfeigen können. Eingelullt in Selbstmitleid, Bequemlichkeit und was auch immer sonst noch, hatte ich es im Gegensatz zu ihm, nicht gemerkt. Vermutlich hatte er auch mit Feigheit Recht. Ja, ich hatte Ausweglosigkeit gespürt. Das war das eine. Und im Anschluss hatte ich gedacht, ich hinge fest. Das war das andere.

Ich hatte es gedacht und damit für mich manifestiert, zu meiner Wahrheit gemacht.

Wohl dem, der gute Lehrer hat.

Dankbarkeit sprudelte aus meinem Herzen und badete mich in Zuversicht. Dankbarkeit ihm begegnet zu sein und jederzeit auf seine eigenwillige, oft schmerzhafte Hilfe rechnen zu können. Dankbarkeit für mein Leben, Dankbarkeit – einfach so, weil sie ist und ich gern in ihr bin.

Sommermaerchen - 10 - Das Fenster

Ich ging zum Fenster und öffnete es weit. Wann immer ich hier war, nahmen Dinge eine Wendung oder einfach ihren Lauf. Dinge, deren Richtung mir missfiel, Dinge, die ich nicht benennen konnte, die mir nicht greifbar waren und mich dennoch quälten, Dinge, die mir im Weg standen und Dinge, die an meinem Wege lagen.

Lächelnd und mit einem neuerworbenen Unverständnis dafür, vor keiner Viertelstunde noch in den Nebeln gefangen gewesen zu sein, schüttelte ich unsere Decken auf, zog das Laken glatt und lehnte die Kissen an das Kopfbrett. Mit einem nahezu feierlichen Gefühl stieg ich wieder ins Bett, setzte mich gemütlich zugedeckt hin und knautschte mir das Kissen in den Rücken.

Sif kam mit Frühstück zurück. Nicht von der Tageszeit her – es war eher Mittag – aber eben die Mahlzeit nach dem ersten Aufwachen des Tages. Ein Labortablett aus Edelstahl mit zwei Scheiben Brot und zwei Bechergläsern Leitungswasser. Er gab es mir zu halten, während auch er sich setzte und dann übergangslos zu essen begann. Ich trank in kleinen Schlucken und sah ihm zu, wie er systematisch und ohne jedes Anzeichen von Appetit oder Genuss die Bissen zermahlte, die er von seinem Brot nahm.

Oft, und so auch heute, hatte ich den Eindruck, dass er nur aß, weil er irgendeinen Schwur geleistet hatte, es zu tun. Als könnte er ebenso gut damit aufhören, seinen Körper verhungern lassen ohne es zu bemerken und eines Tages, wenn der dann tot liegeblieb, ohne ihn aufstehen und den gewohnten Geschäften nachgehen. Ich kicherte bei der Vorstellung, wie die anderen Mitarbeiter reagieren würden, wenn seine Arbeit sich eines Tages erledigen würde, ohne dass eine Person zu sehen wäre, die sie ausführte.

Sif sah mich an und schob mir das Tablett zu, das bislang in der Mitte gelegen hatte. Ich hatte deutlichen Frühstücksappetit, aber er hatte auch meine Scheibe mit der Wurst belegt. Dünne, harte Scheiben dieses Zeugs, das ich Drachenwurst nannte und von dem ich vorher nie wusste, ob es mir leidlich, gut, oder gar nicht schmecken würde. Meistens vermied ich sie und bestrich meine Brote nur mit Butter. Aber dies hier sah nach einem Essauftrag aus.

Sommermaerchen - 11 - Fruehstueck

Ich überwand den Argwohn, eingedenk der Tatsache, dass auch Vermeidung eine Form von Flucht ist und biss ab. In Jubel wäre ich für den Geschmack nicht ausgebrochen, aber es war schon ok. Die süßliche Moderigkeit, die mich schon so manches Mal hatte würgen lassen, war heute sogar – naja, nicht angenehm, aber irgendwie interessant. Sie schmeckte, als sei dahinter etwas verborgen, für das es sich lohnte sie zu ertragen. Je länger ich auf dem ersten Bissen herumkaute, desto differenzierter wurde der Geschmack. Die Kräuter und Gewürze, von denen außer einer allgemeinen erdigen Schärfe nicht viel zu merken ist, wenn ich es beim Kauen mit dem Zerkleinern bewenden lasse, tauten quasi auf, sie erblühten in fremdartigen Farben und ließen ihre Aromen in meinen Körper übergehen. Ich verfolgte ihre Wege mit meiner Wahrnehmung und als ich einen nächsten Bissen nehmen wollte, stellte ich verwundert fest, dass ich längst aufgegessen hatte.

Belustigt darüber, dass ich mich so im Essen hatte verlieren können, leerte ich mein Glas und stellte es aufs Tablett zurück. Als hätte er nur darauf gewartet, nahm Sif es fort und stellte es auf der Bank an der Wand ab, auf die  er seine Kleider zu legen pflegt. „Für eine Fortsetzung“, ließ er mich wissen, „müsstest du dich auf den Bauch drehen.“ Ich sah ihn an und versuchte eine Information darüber zu erhaschen, was er vorhatte, oder mich erwartete. Doch wie üblich in solchen Situationen, war sein Gesicht ausdruckslos leer und die Entscheidung lag allein bei mir. Erpicht war ich nicht auf eine Fortsetzung. Zumindest nicht auf eine Wiederholung, oder Verlängerung des vorhin Erlebten. Aber ‚Fortsetzung‘ konnte eben auch ‚nächstes Kapitel‘ und damit eine Weiterführung und Veränderung bedeuten. Einer solchen Fortsetzung konnte ich sehr wohl zustimmen und ich nickte. Während ich mich in Positur brachte, konnte ich nicht umhin, daran zu denken, was ich, so daliegend, viel lieber mit ihm erleben würde und meine Körperhaltung musste dies auch deutlich zum Ausdruck gebracht haben, denn ich hörte ihn noch ein leises: „Später – Eins nach dem anderen“ raunen, bevor er mir seine Finger in Nacken und Beckengruben legte.

Die schwarze Sonne

Entlang und auch in meiner Wirbelsäule entspann sich ein kribbelndes Flimmern feiner, agiler Lichtfäden, die vibrierend zueinanderfanden, Informationen auszutauschen schienen und eine Anzahl Verzweigungen in meinem Körper ausbildeten, als gälte es, ein weiteres Nervensystem zu installieren. An der Körperoberfläche verzweigten sich die Fasern zu einem dichten Netz, unter dem meine Haut elektrisch zu kribbeln begann und ich spürte Sifs Atem über meinen Rücken strömen. Mein gesamtes Empfinden weitete sich und ich spürte, wie die Fasern entlang der Körperachse, diese verlängerten. So hoch hinauf, wie tief hinab.

Ich Bin
das Öffnen aller Tore
und ihr Durchschreiten
das Wandeln
auf allen Wegen
und der Wandel der Zeiten

 

Sommermaerchen - 12- Schwarze Sonne
Das Bild „Die schwarze Sonne“ könnt ihr Euch auch in vollständiger Größe herunterladen.

Ich griff hinter mich und zog Sifs Rechte, die er mir jetzt widerstandslos überließ, von ihrem Platz weg nach vorne, wo ich sie mir unter dem Nabel auf den Bauch legte und mich daran festhielt.

Ich sah uns auf das Tor zugehen, das ich von vorhin erinnerte. Seite an Seite, in lange schwarze Umhänge gekleidet, schritten wir darauf zu und so ewig verschlossen, wie es sich vorhin  gezeigt hatte, so selbstverständlich öffnete es sich nun, als wir uns näherten.

Als ich die Schwelle überschritt und in den Torhof trat, war ich allein. Ich spürte meinen Geliebten in meinem Herzen und dankte ihm dafür, dass er mich so weit begleitet hatte, wie es anging.

Musikperlen – Tanzflächenmomente an die man sich erinnern möchte (Tauchgang #37)

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Die besten Tanzflächenmomente sind die, bei denen du keine Ahnung hast, von wem oder was die Stücke sind, die dich gerade zum Tanzen animieren. Bei denen du nicht mitsingen kannst, weil du den Text nicht kennst und auch viel zu beschäftigt bist, um verzweifelt auf dem Smartphone die App zu suchen, die Musikstücke erkennt. Tanzflächenmomente, in denen es dir völlig egal ist, wie du auf andere wirkst, was die einsetzende Transpiration mit deinem Make-up anstellt oder um wie viel Uhr du am nächsten Tag aufstehen musst. Dann bist du für 3-6 Lieder (je nach Kondition) völlig unbeschwert, befreit vom Gedankenkarussell und hast ein Stück von dem zurück, was du vom „früher“ so schmerzlich vermisst.

Jeder dieser Tanzflächenmomente hat das Potenzial, legendär zu werden! Das werden solche Momente immer dann, wenn man nicht in der Lage ist, diese Augenblicke zu wiederholen. Ort, Zeit, Umfeld, Klang, Stimmung. Der musikalische Fingerabdruck guter Nächte in schwarzen Tempeln. Irgendwann findest du raus, von wem die Stücke sind, besorgst sie dir, hörst sie rauf und runter und feierst auch folgende Augenblicke, in denen diese Stücke wieder einmal aus den Lautsprechern der Lieblings-Discothek krachen. Aber der gleiche Moment wird es einfach nicht.  Offenbar reicht eine minimale Abweichung der Parameter, die im Leben unvermeidlich erscheint.

Je älter du wirst, umso mehr zehrst du von diesen Augenblicken. Verfällst in Nostalgie, schwelgst in den Erinnerungen der Vergangenheit baust Dir unmerklich ein Korsett an Bedingungen, die es immer schwieriger machen, Tanzflächenmomente zu wiederholen oder gar legendär werden zu lassen. Dann ist der Nebel zu dicht, der Klang ist kacke, die Leute unangenehm und überhaupt hat man auch die falschen Schuhe an. Glaubt mir wenn ich Euch sage, dass das völlig Quatsch ist. Die finden immer dann statt, wenn man loslässt. Und die Tanzfläche ist genau der Ort, an dem man das von Zeit zu Zeit tun sollte. Nicht darüber nachdenken, wie man aussieht. Nicht darüber nachdenken, ob die Bewegungen dem Takt entsprechen. Und einfach mal alles andere für 3-6 Lieder (je nach Kondition) egal finden. Probiert es aus. Es lohnt sich.

Das M – Channel Surfer

Channel-Surfer. Es wird ewig weitergehn, eine Ende ist nicht abzusehn!“ Martin Haidinger, selbstständiger Grafiker aus Österreich, macht nebenbei Musik. Und das bereits seit 1992 auf wechselnden Labeln, Medien und bei verschiedenen Gelegenheiten. „Das M“ ist nur eins seiner zahlreichen Projekte und musikalischen Ergüsse, die er aus den Schaltkreisen seiner Synthesizer zaubert. Zu Ohren gekommen ist mir das Stück „Channel Surfer“ auf irgendeiner Party 2015 und war tagelang nicht in der Lage, mich von diesem Ohrwurm zu befreien, der mich zu Transpirations-Exzessen auf der Tanzfläche fesselte. Wie konnte das sein? Wie hat es der Typ geschafft den 80er-Sound der neuen deutschen Welle in Hier und Jetzt zu transportieren, ohne dabei altbacken oder immitationswütig zu klingen? Nach endlosen Recherchen landete ich letztlich bei Kernkrach, die Martin aus der Versenkung befreiten und ihn zur Produktion eines Albums animierten. „Leidenschaft und Produktion“ nennt sich das Ergebnis, das mich beeindruckte. Im Ox stieß ich dann auf ein Interview, das mir mehr über den Österreicher verriet, aber mich nachwievor im Dunkel darüber ließ, warum der so klingt, wie ich es brauche.

Incubated Sounds – Anne’s Death

Da sitze ich nun mit meinem Talent. Und am langen Ende verkomme ich noch zum Verschwörungstheoretiker. Incubated Sounds erscheinen irgendwie so in meinem Horizont. „That was Then – This is Now“ heißt das Album, auf dem das Stück „Anne’s Death“ zu hören ist, erschienen nur auf Kassette. Die Musiker, die bei Discogs bezeichnet sind, scheinen sich nur für diese musikalischen Schaffensphase Anfang der 90er zusammengefunden zu haben. Mystische Kassettenverzierungen hinterlassen mehr Fragezeichen als Hinweise: Bänke in einer Kirche und:  „Dedicated to Os 1/5“ – Ein Bibelvers? Das liegt nahe, denn „Divine Call“ auf der B-Seite referiert offenbar zu folgendem Vers: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ Und vor allem: Wer ist eigentlich diese Anne? DIE Anne Frank? Das jüdische Mädchen mit dem berühmten Tagebuch? Für mich übrigens eines der Lieder, das die Gothic-Dekade der 80er in die 90er überführte und damit den typischen Darkwave-Sound prägte.

Second Layer – Courts or Wars

Es ist diesig an diesem frühen Montag Morgen in London, als Adrian Borland den Bahnsteig am Bahnhof Wimbeldon betritt. Er fällt keinem der zahlreichen Pendler auf, die auf ihre Züge warten und auch Borland scheint seine Umgebung nicht wahrzunehmen. Er schlendert an den Wartenden vorbei und wirft sich ohne weitere Vorwarnung unter den einfahrenden Zug. Niemand der schockierten Reisenden weiß, dass es bereits sein dritter Versuch ist, seinem Leben ein Ende zu setzen. Niemand kannte den Mann, der als Sänger, Songwriter und Gitarrist Bands wie „The Sound“ oder „Second Layer“ gründete und formte, denn zu weltweitem Ruhm hatten ihm seine eindringlichen und melancholischen Songs nicht verholfen. Harmony & Destruction sollte sein neues Album heißen, an dem er noch an diesem Wochenende gearbeitet hatte, doch Destruction war das letzte, was ihn bewegte. Seit 14 Jahren kämpfte er schon gegen seine Depressionen und die psychische Krankheit, die man beim diagnostizierte. Er velor den Kampf, denn sein dritter Versuch war erfolgreich. Adrian Borland starb am 26. April 1999 im Alter von 41 Jahren.