Gothic Night auf ARTE am 3. November 2012

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Fernsehen ist nicht nur sinnentleert, vor allem dann, wenn die privaten Sender konsequent meidet. Die öffentlich-rechtlichen kommen gelegentlich ihrem Bildungsauftrag nach und einige Spartenkanäle bieten durchaus ein interessantes Programm. So zeigt ARTE zum Beispiel am Samstag, den 3. November 2012 ab 22.55 die „Gothic Night“ und hat dazu drei sehr interessanten Dokumentationen eine Plattform eingeräumt und feiert damit das dreißig-jährigen Jubiläum dieser Subkultur. Beginnend mit einer Dokumentation über Joy Division, die als einer der wichtigsten Bands der Post-Punk-Szene gelten, geht man zu den Wurzeln der Gothic-Bewegung. In ihrer Form der der Musik manifestiert sich vermutlich das, was später als inhaltliche Grundlage für eine ganze Szene gelten sollte.

Besonderes Highlight ist die Web-Dokumentation I Goth my World, die „die Geschichte der Gothic-Bewegung anhand der Porträts von drei Generationen“ darstellt. Zu guter letzt beschäftigt man sich mit der Phänomen Horror und fragt: „Wie konnten Grauen und Horror von einer Randerscheinung zur Massenattraktion avancieren?„, das zwar nur am Rande mit der Szene zu tun hat, aber sicherlich auch interessant werden dürfte und vielleicht die Frage klärt, warum in aller Welt immer mehr blutverschmierte Gestalten auf einschlägigen Festivals herumlaufen.

Die Dokumentation „I goth my World“ ist für mich der Höhepunkt, auch wenn – oder gerade weil – sie offenbar einen Blick in die französische Szene wagt. Auf webdoku.de findet man ein Interview mit Brice Lambert, einem der Macher dieser Dokumentation, das einen thematischen Überblick verschafft und über die Beweggründe aufklärt:

Wir wollten eine versteckte Kultur zeigen, eine Lebensrealität, die sonst im Verborgenen liegt. Zufälligerweise fand Ende 2010 ein Gothic-Festival in Straßburg statt, wo wir studieren. Wir sind da einfach mal hin und haben uns umgeschaut. Uns war bei der Themensuche wichtig, dass es starke Bilder gibt und in der Gothic-Szene ist ja fast alles visuell interessant. Angefangen bei den Leuten und ihren Klamotten die teilweise ziemlich abgefahren sind. Wir haben uns dann recht schnell auf ein Porträt der Gothic-Bewegung geeinigt. Dass die gerade ihr 30-jähriges feiert passte dann natürlich.

Natürlich werde ich mich vor der Fernseher einfinden und die Aufnahmengeräte vorsichtshalber programmieren um nicht Gefahr zu laufen, wieder etwas von dem zu verpassen, was sonst im Müll des sonstigen Fernsehprogramms untergehen könnte. Glückerlicherweise machte mich Pixella Panik frühzeitig in einer E-Mail darauf aufmerksam. Und da die zweite Generation der Bewegung, zu der ich mich zähle, mittlerweile weit davon entfernt ist jedes Wochenende durchzutanzen, werde ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Stilecht werden Grablichter entzündet, der Raum mit Patchouli-Duft geschwängert und der Tisch wird mit gruftigen Leckereien bestückt. Was das sein könnte, überlasse ich dem Klischeedenken oder dem gesunden Menschenverstand, je nach dem.

Für den Fall, das ARTE es versäumt die Dokumentation mit Untertiteln zu versehen, hoffe ich doch, dass sich ein paar engagierte Leser mit Kenntnissen der französischen Sprache finden, die bei einer Übersetzung hilfreich sein könnten. Wer mehr über „I Goth my World“ erfahren möchte, sei das Facebook-Profil ans Herz gelegt.

Neuigkeiten:

Mittlerweile hat ARTE auch eine eigene Seite für die Doku eingerichtet, ideal um sich für den 3. November einen kleinen Vorgeschmack zu holen.

Esoterikmesse in Köln – Im Reich der Geister oder …reich durch Geister

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Es wird Herbst – genau die richtige Zeit, um an meinem Roman weiterzuarbeiten, der nun schon viel zu lange in der Schublade liegt. Die Figuren, die mir seit Ewigkeiten im Kopf herum spuken,  wollen Leben eingehaucht bekommen, sie brauchen ein Äußeres, innere Konflikte, Macken und Persönlichkeit. Was macht die Schreiberline also in so einer Situation?

Ganz klar: Sie fährt zu einer Esoterikmesse, um sich inspirieren zu lassen. Zumindest dachte ich, dass es eine gute Idee ist. Skurrile Charaktere, verrückte Ideen und eine Portion Spiritualität – ideal zur Inspiration. Nach der Rückkehr dann die bittere Erkenntnis: Die Realität ist bekloppter als alles, was man sich ausdenken kann.

Spirituelle Rückenschule, geistige Wirbelsäulenaufrichtung, Gedankendiät, spirituelles Coaching zur Transformation, Vitamine aus der Luft, heilendes Kristallwasser – mit jedem Stand mit jedem „Heiler“ mit jedem Infoblatt eine neue Möglichkeit, sich zu befreien, Blockaden zu lösen, Erkenntnisse zu gewinnen, gesünder, erleuchteter, schöner und vor allem ärmer zu werden. Wer seine Seele in höhere Gefilde heben möchte, der muss erst einmal tief in die Tasche greifen.

Sechs Flaschen eines Wassers, das 144 Tage im Kontakt mit Edelkristallen „gereift“ ist, kosten beispielsweise 155 Euro. Die spirituelle Rückenschule Stufe 1 (Mobilisation der Wirbelsäule durch die Kraft der Gedanken) wird für 130 Euro angepriesen. Wenigstens sind die Vorträge auf der Messe kostenlos: Eine Lichtmeisterin erklärt, wie man Lichtknoten aus seinem Energiesystem und den Zellen herauslöst. Ein anderer Vortrag beschäftigt sich mit der 5-Elemente-Heilung mit Quantenenergie. Wahlweise kann man auch etwas über telepathische Kommunikation lernen oder sich mit schamanischer Energiearbeit als Hilfe für ADHS- Kinder vertraut machen. Die Heilung von Krankheiten aller Art ist ohnehin der rote Faden, der durch die Halle wabert. Dürfen die das eigentlich? Eine Heilerin behauptet, dass sie mit ihrer „magnetischen Heilkraft“ von Schmerzen befreit, Wundheilung beschleunigt und sogar Infektionskrankheiten behandelt. Ziemlich ungesund aussehende Menschen mit offensichtlichen körperlichen Gebrechen schleppen sich mit Kristallen, Steinen und sonstigem positiv aufgeladenem Schnickschnack um den Hals von einem Stand zum anderen. Ein trauriges Bild.

Sicherer Karneval
Zufall oder Absicht? Das Zertifikat „Sicherer Karneval“ über dem Vortragsprogramm der Esoterikmesse.

Die Gruppe der Christen, die zwecks Heilung mit den Besuchern über Jesus sprechen will, weicht auseinander und guckt böse, als wir uns nähern. Zwei schwarz gekleidete Gestalten – wahrscheinlich mit dem Teufel im Bunde – passen nicht in ihre Welt. Dass sie mit ihrem Stand zwischen magischen Kristallkugeln, Aura-Reinigern und zuckenden Channeling-Frauen, die gerade in Kontakt mit der Geisterwelt stehen, am Tanz um das goldene Kalb teilnehmen, scheint ihnen nicht bewusst oder aber egal zu sein. Ein Mann hält mir einen Flyer zum Thema „Kristallheilung“ unter die Nase, während drei Stände weiter zwei Frauen Anionhalsbänder zur Stärkung des Immunsystems anlegen und gleich daneben ein Besucher mit einem Ding, das aussieht wie ein löchriges Kuchenblech, bewedelt wird. Die „Violetten“ bringen Politik in die Szenerie – Die Zeit ist reif für spirituelle Politik. „Wir streben eine Gesellschaftsordnung an, in der Selbsterkenntnis … obenan steht.“

Am Ende bleibt ein bitterer Beigeschmack und die Frage, ob vielleicht doch vor 5000 Jahren von großen Meistern, den Rishis, für mich ein Palmblatt geschrieben wurde, das nun in der Palmblatt-Bibliothek auf mich wartet. Könnte aus einem Fantasy-Roman sein, oder? Ein Zitat von Sören Kierkegaard schwirrt mir nach all dem Proklamieren und Dozieren der Esoteriker durch den Kopf:

Woran die Welt vielleicht immer Mangel gehabt hat, ist, was man eigentliche Individualitäten nennen kann, entschiedene Subjektivitäten, künstlerisch durchreflektierte, selbstdenkende, im Unterschied von schreienden und dozierenden.

Gruseliger Körperkult aus Japan: Bagelheads Reloaded

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Was waren das noch für Zeiten, als man in der Schule bewundernde Blicke für seinen ersten Ohrring einheimsen konnte, nachdem man am Vorabend damit einen Familiendisput provozierte. Heute gehören Piercings zum guten Ton der Szene und Tattoos sind zum Pflichtprogramm geworden. Musste man die verwegenen Körpermodifizierer einst in den miesen Vierteln der Metropolen suchen, hat heute jedes Provinzkaff ein eigenes Hochglanzstudio. Und immer wieder frage ich mich: wo soll die Reise hingehen? Ist in 20 Jahren ein völlig unveränderter Körper die neue Provokation? Bis es soweit ist, wird es täglich extremer. Letztes Jahr berichtete ich mit einigen spannenden und zum Teil gruseligen Bilder vom neuesten Trend aus Japan, den Bagelheads. Neulich hat sich das altehrwürdige National Geographic der Sache angenommen:

https://www.youtube.com/watch?v=dTcxgIhYkoc

Natürlich ging dieses Phänomen auch an den berufsjugendlichen Joko und Klaas nicht vorbei, die für eine Show im Privatfernsehen ebenfalls einen Trip nach Japan buchten, um sich ebenfalls einen Bagel in die Stirn drücken zu lassen. Klar, dass Gothic-Fashion-Queen La Carmina mit dabei gewesen ist. Die weltweite Vernetzung macht aus einem Untergrund-Phänomen innerhalb kürzester Zeit einen Aufreger, Lustigmacher und Fashion-Trend. Kann nicht lange dauern, bis uns die nächste Entdeckung zum vergessen zwingt.

10. Drop Dead Festival in Berlin – Underground in Reinkultur

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Dropdead Festival 2012Was nützt es, sich ständig über etablierte Festivals auszulassen und sie zu kritisieren, wenn man nicht Alternativen vorstellt? Wie kommt man in den Genuss einer Underground-Kultur wenn man ständig im schwarzen Mainstream schwimmt? Eine solche Alternative ist das „Drop Dead Festival“, dass vom 31. Oktober 2012 bis zum 4. November 2012 in Berlin stattfindet und damit auch ein Jubiläum feiert. Bereits zum 10. mal findet das einst in New York entstandene Festival, dass bereits in Prag, Lissabon und Vilnius gastierte, in Berlin statt, wo es bereits 2011 seine deutsche Premiere feierte.

Das Drop Dead Festival ist eine Veranstaltung der kreativen Selbermacher-Kultur und vereint Musikrichtungen unter einem Dach, von denen man in populären Magazinen nichts finden kann. Synth Wave, Queer Electro, Mutant Wave, Minimal Wave, No Wave, Cold Wave, Weirdo Post Punk, Ritual Music, Anarcho Punk, Future Experimentation, Neo Billy, Synth Punk, Death Disco, 8-bit und Ninentdo-Core. Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass ich auch die ein oder andere Neuentdeckung gemacht habe und schon seit Stunden versuche, dass irgendwie unter den schwarzen Hut zu bringen. Das Line-Up liest sich dann auch wie der Status Quo neuer Musik und alten Perlen. Lene Lovich, KAS Product, Stereo Total, Dystopian Society, Petra Flurr, UK Decay, Tanzkommando Untergang, :Codes, Flesh United, Die Perlen und Bestial Mouths, nur um einige zu nennen. Nur wegen Lene Lovich und KAS Product würden einen Besuch rechtfertigen, das ist mal amtlich. 

Musikperlen – Warum Adam Ant nichts mit Ameisen zu tun hat (Tauchgang #25)

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Norma Loy – Romance

Habt ihr schon mal versucht eine Webseite aus dem französischen mit dem Google Translator zu übersetzen? Solltet ihr auch nicht, die Ergebnisse sind nahezu unlesbar. Dennoch komme ich nicht daran vorbei, euch diese Perle des französischen Coldwave der 80er zu präsentieren. Die Gruppe Norma Loy, die sich 1981 in Frankreich (wo auch sonst) formierte, entstand aus der Saat des Punks im Umfeld mysteriöser Stundentenkreise (mehr gibt die Übersetzung nicht her) und bestand im ersten Line-Up aus einem gewissen Usher, der sich für die durchaus kritischen Texte verantwortlich zeichnet und Chelsea, der mit seiner kühlen Stimme der musikalischen Einsortierung Rechnung trägt. Ergänzt wurden sie durch Christine am Schlagzeug und Anne F. am Bass. Statt als Eintagsfliege zur verenden, veröffentlichten die Franzosen rund 5 Alben zwischen den Jahren 1984 und 2009. Nicht unbedingt fleißig, aber beständig. Zu dem Stück „Power of Spirit“ existiert sogar ein Video der Band, obwohl ich mich hier lieber auf das Stück „Romance“ stürzen möchte, bevor ich lieber weiter mit Informationen um mich werfe, die ich aufgrund mangelnder Kenntnisse und Sprachfähigkeiten sowie von einem Wissenden um die Ohren gehauen bekomme.

The Frozen Autumn – Is Everthing Real?

Passend zur eintretenden Jahreszeit gibt es wieder was vom gefrorenen Herbst, die ich bereits im Perlentaucher der Ausgabe #11 vorgestellt habe. Nicht ohne Grund, denn das Stück „Is Everthing Real?“ vereint gleiche viele stilprägendende Elemente in sich. Eingehende Synthie-Teppich, kühler und kluger Gesang in bester Dark-Wave Manier. Für mich sind The Frozen Autumn immer noch die beste Überführung des Ur-Wave der 80er in die nächste Dekade der 90er. Und um das nochmal zu erwähnen, es sind weder Briten noch Franzosen noch Deutsche, sondern sonnige Italiener. Großartig! Etwa zur gleichen Zeit verseuchte ja der sogenannte Italo-Pop die europäischen Charts, was das Bild von italienischer Musik ja nachhaltig ruinierte. Ich danke Diego Merletto und „Froxeanne“ für die Rettung italienischer Musik-Kultur.

Adam & the Ants – Stand & Deliver

Und weil wir gerade dabei sind, Adam & The Ants haben mich auf der Rückfahrt von der Arbeit gleich dreimal begleitet. Hintereinander. Die Stilikone Stuart Goddard, der sich einst als Leadsänger unter dem Künstlername Adam Ant einen Namen machte, hat damals vielleicht nicht die beste Musik gemacht. Doch sein Stil war prägend und schoss in die Herzen der New-Romantic-Bewegung wie ein Pfeil – oder in diesem Fall Pirat. Wie auch immer. Ich finde das Stück „Stand & Deliver“ irgendwie toll, erinnert es mich doch an Zeiten, an denen ich mir Poster des Piraten an die Wand meines Zimmers nagelte. Und das ganze noch bevor irgendjemand den Namen „Jack Sparrow“ in den Mund nahm! Und übrigens: „Adam Ant“ hat nichts mit Ameisen zu tun, sondern ist ein Wortspiel für das englische „adamant“, was soviel wie steinhart oder felsenfest bedeutet. In diesem Sinne: Stand and Deliver!

Waver, Punks und Popper im München der 80er

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Jeder soll doch so rumlaufen dürfen, wie er will. Das ist doch Demokratie.“ München, irgendwann in den 80ern. Ein Gruppe junger Menschen, denen man heute einen subkulturellen Hintergrund zuschreiben würde, stehen irgendwo an einem öffentlichen Platz und werden interviewt. Waver, Punks und Popper äußern sich zu Modezwang, Problembewältigung, Anpassung und Meinungsbildung. Carla, die Schockfriseuse, ist – glaube ich – mit von der Partie. Ein Blick in die Vergangenheit ist immer auch entmystifizierend, reinigend und aufklärend. Keine hohlen Plattitüden über Todessehnsucht, Atomkrieg, Satanismus oder gesellschaftlicher Abkehr. Vielmehr geht es um die Möglichkeit, den eigenen Weg zu finden:  „Das ist wichtig für mich selbst. Ich hab‘ vorher Probleme gehabt und bin mit mir selber nicht klargekommen. Eben dadurch, dass ich mich jetzt so verändert habe, fühle ich mich jetzt einfach wohler, ich kann nicht anders. Normal rumzulaufen macht mich fertig, ich brauch das einfach für mich selber.“ Jugendliche Welten zwischen Vorurteilen und Anpassung und einem klaren Blick für die Realität. „Du muss einfach ein bisschen rückstecken  […] weil sonst ziehst du den kürzeren.“ – „Wenn ich eine Lehrstelle haben will, muss ich mich auch natürlich ein bisschen unterdrücken lassen.

Der 3-minütige Ausschnitt, von dem ich gerne wissen würde woher er stammt, gibt nicht viel her und dennoch finde ich seine Echtheit berauschend. Vielleicht liegt es daran, dass man damals noch versuchte zu verstehen, was in den Köpfen der Jugendlichen vor sich ging. Man suchte nach Erklärungen, wusste noch nichts von subkulturellen Schubladen und hat die befragten einfach reden lassen. Heute eignet sich der geneigte Journalist sein Wissen über Subkulturen aus zahlreichen Publikationen und Erklärungen an, macht sich ein Bild und sucht oftmals nach Bestätigungen für diesen Eindruck. Es ging um das Wohlfühlen, das Bewusstsein der Andersartigkeit, das Ausprobieren der eigenen Persönlichkeit. Man suchte nach Möglichkeiten dem Angepassten zu entgehen und sich dem Strom der Gesellschaft zu entziehen. Was man dabei entdeckte, wird vermutlich heute als Klischee des Morbiden in eine Jugendkultur der 80er projiziert.

Das war irgendwie die Sache, dass man irgendwas ausgedrückt hat. Dann bin ich dann einfach Wave geworden und das bin ich jetzt auch geblieben, obwohl es jetzt „Out“ ist. Aber ich will es hald bleiben, weil es mein innerstes ausdrückt. Auch wenn es mit den Anderen jetzt nicht so ist, das war für die eine Modeerscheinung, für mich ist es jetzt auch Lebensinhalt.

Ich schätze, dass man ein solche stilles Dokument aus längst vergangenen Zeiten kaum beachtet, weil es kein Klischee erfüllt. Keine Satanisten, keine halbnackten Outfits, keine schwarzen Messen und keine Kostüme. Damals war es Sensation genug zu ergründen, was die Jugendlichen dort überhaupt machen. Heute muss man nicht mehr herausfinden wie die Menschen in den skurrilen Outfits ticken, schließlich kriegt man das in den zahlreichen Dokumentationen und Reportagen des Privatfernsehens ausreichend vermittelt.

Spontis Wochenschau #12/2012

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Sollte es das gewesen sein? Der Sommer liegt offenbar auf dem Sterbebett. Ich finde die kalte Jahreszeit sowieso viel schöner. Sehr passend, dass ich zu neuer Farbe in den heimischen vier Wänden „genötigt“ wurde, denn damit wird es vor dem Herbst gleich nochmal gemütlicher. Das dunkle Rot im Wohnzimmer, so sagt Sabrina, die auch die Farbe ausgesucht hat, senkt die Heizkosten weil der Raum damit eine gewisse Wärme ausstrahlt. Natürlich ist es auch wunderschön (aber sowas von), aber der Heizkostenfaktor ist ein Argument, dass man nicht außer Acht lassen sollte. Die Renovierung war eine Odyssee, denn neben meinem Unvermögen, Wände in Rot zu streichen, gesellte sich auch ein Unwohlfaktor, denn abgeklebte Räume die mit Folie verhangen sind, stören mein ästhetisches Empfinden.  Dank professioneller Hilfe ist es dann doch noch gelungen. Früher habe ich mir eigentlich nie helfen lassen, mir war einfach nicht zu helfen. Ich wollte alles selber können. Doch das entpuppte sich als Trugschluss. Man kann einige Dinge gut und andere Dinge nicht gut, diese Erkenntnis kostete mich tatsächlich Überwindung. Blöd, oder? Ich kann nicht gut streichen, dafür aber umso hübschere Wochenschauen gestalten. Hoffe ich zumindestens:

  • Der sterbende Friedhof | Der schwarze Planet
    Ein wirklich gelungenen Gastartikel von Schatten, der über einen Waldfund schreibt, findet sich bei der hübschen Rothaarigen: „Es war tatsächlich so, als würden die Totenmale nicht nur vergehen, sondern sterben. Als ob selbst der Tod nicht ewig wäre. Vergehen mit der Zeit auch Stein und Tod? Unruhig stapfte ich durchs Grün, umrundete die findbaren Reste, wollte Schriftzüge entziffern und konnte es nicht. Fast alles war unleserlich geworden: da war kein Name mehr und keine Jahreszahl. So fotografierte ich Kraut und Steine, vor allem die wenigen noch aufrecht stehenden. Festhalten wollte ich es, wenigstens in Bildern. Ist es nicht seltsam, dass Bilder so oft länger halten als Steine?“
  • Geschichten aus der Gruft – Die Zeichentrickserie | MyVideo
    Allein das Wort „Gruft“ sorgt schon für ein kollektives Aufmerksamkeitsphänomen bei eingefleischte Grufties. Damit auch der Nachwuchs auf den Geschmack kommen kann, gibt es nun auf MyVideo den witzig gemachten Ableger in Zeichtrickform. Kindgerecht versteht sich. „Der Cryptkeeper, ein uralter Mann, mit dem Aussehen einer Mumie, lebt in einem alten geheimnisvollen Haus. Als er in Urlaub fährt, brechen die beiden Brüder Stu und Dwight ein, um etwas wertvolles zu stehlen, damit sie sich von dem Geld Geländebikes kaufen können. Aber auf der Suche nach dem Schatz erleben sie viel schreckliches. Geister, einen Wehrwolf, ein Frankensteinmonster, Vampire und schließlich Zombies. Ihr Erschrecken ist so groß, dass sie entsetzt das Weite suchen, ohne etwas zu stehlen.
  • Drei deutsche Punks in Portugal: „This way we live“ | KFMW
    Es soll sie noch geben, Punks die Punk leben – ohne Klischees. Das das nicht immer in Deutschland sein muss, zeigt ein Artikel im Kraftfuttermischwerk: „Im Jahre 2008 entschieden sich die drei Punks Noni, Dirk and Daniel für ein naturverbundenes, autarkes Leben in der portugiesischen Algarve. Der französische Polaroid-Fotograf Marion Dubier lernte sie dort auf einem Markt kennen und war von ihrer Lebensweise so beeindruckt, dass er sie wieder in ihrer Enklave besuchte und später sogar dort blieb um durch seine Fotos zu zeigen, wie weit ab sie vom eigentlichen Punk-Klischee ihr Leben samt Kindern organisieren. Dabei heraus kam diese wirklich schöne und durchaus nahegehende Fotoserie, die das Journal De Da Photographie gerade zeigt.“
  • Gothic Web-Fernsehen: UnArt Live-TV
    Komme ich jetzt ins Fernsehen? Nicht ganz. Das Team von UnArt hat einen 24/7 Internetsender ins Leben gerufen, dass sich eigentlich immer um die Szene dreht. Hauptsächlich laufen natürlich Musik-Videos. Rund um die Uhr:  „Im Vergleich zu anderen Portalen im WorldWideWeb wird kein „Video on demand“ angeboten, sondern hier handelt es sich um einen echten Online-Fernsehsender mit einer Programmplanung, Sendungen zu verschiedenen Genres, Berichten, Interviews und noch viel mehr.“
  • Hammer Horror on Youtube | Nerdcore
    Eine der ultimativen Referenzen vieler frühen Gothic-Rock sind die Horrorfilme aus der Hause Hammer, der B-Movie Schmiede aus England. (Ich berichtete bereits darüber). Jetzt beginnt man damit, die alten Klassiker in voller Länge bei YouTube hochzuladen: „ Hammer Horror stellen grade ihren Backkatalog in voller Länge auf Youtube. Bislang neben ein paar klassischen Trailer online: Captain Kronos Vampire Hunter von 1974 (muss man nicht kennen, ziemlich obskurer Zigeuner-Vampir-Flick), zwei frühe Krimis, die ich nicht kenne (The Man in Black und Dick Barton Special Agent), sowie den hervorragenden The Quatermass Xperiment (US-Release: The Creeping Unknown), der erste Hammer Horrorfilm überhaupt. Sollte man allein aus filmhistorischen Gründen kennen.“
  • Laibach: Warme Lederhaut | SPEX
    Wer kennt nicht das Original von „The Normal“? Jetzt haben sich Laibach dem Stück angenommen und ein Video dazu erstellt. Ganz nebenbei erzählt mir der SPEX noch von einem bislang unbekannten Fetisch: „SPEX zeigt erstmals das Vintage-Crashtest-Video zu »Warme Lederhaut« (Spiel der Referenzen: Das Orignal bezieht sich auf James Graham Ballards Roman Crash über einen sexuellen Fetisch gegenüber Verkehrsunfällen.)“
  • Dicken Schrader uns eine Kids: Depeche Mode – Black Celebration | YouTube
    Hatte ich auch schon mal im Blog, die sympathische Familie. Jetzt nennen sie sich DMK und bringen mit „Black Celebration“ gleich den nächsten Klassiker:

Heute ist Welttag der Suizidprävention

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Er hat viele Worte. Jedes Jahr sterben in Deutschland rund 10.000 Menschen durch den Suizid, Selbstmord, Freitod oder die Selbsttötung. Die Motive sind unterschiedlich, vielschichtig und für die meisten Menschen nicht leicht nachvollziehbar. Heute ist der Welttag der Suizidprävention, der 2003 von der WHO ins Leben gerufen wurde, die den Suizid als das größte Gesundheitsproblem der Welt darstellt. Jährlich, so die WHO, nehmen sich rund 1 Million Menschen das Leben.

Seit Jahren hält sich auch die Behauptung, dass die Gothic-Szene ein Sammelbecken für selbstmordgefährdete Individuen ist. Offenbar verbindet man düstere Musik und schwarze Kleidung gleich mit einem Hang zu psychologischen Grenzbereichen. Einzelfälle mit schwarz gekleideten Leuten geben den Gerüchten immer wieder neues Futter:  “ Statt Freude am Leben der Hang zu Depressionen und Selbstmord-Fantasien.“ Vielleicht ist es auch die Leidenschaft für Friedhöfe und die morbide Ästhetik, vielleicht ist der Grund, dass sich manche Szene-Gänger intensiver mit der Thematik auseinandersetzen. Aber das sind auch nur Gerüchte, die drei jungen Männer haben ihren Tod freiwillig herbeigeführt, oder?

Ist der Selbstmord immer eine freiwillige Entscheidung? Nietzsche prägte zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Begriff „Freitod“, den er in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ eingehend thematisiert.  „Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden. Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte! […] Dass euer Sterben keine Lästerung sei auf Mensch und Erde, meine Freunde: das erbitte ich mir von dem Honig eurer Seele. […] Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.“ Er selber konnte dieses Ziel nicht erreichen. Dement und teilweise gelähmt starb er an den Folgen einer Lungenentzündung.

Die moderne Psychologie bezweifelt die Fähigkeit, seinen Tod bewusst und freiwillig herbeizuführen, weil sie annimmt, das Menschen, die vor dieser Entscheidung stehen, durch die intensive Beschäftigung damit nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten sind. Man sieht den Selbstmord als eine Folge von psychischen Störungen wie Depression oder Schizophrenie. Neuzeitliche Philosophen wie Wilhelm Kamlah sehen das anders. Er hält den rationalen Suizid, der auf einer bewussten und klaren Entscheidung beruht, für ein Grundrecht des Menschen.

Fakt ist, dass Selbstmord gesellschaftlich nicht hoch angesehen ist. Hierzulande dürfte die Kirche für dieses Bild verantwortlich sein, denn schließlich gehört das eigene Leben Gott und der Selbstmord verletzt seine Herrschaft. Gräber von Selbstmördern sind auf Friedhöfen nicht gerne gesehen, bis ins frühe 20. Jahrhundert wurden die Leichen in ungeweihter Erde beerdigt. Der Name Eselsbegräbnis, der dafür geschaffen wurde, spricht für sich selbst.

Der Welttag der Suizidprävention suggeriert, dass der Selbstmord etwas ist, vor dem man die Menschheit schützen sollte. Man sieht es als psychische Krankheit an und vermutet, dass die Menschen, die mit dem Gedanken spielen, sich das Leben zu nehmen, vor sich selbst geschützt werden müssten. Ob das immer der Fall ist, sei einmal dahingestellt. Dabei ist ein Welttag schon bezeichnend. Offensichtlich muss man einen Tag ins Leben rufen, an dem man sich mit dem Suizid auseinandersetzt. Einmal im Jahr setzt man sich mit denen auseinander, die sterben wollen, vielleicht sogar mit den eigenen Gedanken zum Selbstmord. Es ist traurig, dass man schwierige Themen so ausblendet, dass man Gedenktage einrichten muss, um sie in der bunten Spaßgesellschaft deutlich zu kennzeichnen. Wenn es in der Gothic-Szene noch die Menschen gibt, die sich nicht davor scheuen sich Gedanken darüber zu machen, ist es eine angenehme Szene. Nicht etwa, weil man aus dem Leben scheiden möchte, sondern erkennt, dass man die Wahl hat. Vielleicht lebt man sein Leben so bewusster und schätzt, was man lebt.

Suizid in Deutschland 2012
Suizid in Deutschland
(CC by-nc-nd) von Freunde fürs Leben e.V.

Industrial – Ja was denn nun?

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„Industrial“ ist neben Gothic ist das vermutlich der strapazierteste Begriff in der schwarzalternativen Szene. Wenn man sich in den letzten Jahren umgeschaut und das Musikangebot von Diskos und Veranstaltern beobachtet hat, dann hat man das Gefühl als handle es sich dabei weniger um einen eigenständigen Musikstil, sondern viel mehr um ein reichlich schwammiges und bedeutungsloses Anhängsel, dass einfach immer Erwähnung finden muss, wenn ein (vermeintlich) elektronischer Musikstil zur Sprache kommt. Electro/Industrial heißt es da mindestens mal – eher noch Electro/EBM/Industrial oder gar Electro/EBM/Darkwave/Industrial und andere Bandwurmkonstruktionen.

Etwas unübersichtlich? Dann hilft vielleicht eine kleine Suchaktion auf YouTube, ist ja immer eine tolle Quelle, um sich mit musikalischen Eindrücken weiterzubilden.

Und in der Tat, wenn man dort nach „Industrial“ sucht, dann scheint sich der Begriff wieder zu konkretisieren. Doch welch Überraschung: Um einen Musikstil scheint es sich plötzlich nur noch zweitrangig zu handeln – ein Tanzstil ist es doch offenbar vor allem. Zu sehen sind natürlich primär die berühmt-berüchtigten Cyber und auch ein paar Leute, die man vielleicht in die Blackmetal-Ecke gesteckt hätte, und was sie da so treiben, scheint mir als Voll-Laien irgendwo zwischen Veitstanz und Loveparade angesiedelt zu sein. Aber ich will nicht lästern, es scheint alles sehr ausgeklügelt und anstrengend, könnte ich selbst sicherlich nicht. Nur was das mit Industrial zu tun haben soll, verstehe ich nicht so ganz, denn die musikalische Untermalung dazu rangiert irgendwo zwischen Agonoize, Combichrist und Xotox, ist also das, was ich gerne Prollectro nenne (Fans des Genres mögen Aggrotech, Hellectro oder irgendein anderes euphemistisches Kunstwort vorziehen).

Verwirrend? Sicherlich, aber wer sich mal die Mühe macht ein klein wenig zu recherchieren wird recht bald sehen, wie wenig der undurchsichtige Sumpf von heute mit Industrial zu tun hat.

Agonoize – Immer noch Industrial?
Exoport, Agonoize-amphifestival2013, CC BY-SA 3.0

Angefangen hat das Ganze wie so vieles in der alternativen Musikwelt in den 1970ern. Experimentell und avantgardistisch war man unterwegs und kreierte mit Geräuschkollagen einen akustischen Klangteppich, der mit konventionellen Definitionen von Musik nicht immer wirklich etwas zu tun hatte. Provokation und Überschreitung von (geschmacklichen) Schmerzgrenzen standen im Mittelpunkt, man verstand sich oft weniger als Musiker als eher als Aktionskünstler und arbeitete daher ebenso zum Beispiel mit drastischem Bild und Filmprojektionen wie mit Musik.

Tanzbarkeit war kein Kriterium, sondern viel eher jede Art von Grenzwerterfahrung (das vermutlich wichtigste Schlagwort), oft ausgedrückt durch puren Lärm. Richard Kirk von Cabaret Voltaire zum Beispiel schließt nicht aus, dass ihre Musik vor allem ein Ausdruck ihrer Lebensumstände war – aufgewachsen in der Nähe des grauen und von Kriegsruinen durchzogenen Industriegebietes Sheffield, Tag und Nacht begleitet vom Lärm der Fabrikhallen.

Da das Ganze sich parallel zum damals ebenfalls als extrem wahrgenommenen rockigen Neuland entwickelte, wurde teils beides unter dem reichlich negativ behafteten Begriff Punk zusammengefasst (den wir heute natürlich nur für den Stil der Rockmusik benutzen). Erst durch die Gründung des Plattenlables Industrial Records durch die Mitglieder der Genre-Vorreiter Throbbing Gristle entwickelte sich die Stilbezeichnung. Extreme Bands aus diesem Umfeld, wie etwa SPK oder Leather Nun, waren also insofern Industrial-Bands als dass sie ihre Werke bei Industrial veröffentlichten, die mit dem Slogan „Industrial Music for Industrial People“ warben.

Exemplarisch für diese Phase möchte ich hier eine Live-Aufnahme von Throbbing Gristle selbst präsentieren (Gerüchten zufolge schlossen sie übrigens die Türen ab, sobald das Publikum im Konzertraum war, aber wie man sieht, sind die Leute auch so gefesselt genug, man beachte z.B. den Herrn in der letzten Minute):

Elektrische Tonerzeugung spielt natürlich eine wichtige Rolle, aber mit moderner, programmierter Elektronik-Musik hat das Ganze wenig zu tun. Tonbänder, Rückkopplungen, Störgeräusche, aber auch (meist dilettantisch und kaum auf traditionelle Weise gespielte) Gitarren und im weiteren Verlauf der 80er vor allem auch manuell produzierter Krach durch Prügeln auf Schrott, das sind die Hauptzutaten der Industrial-Mixtur.

In den 80ern tat sich dann natürlich viel: Neue Avantgarde-Elemente, Überschneidungen mit New Wave und Neofolk, sowie später auch mit Gothic oder Metal, sodass schnell von Post-Industrial die Rede ist (die Grenzen sind jedoch natürlich fließend und vermutlich bei jedem Kritiker anders gesetzt).

Wichtige Vertreter wären hier z.B. der New-Wave-Musiker Frank Tovey alias Fad Gadget, der beispielsweise sein Lied „Ricky’s Hand“ mit rhythmischem Schlagbohrer-Einsatz untermalte oder im unten präsentierten Song „Collapsing New People“ vor allem mit Schrott arbeitet, dabei aber auch ganz klassisch z.B. einen Kontrabass einsetzt. Unterstützt wurde er bei diesem Lied (nicht im Video) von der Berliner Band Einstürzende Neubauten, die ich hier mit ihrem 1989er Song „Haus der Lüge“ vorstellen möchte, der vor allem auf rezitationsartigem Gesang und Geräuschen von Schrott und Gitarren beruht, Elektronik dabei nur in der Rhythmik verwendet. Letztlich sei noch die Gothic-Band Alien Sex Fiend angeführt, die sich etwa mit dem 1990er Song „Now I’m Feeling Zombified“ in sehr Industrial-nahe Gefilde begibt.

Neue Genres wie Industrial Rock, EBM, Dark Ambient oder Industrial Metal ließen dann natürlich nicht lange auf sich warten, fallen aber allesamt rhythmischer und mainstreamtauglicher aus und firmieren daher wohl zurecht nicht mehr unter dem Namen Industrial. Der Einfluss klassischen Industrials ist bis heute natürlich nicht erloschen und innovativen Künstlern wie etwa der Geigerin Emily Autumn mit ihrem selbst als Violindustrial bezeichneten Stil gelingt es, mit Industrial-Elementen ganz eigene Wege zu gehen und auch deutlich härtere und psychedelischere Spielarten der elektronischen Musik gibt es weiterhin, doch wie innovativ und Industrial-nah das Ganze ist – daran scheiden sich letztlich wohl die Geister.

Echte Industrialbands existieren im wirklichen Underground sicherlich auch heute noch, doch wird man diese kaum in einschlägigen Tanzlokalen der sogenannten schwarzen Szene finden, denn einfallslose, immer gleiche, kommerzielle Discomusik und ein eng definierter Tanzstil (also das Etablieren und Verkaufen von Normen) – das ist genau das, was Industrial NICHT ist und niemals war.

Heim Herd Hund – Gothic Soap mit Luci van Org

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Weil ich ein Mädchen bin!“ Auch fast 20 Jahre nach ihrem Erfolg als Lucilectric ist der Name Luci van Org untrennbar mit diesem Stück Popgeschichte verbunden. Ob wir das Lied mochten oder nicht, seine Omnipräsenz hat es tief in das gesamtdeutsche Gedächtnis gebrannt. 1999 versuchte sie es solo, betrat 2003 mit ihrer Band „Das Haus von Luci“ neue musikalische und äußerliche Pfade um dann mit Üebermutter 2007 einen Fuß in die Gothic-Szene zu setzen. Seit 2012 versucht sie sich mit ihrer neuen Band Meystersinger weiterzuentwickeln. Doch neben der Musik versucht sich Frau van Org auch als Schauspielerin, Autorin und Grafikerin. Genug Lebenslauf.

Heim Herd Hund ist eine 2011 von ZDF-Kultur ausgestrahlte Miniserie, in der Luci van Org sich in einer Art „Gothic-Familien-Soap“ versucht. Leider ist das ganze wohl im Rausch der medialen Berieselung untergegangen und so ist es Rosa Chalybeia zu verdanken, die mich auf die 6-teilige Serie aufmerksam machte. Die Geschichte ist kurz erzählt: Luci, Axel und Acht van Org spielen eine schräge Familie, die zusammen mit ihrem menschlichen Hund Rosi eine neue Wohnung beziehen. Ihre Managerin versucht Luci mit allen Mitteln zurück ins Rampenlicht zu bringen, während die Familie verzweifelt versucht, sich im echten Leben zu integrieren.

Was macht die Familie so außergewöhnlich? Der menschliche Hund, der von Knorkator-Sänger Stumpen gespielt wird, die putzende Haussklavin oder die Überzeichnung sämtlicher Klischees die man hinter eine „Gothic-Familie“ vermutet? Ungeschickt ist das Ganze nicht gemacht, alles was man Frau van Org vorwerfen könnte, parodiert sie gleich selbst. Egal ob es um Erfolglosigkeit, Marketingwahn oder „Weil ich ein Mädchen bin“ geht. Dabei lässt sich sich auch noch hochkarätig unterstützen. Manta-Manta Sternchen Tina Ruland, Supernanny Katja Saalfrank, Rod Rodriguez von den Ärzten und Thomas Rainer von Nachtmahr und viele andere bekommen ebenfalls Gelegenheit, sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen. Das dabei nichts ausgelassen wird, erklärt wohl die Tatsache, dass man es erst nach 22:00 in der ZDF-Mediathek zu Gesicht bekommt. Vielleicht liegt es an der Haussklavin, den eingebackenen Insekten oder Thomas Rainer als Hitler-Parodie auf der Toilette („…und unter mir die braunen Massen…“). Völlig unnötig wie ich finde, denn das alles kann man auch im Nachmittagsprogramm einiger privater Fernsehsender sehen.

Gut oder schlecht? Macht euch selbst ein Bild. Es ist unnötig, sich über die Klischees aufzuregen, denn die sind so maßlos übertrieben, dass sie sich selbst erübrigen. Wenn es ein Marketing-Schachzug von Frau van Org gewesen sein sollte, so sei er ihr verziehen, die große Portion Selbst-Ironie macht sie fast schon wieder sympathisch.