Nachdem wir über unsere WGT-WG in Leipzig berichteten, in der wir nahezu unverschämt luxeriös in einer gemieteten Wohnung abgestiegen waren, ist es Zeit ein Blick über den Tellerrand zu werfen. Spontis-Autorin Flederflausch berichtet von „ihrem“ Besuch in Leipzig – ein wunderbares Tagebuch zwischen sehnsüchtiger Melancholie und dem Gefühl „nach Hause“ zu kommen.
Wave Gotik Treffen 2015. Mein sechstes. Alles schon besondere Routine sollte man meinen – ist es eigentlich auch – aber dieses Jahr ist etwas irgendwie…anders. War ich sonst die Woche vor Pfingsten schon mit Vorbereitungen beschäftigt und dank To-Do-Liste top vorbereitet, überrollt mich dieses Jahr ganz ungeniert das Alltagsleben und ich stelle Mittwochnachmittag leicht erschrocken fest, dass ich mich mit dem Packen mal etwas ranhalten sollte und habe gleich schon gar keine Lust mehr (ich gebe zu, die Hälfte der Zeit vor dem WGT und während des WGT bin ich immer ganz traurig, weil es bald wieder vorbei ist). Als wir (fröhlicher Mitcamper und freundlicher Fahrdienst Matthias und ich) Donnerstagmittag auf der Autobahn die erste vollbepackte Gruftikutsche sichten, packt mich dann doch die vollste Begeisterung und ich winke bei jedem Überholen freudig wie ein kleines Kind auf dem Weg in den Zoo. Coming home.
Spätestens als die übliche Truppe auf dem Zeltplatz versammelt, die Zelte aufgebaut und der Grill angefeuert ist, setzt langsam ein wohliges WGT-Zuhause-Gefühl ein. Reden, trinken, umarmen, Wiedersehensfreude, zum Tanzen zu wechselhaft musikalischen (Un-)Genuss in die Agra 4.2. Wir tanzen jeder für sich und als Grüppchen zusammen, ausgelassen und in uns gekehrt. Bei jedem Blick, die strahlenden Gesichter der anderen – noch alle da, noch alle wohlauf. Atmen. Leben. Im kalten Morgengrauen stolpern Mark und ich als letzte Verbliebene der Bande ins Zelt – und kurz darauf irgend ein wirrer Drunkener in mein Vorzelt, was mich aus dem hart erkämpften Schlaf reisst und mir den größten Schrecken seit langem verpasst – Falsches Zelt! Eine Weile noch kämpfe ich mit dem Schock, beim üblichen gemeinsamen Frühstück kann ich darüber lachen.
Freitag – Die Möglichkeit, dunkle Nuancen zuzulassen
Am Nachmittag bin ich mit Carmen unterwegs und stelle fest, nicht nur ich habe das Gefühl, dass dieses Jahr etwas anders ist. Zwischen all den wunderbaren Momenten und Menschen fühlt sich etwas anders an, etwas hat sich verändert. Ist es die gefühlt gesunkene Besucherzahl oder der Eindruck von überbordender Oberflächlichkeit vieler Besucher? Irgendwie kommt das tiefe wunderbardunkelwarme Gefühl von dem was die Musik, die Ästhetik, die „Szene“ für mich ist nicht hundertprozentig durch. Es ist da, aber der Geschmack hat sich verändert. Melancholie und Sehnsucht machen sich breit und halten sich auch bei der Fahrt zu den Lesungen von Christian von Aster und Lydia Benecke. Trotz des Kurzweils und des tiefgängigen Gespräches, auch wenn mich dieses wiederholt daran erinnert, was ich an vielen Schwarzkitteln so schätze: eine andere Sicht auf die Dinge, die Möglichkeit dunkle Nuancen zu zulassen und sie zu kommunizieren.
Kirlian Camera verpasse ich dadurch natürlich und die Unterschätzung der Entfernungen in Leipzig trägt ebenfalls dazu bei (wie so ziemliche alle anderen Konzerte, die ich mir als Option markiert hatte – eigentlich hab ich es am Ende nur zu zweien geschafft zu denen ich wirklich wollte). Die Künstlerauswahl in der Agra bringt mich nicht gerade in Wallung (also eigentlich so ziemlich gar nicht), dafür aber der anwesende Haufen meiner Camping-Crew. Eine Flasche Fruchtwein mit Nancy und die Party in der Moritzbastei, welche wir eher aus Bequemlichkeit wählen und welcher wir schnell überdrüssig werden und die für uns mit viel Blödsinn und Gelächter im Hof der MB endet, sollten das vergessen machen – und wieder die Erkenntnis: Leipzig bringt einem Menschen näher, schafft Freundschaften und festigt sie. Kreiert schillerndschwarze Erinnerungen, bei denen es einem ganz warm ums Herz wird – und ganz feucht in den Augen (und während ich das hier in den Tasten tippe erwische ich mich immer wieder dabei wie ich grenzdebil anfange zu grinsen und mir ein Tränchen verdrücken muss…).
Samstag – Das WGT Gefühl, dass ich vermisst hatte
Dennoch ist es Samstag noch irgendwie da, das Gefühl, dass etwas anders ist. Die Konsummeile ist es auf jeden Fall nicht, die ist wie immer und interessiert mich auch nur sehr partiell. Auf den Weg zurück zum Zeltplatz entdecke ich Robert mit Weggefährten, sterbe fast vor Aufregung, habe das Gefühl ich erzähle nur komisches Zeug und schaffe es dann im Zelt natürlich mal wieder nicht, wie geplant Schlaf nachzuholen (und der mangelnde Schlaf sollte mich noch übers WGT hinaus verfolgen). Etwas angematscht erreiche ich Samstagabend dann aber doch noch mein erstes Konzert des diesjährigen WGTs im Stadtbad und die andere Nancy und den anderen Matthias (diese Namensdoppelung sollte in meinem Kopf dieses WGT alles etwas komplizierter machen). Crash Course in Science sind ganz nett und dann: Minuit Machine: große klasse! Pulsierendes Dunkel, wie ein tiefer dunkler Strom. Floating and drowning.
Draussen, während die Dunkelheit langsam über die Stadt sinkt, lasse ich los und mich fallen, in die Klänge und die Leichtigkeit des (Beisammen-)Sein. Also lasse ich die Fields oft the Nephilim sausen und mit einer Flasche Pfeffi bewaffnet machen wir uns als bald auf den Weg ins Täubchenthal zur „When we were young“ – und da finde ich es, zwischen angeheiterten Gesprächen mit alten und neuen Gesichtern, zu vielen Zigaretten, der Kälte draussen und der Wärme der Menschen und auf der Tanzfläche – das WGT Gefühl, dass ich vermisst hatte – zu Hause. „The beat and the pulse, laughing like a fool, playing for the heart and the soul, and the soul“. Morgens um sieben stolpern wir mit schweren Beinen und leichten Herzen aus der Veranstaltungsstätte ins Taxi. Mit zum Pogo-Festival schaffe ich es nicht mehr, dafür morgens um elf reichlich angematscht aus dem Zelt, als die Sonne das Klima in diesem zu sehr aufheizte.
Sonntag – Der Schminkpinsel hat die Schnauze voll!
Sonntag hänge ich übermüdet und etwas neben der Spur auf dem Zeltplatz und kämpfe mit dem Kajal meiner Mitcamperinnen – mein Schminkpinsel schien die Schnauze nämlich voll und sich verdrückt zu haben. Gefühlte drei Stunden später, am frühen Abend bereits – nachdem ich endlich einigermaßen schwarz und bleich ins Gesicht gebracht habe und einen neuen Schminkpinsel mein eigen nennen konnte (es lebe die Shopping Meile im Leipziger Hauptbahnhof!) erreiche ich relativ abgekämpft mit Mitcamper Mark die Moritzbastei und mit dieser Nancy, Thomas und Matthias und beklage die fehlende Möglichkeit mich klonen zu können und mein schlechtes Gewissen, da wir bedingt durch unterschiedlich musikalische Vorlieben am Ende doch immer auf unterschiedlichen
Veranstaltungen laden und vielfach nur das Frühstück teilen, weil ich dieses Jahr viel zu verbammelt bin um irgendwie mal zu einer Nachmittagsveranstaltung aufzubrechen (wirklich – seit Jahren möchte unbedingt mal eine Friedhofsführung mitmachen, klappt nie). Darum beschliesse ich mit Nancy und Mark zu Beborn Beton aufzubrechen, die mir überhaupt nichts sagen, aber live tatsächlich ganz angenehm tanzbar sind und dann von dort aus zu Tempers in den Volkspalast zu fahren. Bei diesem Unterfangen zeigt sich mal wieder, dass die Haltestellenangaben auf dem WGT Plan völlig daneben sind. In meiner Schusseligkeit fahre ich erst mal nicht Richtung Volkspalast, sondern Richtung Stadt und verbringe dann viel Zeit mit dem Warten auf die nächste Bahn (und belausche dabei zwei junge Studentinnen, wie sie über das Festival das da grad ist reden und muss mir mehr als ein Mal echt auf die Zunge beissen) und der Suche nach dem richtigen Weg von der Haltestelle zur Alten Messe, nur um dann festzustellen, dass gleich zu Fuß zu gehen viel günstiger gewesen wäre.
Montag – Ist es wirklich bald vorbei?
Aber Tempers machen das alles wieder wett. Großartig, bewegend, düsterleicht und weich. Ohne Worte einfach nur. Leider bewegen sich die Temperaturen in der Veranstaltungsstätte deutlich über meiner Komfortzone, weshalb ich bald die Flucht nach draussen ergreifen muss, was mir jedoch zumindest ein Pläuschchen mit Freunden und Bekannten beschert. Der Abend endet wiederholt im Täubchenthal und für mich dann verhältnismäßig früh um halb vier im Zelt – schon wieder kein Pogo Festival – aber man ist halt keine achtzehn mehr und am Montag beglückwünsche ich mich ein bisschen zu meiner Entscheidung, noch müder wäre ich unerträglich für meine Umwelt geworden und schon so zeige ich mich mein Spontis-Treffen relativ unkommunikativ und etwas neben der Spur – ganz abgesehen davon, dass mich so viele neue Menschen immer etwas überfordern. Nichtsdestotrotz war es schön, die vielen Gesichter der Spontis-Leser und Schreiber kennen zu lernen und die ganz besondere Atmosphäre des Treffens zu genießen.
Später liege ich im Zelt, lausche dem ruhigen Klopfen der Regentropfen, dämmere vor mich hin und fühle mich warm und geborgen. Ist es wirklich bald vorbei? (Und ganz hinten irgendwo, Goth sei dank ist es bald vorbei, ich brauche Schlaf und eine heiße (!) Dusche). Die anvisierten Konzerte habe ich natürlich mal wieder erfolgreich verpasst, dafür mit meinem Mitcampern geplauscht, getrunken, gelacht und noch mal die andere Nancy und den anderen Matthias ins Thäubchenthal begleitet – für ein paar wenige Stunden, denn mein Körper gibt auf und ich ihm nach.
Am Dienstagmorgen bin ich wehmütig und von Abschiedsschmerz geplagt und zugleich in großer Vorfreude auf mein Bett, in dem ich mich in die Post-WGT-Leere und die schönen Erinnerungen fallen lassen. Bis nächstes Jahr, schöne dunkle Welt.
Anmerkung zu deinen verpassten Konzerten:
Kirlian Camera am Freitag war zwar unterm Strich ein gutes Konzi, der Konzertsaal aber fürchterlich überfüllt. Wirkliche Stimmung konnte daher nicht so recht aufkommen. Da war es am Samstagabend im Kohlrabizirkus doch schon wesentlich angenehmer, wenigstens ein etwas menschenleererer Randbereich und Platz zum Tanzen – denn davon brauche ich reichlich. Den Auftritt von Fields of the Nephilim fand ich persönlich nicht so dolle, aber darüber lässt sich sicherlich streiten und mir fehlen auch die Vergleichsmöglichkeiten, da es mein erstes Fields-Konzert war.
Irgendwie hatte ich dieses Jahr auch das Gefühl, dass Leipzig weniger dunkel und weniger heimisch war, aber mein erstes Spontis-Treffen hat geholfen diese negativen Gedanken wenigstens am Montag zu vertreiben: D
Danke für die ganzen schönen Erinnerungen :)
Ich frage mich woher „die gefühlt gesunkene Besucherzahl“ kommt, denn das Gefühl scheint universell verbreitet zu sein, trotz (laut Veranstalter) seit Jahren relativ konstanter Besucherzahlen. Meine Theorie ist, dass die verbesserte Organisation (auch seitens der Stadt mit zusätzlichen Bussen und Bahnen etc) dafür verantworlich ist… oder täusche ich mich?
Ich hatte eher das Gefühl, dass es voll von schwarzen Gestalten war und ganz und gar kein unheimisches Gefühl. Irgendwie interessant wie subjektiv so etwas sein kann.
Jedenfalls war es wieder wunderbar euch zu sehen und all die anderen lieben Spontis und Leute in ihrer Umgebung. Gute Musik und tolle Menschen.. Was will man mehr?
Welches KC War denn welches? Soll je ein mit alten und eins mit neueren Stücken gegeben haben. Habe mir aber sowohl bei KC und FOTN schon sagen lassen, dass die Konzerte nicht soooo berauschend waren…Wenn ich das alles noch mal so Revue passieren lasse, tut es mir auch nur bedingt leid, dass ich so viele Konzerte „verpasst“ habe. Es war eben im wahrsten Sinne des Wortes ein Treffen für mich und auch sehr schön, so viel Zeit mit so vielen lieben Menschen zu verbringen.
Das mit der gefühlt gesunkenen Besucherzahl, ja, an deiner Theorie könnte was dran sein, meine Gedanken dahingehend waren eher gewesen, dass es sich eben einfach mehr verteilt, weil vielen Leuten der Besuch auf der AGRA nicht mehr so wichtig ist und das Angebot ihnen nicht so zu sagt und man sich dann eher in anderen Stätten einfindet oder anderen Aktivitäten nachgeht. Aber auch nur eine Idee.
Wird wohl auch viel mit dem persönlichem Empfinden zusammenhängen und eben eine subjektive Sichtweise sein. Für mich war dieses WGT aus verschiedenen Gründen irgendwie anders als die zu vor und es hat durch einige dieser Umstände bei mir sicher länger gedauert bis ich „angekommen“ bin. Kathi scheint es ja bspw. anders erlebt zu haben :)
Freitag im Volkspalast kamen die alten Lieder, bis 1996, wenn ich mich recht entsinne. Sonntag im Kohlrabizirkus dann die neueren bis heute. Dort war ich aber nicht.
Fields am Samstag fand ich eher enttäuschend, auch wenn ich nicht genau sagen kann, woran es lag. Highlight dieses Abends waren für mich definitiv Moonspell, die vor FotN ihren Auftritt hatten.
Ja schon merkwürdig mann frägt sich, jedes Jahr ob es wenniger Besucher werden.
Aber nach jetzt 12 Wgt bin ich sicher das der Veranstalter da wohl die Wahrheit sagt fühlt sich konstant an
aber, der Cyber bereich hat abgenommen das ist mir aufgefallen.