Wer sich in den späten 70ern und den 80er Jahren einer Subkultur anschließen wollte, fand hier und da einen Artikel in einer Zeitschrift, möglicherweise auch mal eine entlegene Fernsehsendung, aber hauptsächlich fand man Berührungspunkte in der lokalen Clubkultur. Hier wurde auch das musikalische Leben geprägt, denn nur hier hörte man den neuesten Sound aus der Szene, der bei den meisten Radio-Sendern überhaupt nicht gespielt wurde. WDR2 beschäftigt sich aktuell mit den „Club-Legenden im Westen“ und widmet den Ikonen der musikalischen Tempel kurze Beiträge, spricht mit ehemaligen Betreibern und Besuchern und versucht einzufangen, welche Faszination von Orten wie dem PC69 in Bielefeld, dem FZW in Dortmund, dem Rose Club in Köln oder auch dem Zwischenfall in Bochum ausging.
Warum spricht eigentlich jeder von Legenden?
Nun die Antwort darauf ist ziemlich simpel und der damaligen Zeit geschuldet. Stammgast im PC69 Heike dazu: „Ins PC zu fahren war immer etwas ganz besonderes, weil das PC erstmal viel größer war als alle Läden, die wir bei uns auf dem Lande hatten und es war immer total aufregend. Es war quasi in der großen Stadt, es gab Ampeln und Straßennamen – wir hatten damals bei uns auf dem Dorf noch nicht mal Straßennamen, es gab immer nur das Dorf und die Hausnummer – und im PC waren immer alle Bands, die man geliebt hat. Ich habe Anne Clark gesehen, Phillip Boa, Alien Sex Fiend […] Das PC war was ganz besonderes.“ Eine ganze Woche fieberte man dem Wochenende entgegen, plante Mitfahrgelegenheiten, Outfits und die dazu passenden Accessoires – und anstatt sich dann auch irgendeinem sozialen Netzwerk mit Selfies zu bombardieren, bewunderte man sich am frühen Samstag Nachmittag oder Abend, bevor man gemeinsam die Fahrt in die teilweise 100km entfernten Tanztempel wagte.
Hier fand dann auch die Sozialisierung mit seinesgleichen statt. Staunen und bestaunt werden, neue Bekanntschaften schließen und Brieffreundschaften gründen (zum späteren Austausch von aufgenommenen Kassetten) und sich in seiner Subkultur treiben lassen. Läden wie das Zwischenfall in Bochum konzentrierten sich schon früh auf ein besonderes Publikum, wie Klaus Märkert WDR2 erklärt:
„Das besondere war, das wir einen Laden gemacht haben für die Waver und Gruftis, die sonst keiner haben wollte zu der Zeit. Das war natürlich in NRW einzigartig und da kamen die Leute sogar aus Holland bei uns in die Disco gefahren […] Die hatten die Haare hochtoupiert und schwarze Sachen, Kreuze umgehangen – eben diese typischen Grufti-Klischees erfüllten die. Was für mich nicht gefährlich aussah, aber für jemanden, der das vielleicht noch nie gesehen hatte und aus ganz andere Ecken kam, war das schon gewöhnungsbedürftig. Wir hatten mal einen Gläsereinsammler zur Aushilfe, der ist nicht wieder gekommen, weil er sich gefürchtet hat vor den Leuten. Wirklich!“
Die meisten dieser Tempel sind bereits geschlossen und hinterlassen Geschichte und Geschichten, prägten die Subkultur und waren mitverantwortlich für so manche gefühlte Identität der Spät-Vierziger, die in Erinnerungen schwelgen von einer Zeit, in der nicht alles besser, sondern irgendwie wertiger war.
Auf der Internetseite des WDR könnt konntet ihr Euch alle Folgen anhören und einige spannende Bilder dazu sehen, in der folgende Liste habe ich nochmal alle Beiträge zum direkten Download zusammengestellt, die Serie wird auch noch in den nächsten Tagen fortgesetzt, reinschauen lohnt sich also.
Passend zum Advent werden wir unserem Anspruch an die Andersartigkeit gerecht und schwimmen gegen den Strom von Geschichten, die uns mit ihren beschriebenen Schneelandschaften, den üppig gedeckten Gabentischen und aus den Zeilen tropfender Fröhlichkeit in die diktierte Weihnachtsstimmung ziehen wollen. Mirjam, die schon lange aus ihrem Schneckenhaus lauernd diesen Blog beobachtet, hat die Geschichte eines Sommerwochenendes geschrieben, um sie mit den Leser zu teilen. Oder besser gesagt, um etwas auszugleichen, wie sie schreibt: „Das Schräge an einem solchen Blog ist, dass ich als Außenstehender, der nur liest, ohne sich selbst mitzuteilen, die Schreibenden zunehmend kennen lerne – zumindest die Facetten ihrer selbst, die sie darin vorstellen – ganz ohne von mir etwas preiszugeben. Einigen von Euch fühle ich mich inzwischen richtiggehend vertraut, während ihr nicht einmal von meiner Existenz wisst. Wie gesagt: Schräg. Unausgeglichen, einseitig, und für mich fühlt es sich parasitär an.“
Herausgekommen ist die 4-teilige Geschichte eines Wochenendes im Sommer, die uns auf eine bizarre Art und Weise durch ihre oberflächliche Erscheinung täuscht, um uns dann – wenn wir es dann wollen – auf eine Reise in Mirjams Gedankenwelt entführt. Die entblößt sie nicht nur als düster-melancholischen Grufti, sondern auch noch als exzellente Beobachterin ihrer Umwelt, der sie im Grunde eigentlich lieber aus dem Weg gehen möchte. Das spiegelt sich auch in ihren Bildern, die nur als Inspiration dienen sollten, aber passender nicht hätten sein können.
Kein Sommermärchen für Mirjam (Teil 1)
Ich hatte eine dieser versoffenen Phasen zu fassen, was hieß, dass ich schon seit Wochen nichts anderes tat, als mich nach der Arbeit gezielt zu betrinken. Nicht dramatisch, aber zuverlässig soweit, dass Herumsitzen und Nichtstun als Beschäftigung völlig ausreichend erschienen. Alles, was mir einfiel, was ich mehr oder weniger dringend hätte tun können, konnte ich ebenso gut bleiben lassen, und wann immer ich mich dazu entschieden hatte, war ich außerordentlich erleichtert gewesen.
Parallel dazu hatten sich jeweils Stimmen der Mahnung gemeldet. Ewige Besserwisser in Sachen Gesundheit und irgendeinem Anspruch an ein tätiges Dasein. Ich meine: von außen betrachtet ist es doch völlig in Ordnung, wenn jemand nur die Dinge tut, die für ein reibungsloses Existieren notwendig sind. Und trotzdem nagte es in mir. Irgendein Schweinehund wollte mich nicht in Ruhe gammeln, driften & hängen lassen, sondern stieß in das Horn des Selbstanspruchs. Dummerweise war er entweder ahnungslos, perfide, oder verfolgte einen pädagogischen Ansatz, denn um was es ging und was zum Gilb ich tun sollte, hatte er mir bisher nicht verraten. Natürlich hätte ich dagegen antrinken können, den Mäkelbüdel ersäufen. Aber das hätte nicht gepasst, hätte das Gleichgewicht gestört. Eine feine Balance, die diese Situation schon die ganze Zeit über in der Schwebe hielt und auf etwas zu warten schien. Oder mich in der Warteschleife hielt. Schwebend. Oder was weiß ich. Auf alle Fälle hatte ich in den Kalender geschaut und festgestellt, dass es mir zu lange dauerte. Letzte Woche schon.
Ebenso natürlich hätte ich etwas anderes tun können. Als trinken, meine ich. Etwas Nützliches, oder Gesundes womöglich, zu dem ich mich gezwungen hätte, um mir dann sowohl zum Akt der Selbstüberwindung, wie auch zu dem ach so nützlichen Ergebnis gratulieren zu können. Ich gratuliere. Nee, das war es auch nicht. So oft, wie ich das schon gemacht habe. Da kommt eben immer nur was Nützliches bei raus. Gejätete Beete, oder irgendein gebautes, geflicktes oder gepflegtes Irgendwas. Nichts, worauf ich derzeit Wert legte. Irgendeine Frage gab es, auf die ich gerade nicht kam. Was die Sache mit der Antwort deutlich verkomplizierte. Ich fühlte mich verarscht. Von meiner eigenen Ideenlosigkeit ausgesetzt am Strand der Insel Ratlos. Ohne Wasser.
Am Samstag beschloss ich Sif zu besuchen und stopfte einen Arm voll Klamotten in meinen Büdel . Über ein halbes Jahr war es mittlerweile her, dass ich zuletzt bei ihm gewesen war, und was ich dort noch in meiner Truhe liegen hatte, war mir mehr als unklar. Die Fahrt mit Bus und Bahn nach Hamburg zog sich hin und der Blick aus dem Zugfenster verriet, wie weit das Jahr schon vorangeschritten war. Gerste, die gut mal hätte gedroschen werden können, wenn es nicht schon wieder geregnet hätte. Hoffentlich würde ich an meinen Schirm denken, statt ihn im Zug stehen zu lassen.
Die dämlichste Variante wäre, wenn Sif nicht im Hause wäre. Aber daran glaubte ich nicht – dazu fühlte sich die Unternehmung zu glatt an. Er würde schon auftauchen. Früher oder später. Als ich die Treppe hinaufstapfte war klar, dass ich nicht würde klingeln müssen. Leere. An der Wohnungstür angekommen blieb ich stehen, um dieser Leere nachzuspüren. Warm und still fühlte sie sich an. Willkommenheißend und ein wenig erwartungsvoll. Mich erwartend, stellte ich fest. Zu meiner Verwunderung. Einzelne Geräusche in den Wohnungen blieben fern und zusammenhanglos, wenn sie denn zu hören waren. Ich würde bleiben, bis er wiederkam. Aber nicht hier, im Treppenhaus, wo, so unwahrscheinlich es war, mir jemand begegnen könnte, sondern oben. Ich stieg die letzte Treppenwendel hinauf zum Dachboden.
Die Süße staubtrocknen Holzes empfing mich, als ich die, wie immer unverschlossene, Tür zu den Bodenkammern auf der Straßenseite öffnete. Der Dachboden war Niemandsland. Obwohl zu jeder Wohnung ab dem zweiten Stock eine Dachkammer gehörte, der 1.Stock und Hochparterre hatten stattdessen Kellerräume, nutzte ihn, soweit ich mitbekommen hatte, keiner. Zumindest war ich hier oben noch nie jemandem über den Weg gelaufen und der Trockenboden, auf dem ich immerhin schon mal Bettwäsche hatte hängen sehen, lag auf der Hofseite. Hier aber hatte ich die Rückzugsmöglichkeit, die ich benötigte. Für das, was anstand, wovon ich zwar noch nicht wusste, was es sein würde, was mich aber bereits mit einer feierlichen Vorfreude zu erfüllen begann. Ich lächelte. Gut, dass Sif unterwegs war.
Ich wandte mich nach links. Dort gab es eine Kammer, die zu keiner Wohnung gehörte. Sie umgab den vorderen Schornstein, dessen obere Reinigungsluken von hier aus zu erreichen waren. Im Zuge der halbherzigen ‚Generalsanierung‘ des Gebäudes, die immerhin zum Einbau einer Zentralheizung geführt hatte, war dieser Schornstein dichtgesetzt worden und ich hatte die Tür zu seinem Wartungsraum mit einem kleinen roten Vorhängeschloss versehen, das ich in der Sandkiste des Spielplatzes am Kanal gefunden hatte. Rostig und aus dünnem Blech, von dem der Lack bereits großflächig abgeplatzt war, erfüllte es seinen Zweck, ganz ohne dass ich einen Schlüssel dazu besaß. Sobald ich es vor den Türverschluss hängte und zudrückte, sah es höchst amtlich und verschlossen aus. Und das war es, was ich brauchte. Einen Ort der Zuflucht, Insel der Privatheit, wenn Sif nicht im Hause war, denn wann anders, als wenn ich Zuflucht benötigte, kam ich schon her?
Ich hakte es los und trat ein. Das Schloss noch in der Hand, zog ich die Tür hinter mir zu und ließ alle Erwartungen, die ich an diesen Tag und die Fahrt hierher gehabt hatte, fallen. Leer und absichtslos sog ich den Geruch alten Kalkmörtels und den des teerigen Schornsteins ein und alles war gut. Ich lehnte ich den Schirm in eine Ecke und legte meine Sachen auf das Kohlenschapp, das irgendein Vorratsfanatiker hier seinerzeit zusätzlich eingebaut und eingedenk der Tatsache, dass es sich um einen öffentlichen Raum handelte, mit einem stabilen Klappdeckel versehen hatte. Ich kletterte hinauf, wickelte mich in meinen Umhang und zog die Beine unter mir zum Schneidersitz zusammen. So saß ich, mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt, und meine Hände spielten mit dem Vorhängeschloss. Sie klappten es auf und zu, drehten und wendeten sich an und mit ihm und gerieten dabei in Vergessenheit.
Den Nacken hinab fühle ich meine Haare wallen, schleppen und wurzeln. Ruhe steigt aus ihnen auf und ein Gefühl wacher Bereitschaft erfüllt mich. Ich werde mir meines Brustraums, nein, meines Herzens bewusst, das sich in gleißender Helle mehr und mehr weitet. Und dann fühle ich, wie sie, die Haare entlang, beginnen aufzusteigen. Menschen. Wie Saft in Wurzeln, Matrosen in Wanten, Gestirne am Himmel. Stetig, sicher, unabdingbar. Einfach, weil es an der Zeit ist, und ich beginne zu weinen. Atemlos, in extatischer Freude und Erleichterung, gepaart mit der ungläubigen Erkenntnis, wie viele es sind, die mich erwählt haben. Schluchzend bemühe ich mich, so tief und gleichmäßig zu atmen, wie eben möglich, meinen Job als Himmelsleiter wenigstens ordentlich zu machen, wenn ich mich schon nicht daran erinnern kann, wann und wem ich zugesagt hatte, ihn zu übernehmen.
Ja. Hier und jetzt bin ich für euch da.
Mit dieser Entscheidung wird es leichter. Das Schluchzen verebbt und ich atme ohne Anstrengung, während die Tränen weiter fließen. Manche klettern bis zum Nacken hinauf und lassen sich von dort aus, die Füße voran in meinen Herzraum gleiten, andere kriechen, sobald sie die Höhe meiner Schulterblätter erreicht haben mit dem Kopf voraus hinein, als hätten sie Angst, das Tor könne sich wieder schließen. Sobald sie dort angekommen sind, verwirbeln sie im Licht und ich spüre, mit welchen Bürden sie kommen und mit welchen Absichten sie gehen. Ein Strom der Menschlichkeit, dem ich als Mensch mitfühlen kann und der dennoch unpersönlich bleibt.
Dann kommt einer, der in meinem Herzraum verweilt. Schweigend und abwartend zwar, doch auf eine fordernde Art, als verböte ihm nur die Etikette, auszusprechen wonach er verlangt. Nach einer Weile der Ereignislosigkeit nähere ich mich ihm, in der Absicht herauszufinden, was er will oder braucht. Und dann musste ich eingeschlafen sein.
Mit dem unzufriedenen Gefühl, gerade etwas verpasst oder verbockt zu haben, wachte ich mehrere Stunden später wieder auf. Mein Nacken schmerzte und es dauerte eine Weile, bis ich vorsichtig, langsam und umständlich alle Gliedmaßen wieder in Betrieb genommen hatte. Ein leidiger Prozess. Dieser Körper fühlte sich an wie Bruchgestein – ein Haufen harter schwerer Brocken, eckig ineinander verkeilt und mit zähem, heißem Schmerz verklebt, den es zu überwinden galt, um das ganze wieder in Bewegung zu bringen. Wahrscheinlich hatte ich viehischen Durst, ohne es zu merken. Als ich aufrecht stand, konnte ich gähnen.
Dem schwachen Licht nach, das durch das staubdunkle Glas der Ausstiegsluke drang, musste es spät abends sein. Ich wollte es genauer wissen und kramte nach meinem Telefon. 22:35 leuchtete es mir entgegen. Samstag. Dann würde ich auf Sif nicht zu rechnen brauchen. 6h Schichtende plus Fahrzeit. Aber eben auch Samstagabend in Hamburg. Ich gähnte erneut und stopfte das Telefon zurück in den Büdel. Das mit dem Durst war bestimmt nicht nur eine Theorie, aber jetzt nur bis zur nächsten Tanke zu latschen etwas zu trinken zu kaufen und mich dann wieder herzusetzen, um dort weiterzumachen, wo ich eingeschlafen war, hatte ich keine Lust. Oder ich wollte mich davor drücken. Wahrscheinlich war es Drückebergerei. Ich wollte trotzdem nicht und fühlte mich gereizt. Außerdem wäre eine Runde Tanzen auch für die Entsteinerung ganz gut. Ausgiebig mahlte ich mit dem Unterkiefer, drehte den Kopf hin und her, dehnte und reckte mich. Also tanzen gehen. Kapuzenjacke und Umschlagtuch würden ausreichen – immerhin sollte das da draußen Sommer sein. Alles andere konnte hier auf mich warten. Sorgfältig drückte ich das rote Schloss zu.
Ich ging zur Bushaltestelle bei der Eisdiele, in deren Fensterdekoration große Spiegel und viele, viele bunte Lämpchen verbaut waren. Dort angekommen, klaubte ich den Kajalstift aus der Bodenfalte meiner Gürteltasche und schwärzte mir Augen und Lippen, bis mein Spiegelbild so düster aussah, wie ich mich fühlte.
Der kleine Club, den ich ansteuerte, war üblicherweise nicht überlaufen und von seiner Musikauswahl schwarz genug, dass ich dort sein kann und tanzen mag. Nicht jedoch heute.
Es begann damit, dass ein hyperaktives Barmädel, das ich dort noch nie gesehen hatte, sofort auf mich einzureden begann. Noch bevor ich ermittelt hatte, was sich hier gerade so schräg anfühlte und ob ich überhaupt bleiben wollte, fragte sie, ob sie meine Jacke in die Garderobe nehmen solle. „Soweit bin ich noch nicht. Aber ´nen Spezi ohne Eis kannst du mir geben.“, beschied ich sie. Noch während ich sprach überlegte ich, was bei dieser Bestellung alles schiefgehen könnte, ob es notwendig sei, ihr Angaben zur Größe des Getränkes zu machen und über die Tatsache, dass ich es gerne mit einem Strohhalm serviert bekäme. Aber ihr Fokus lag ganz woanders. „Ja klar, da sag‘ ich mal dem André Bescheid, wir müssen da aufpassen, dass wir die Kassen getrennt halten, wir haben nämlich ein Konzert heute Abend!“
Sprachs und eilte drei Meter weiter. André hatte mich längst gesehen, nickte und begann das Gewünschte zusammenzugießen. In der richtigen Größe und natürlich mit Strohhalm. „Immer noch 2,50“, grinste er mich beim Abstellen des Glases an, um, als er mit dem Wechselgeld zurückkam zu ergänzen: „Dann bekommst du ja sogar noch was von unserem Konzert mit, heute Abend.“ Ich nickte indifferent. Das war es also.
Das fiese an Synthesizern ist, dass sie immer professionell klingen, egal welcher uninspirierte Dilettant da Knöpfe drückt. Deshalb war es mir nicht gleich aufgefallen. Die Combo war einfach schlecht. Einen durstigen Zug aus meinem Glas nehmend, drehte ich mich zur Tanzfläche um.
Neben dem DJ-Pult war ein Podest als Bühne aufgebaut, auf dem sich das akustische Drama ereignete. Eine Sängerin im kleinen Schwarzen, der die Brust aus dem großzügigen Ausschnitt quoll und deren Ambitionen ihre Fähigkeiten bei weitem überstiegen, wurde dort von einem Tastenmann begleitet. Stücke ohne Stil, Stimmung oder Eigenheit, dargeboten in mieser Technik. Ich trank mit einem weiteren Zug das Glas fast leer – war das eigentlich immer so süß? Ich konnte mich nicht daran erinnern, es war aber nicht dazu angetan, meine Laune zu heben. Dessen ungeachtet bestellte ich einen weiteren Spezi, setzte mich auf meinen üblichen Tresenplatz und ließ meine Sachen in der Garderobe unterbringen.
Der Uhr nach, hätte ich längst ausgelitten haben müssen. Konzerte bis 23h, danach Party.
Sie überzogen und hatten überdies eine Gruppe eifrige Klatscher mitgebracht, die auch noch eine Zugabe forderten und – wie hätte es anders sein sollen – auch bekamen. Weltbühnengehabe mit dem Ausruf: „Hamburg, Ihr wart geil!“ zum Abschluss. Wie die Großen. Naja, auch das würde vorübergehen. Tat es auch, nur, dass es davon nicht besser wurde.
Als nächstes kam ein Typ herein, der sich neben mich an den Tresen setzte und zur Bestätigung seiner Erscheinung lütt un lütt bestellte, wobei er zwar diesen Ausdruck nicht verwendete, den er seiner Aussprache nach wahrscheinlich nicht einmal kannte, es aber schaffte, den zweiten Kurzen nachzuordern, bevor die Tresine es geschafft hatte ihm ein Gespräch aufzudrücken.
Warum, zum Geier, gehen Säufer aus dem Block nicht wie vor 40 Jahren zu Altenraths ins Astra-Eck? Wahrscheinlich, weil diese Art Institution ausgestorben ist. Bis auf die Imitationen davon, die auf dem Kiez der Touribespaßung dienen. Ich drehte mich so weit weg, wie es ging, hielt mich mit der Rechten an meinem Glas fest und sah der Band beim Abbau zu. Umständlich und quälend langsam dödelten Kabelaufroller und Mikrofonständerzusammenleger auf der Tanzfläche herum, als hätten sie vor, den Fortgang des Abends bis mindestens 3h morgens auszuhebeln.
Ich hab schon Leute gesehen, die es schaffen aufzutauchen, so ein Ding zusammenzuklappen und damit binnen 10 Sekunden wieder verschwunden zu sein – von einer großen Bühne wohlgemerkt. Wahrscheinlich war ich nur mäkelig. Nein, stimmte nicht. Ich wollte einfach tanzen. Und dass dieser Laden so schwarz blieb, wie er mal war und meiner Meinung nach gehörte.
In diesem Moment drängte sich direkt vor mir eine Gestalt zwischen die Sitzenden an der Bar, die dringend viele verschiedene Getränke bestellen musste. Schwarzer Anzug und eine trendige Dickrandbrille, ein ältliches Kindergesicht und kleine weiche Hände. Wäre er nicht schon so angetrunken gewesen, hätte die Benimmerziehung von Mama damals, bestimmt gewirkt und er hätte nicht so gerempelt. Aber es war nicht nur Trunkenheit, es war auch Wichtigkeit: er hatte etwas vor und musste es erledigen. Drei Taler, dass es knapp bekleidet und aus Frauenfleisch war. ich machte mir nicht die Mühe, mich zur Lounge umzudrehen, wo sie saßen.
Mittlerweile hatte der DJ begonnen sich durch die Genres zu probieren. Begleitmusik zum Abbau. Die Tür wurde geöffnet und ließ einen Schwall neuer Gäste herein.
Ich sah mich umgeben, von erstens: einem sich interessiert umschauenden Menschen mit grauem Kurzhaarschnitt, Jeans, Turnschuhen und rot-blauem Karohemd, zweitens: dem örtlichen Obdachlosen, dessen Hose, Jackett und Hut einen aufsehenerregenden, aber nichtsdestotrotz unentschieden verlaufenden Speckigkeitswettbewerb untereinander austrugen und drittens: einer Gruppe Typen, die sich offenbar kannten, zuvor schon woanders getrunken haben mussten und sich und ihre Anwesenheit jetzt mit Sprüchen á la: „Alter! Kuck dich um – Wohin hat´s uns denn hier verschlagen? Hö,hö,hö!“ feierten.
Eingedenk der Tatsache, dass bereits ihre erste Runde meinen Gesamtumsatz des Abends toppen würde, hielt ich den Mund und schob André meine Garderobenmarke hin. „Lass uns mal tauschen!“, forderte ich ihn auf. „Das war ja ´n kurzer Besuch!“ „Ja, aber ich fühl´ mich hier gerade völlig fehl am Platze.“ Er warf einen Blick auf die Neuankömmlinge. „Naja“, versuchte er mich zu trösten „dann beim nächsten Mal wieder!“ Wir wechselten noch ein paar Sätze über Termine und sowie ich meine Sachen im Arm hielt, flüchtete ich in den Windfang, wo ich mich anzog und nach draußen verschwand ohne vorher auch nur zur Toilette gegangen zu sein. Das war zwar vielleicht nicht schlau, entsprach aber meiner Gefühlslage…
Ende Teil 1 – Die Fortsetzung erscheint am nächsten Adventssonntag!
Die war doch vorher noch nicht da! Verzweifelt stehe ich vor dem Spiegel und reibe an der Falte neben meinem rechten Auge herum. Genau da, wo einst Lidstrich, Kajal und Lidschatten zu einem perfekten ägyptischen Augen-Makeup zusammenliefen, hatte sich eine tiefe Furche gebildet. Oder war die schon immer da? An diesem frühen Morgen kommt sie mir besonders ausgeprägt vor. Entsetzt wende ich mich ab, schlurfe in die Küche und drehe auf halbem Weg die Heizung höher. Während ich die Müdigkeit mit einer Tasse Kaffee vor dem Rechner vertreibe, stolpere ich wieder und wieder über diese demütigenden Instagram-Alben junger Nachwuchs-Gruftis, die mir mit ihrer perfekten Haut, ihrer Androgynität und einem unfassbaren Talent für Selfies die Laune verderben. Es ist nicht so, als würde ich mit meinem Alter nicht klarkommen, im Gegenteil – ich schätze den inneren Frieden, der sich eingestellt hat, die Ausgeglichenheit, die man sich geschaffen hat und die Erfahrung, die in mir steckt. Aber das sind innere Werte. Beliebte Werte für jeden, der irgendwas an sich herumzumeckern hat und über den äußerlichen Verfall hinwegtäuschen will.
Manchmal frage ich mich, ob wir dem Nachwuchs die „Jugendkultur“ versauen, weil wir uns beharrlich weigern, diese zu verlassen. Und mit spätestens 30, seien wir ehrlich, ist unsere Jugendlichkeit doch endgültig vorbei. Und nicht nur Jilian Venters von der Gothic Charm School sieht sich desöfteren mit der Frage konfrontiert, ob man mit 30, 40 oder sogar 50 Jahren nicht zu alt ist, um wie ein waschechter Grufti herumzulaufen.
Die lauschende Menge vor den Bildschirm beginnt zu raunen. Überall wird getuschelt und es dauert nur Sekunden bis sich die Empörung aus den Hälsen der Anwesenden Gehör verschafft.
Sie haben ja recht, liebe Leser. Natürlich hat jeder das Recht, so herumzulaufen, wie er möchte. Und selbstverständlich darf man jede Jugendkultur auch in eine Erwachsenenkultur verwandeln. Wenn man denn kann, die Kraft besitzt, den Dickkopf durchsetzt und den immer stärker ziehenden Gummibändern der gesellschaftlichen Norm widersteht. Denn leicht macht man es uns nicht.
Das beginnt schon mit dem inneren Druck, der innerhalb der Szene zu herrschen scheint. Manchmal ist es so wie in einem Zugwaggon, den man zu Beginn der Reise noch für sich allein hatte und der sich mit jeder Station mit Gestalten füllt, mit denen man eigentlich nicht gemeinsam fahren möchte. Wer sich einst an Vorbildern wie Robert Smith oder Siouxsie Sioux orientierte, begegnet heute Spielarten der Szene, die jede seriöse Schwarzwurzel ignorieren. Cyber, Health-Goths, Shopping-Gruftis, Fetisch-Gruftis und Zuckerguss-Gruftis, die neuerdings mit Pastellfarben die Netzhaut reizen. Wen zum Teufel haben die als Vorbild genommen? Und wenn dann doch ein klassischer Grufti mit Joy Division T-Shirt einsteigt, kann man sich sicher sein, neben dem auszusehen wie ein schrumpeliger Apfel, der zwar immer noch schmeckt, aber nur noch im Notfall aus dem Regal genommen wird, um Neugierigen zu erklären, wie ein leckerer Apfel auszusehen hat.
Als wäre das noch nicht genug, zieht und zerrt man von außen ganz gewaltig an unserer Identität, die wir uns fein säuberlich zusammengebaut haben. Abstriche und Anpassungen soweit das Auge reicht. Für den Arbeitsplatz, an dem keine Piercings erlaubt sind, für die Elternabende der eigenen Kinder, bei dem Netzstrümpfe und Springerstiefel kontraproduktiv sind, oder für das Vorstellungsgespräch beim neuen Arbeitgeber, den man von seiner äußeren Erscheinung auf die innere Werte lenken will, indem man bunte Farbe in die Garderobe mischt, um nicht aufzufallen. Es gibt zwei Dinge, die alternde Gruftis beschäftigen. Wie viel Subkultur kann ich in meinen Alltag integrieren und warum finden die Leute, dass ich mich weigere, erwachsen zu werden?
Wieviel Gothic verträgt der Alltag?
2011 erforschte die London School of Economis and Political Science genau dieses Phänomen und fand heraus, dass viele Gothics, die in den Dreißigern, Vierzigern und Fünfzigern waren, mit ihrer „personal authenticity“ haderten. Sie wussten nicht, wie viel sie von ihrer Identität in den Alltag mischen konnten, ohne sich in ein Rampenlicht zu stellen, in das sie nicht mehr wollten. Denn trotz einer inneren und schwarzen Identität, hatten sich die Prioritäten verschoben, die Rebellion war einem Streben nach innerem Frieden gewichen. Die Wichtigkeit der Arbeit und die vom Freundschaften und Beziehungen sorgten für eine äußerliche Anpassung.
In der Fallstudie ging das oft mit der Entwicklung einer etwas reduzierten Intensität und „komfortableren“ Beteiligung an der Szene einher, die Arbeit, langfristige Freundschaften und Kinder stärker betonte und die physischen Veränderungen des Körpers berücksichtigte. Dennoch nahmen viele weiterhin und regelmäßig teil, die meisten behielten ein unverwechselbares Erscheinungsbild bei und eine Minderheit schaffte dies ohne eine wesentliche Reduzierung der Intensität. Die Studie zeigt auch, wie der Prozess des Alterns ungleich sein kann, wobei viele Gothics auch von Schwankungen in ihrer Teilnahme berichten, die normalerweise in Verbindung mit anderen Ereignissen in ihrem Leben stehen.
Wenn wir uns nun äußerlich anpassen, um unseren neuen Prioritäten im Leben gerecht zu werden, wäre es dann nicht Zeit, die Jugendkultur zu verlassen? Hat sich dann nicht der Effekt jugendlicher Antihaltung gegenüber der Gesellschaft verbraucht? Wenn wir weniger darauf aus sind, auszugehen, zu sehen und gesehen zu werden, macht es dann überhaupt noch Sinn, eine üppige schwarze Garderobe zu pflegen?
Werdet doch endlich erwachsen!
Uns wird häufig vorgeworfen, uns an die eigene Jugend zu klammern, unserem Gefühl von Freiheit, Verantwortungslosigkeit und der gefühlten Energie die Welt zu verändern, nachzutrauern, indem wir immer noch versuchen, uns in das Gefüge der Szene zu pressen, immer mehr Schminke für immer mehr Falten verwenden und ständig lamentieren, wie schrecklich alles geworden ist und wie schön früher alles gewesen ist.
Nichts davon ist richtig. Wir sind bereits erwachsen. Unsere Jugend und das Leben in der Jugendkultur haben uns geformt, hatten Einfluss auf Perspektiven und Ästhetik, auf Weltanschauung und selbst auf das Körpergefühl. Unsere Identität basiert zu einem gewichtigen Teil auf eben dieser Jugendkultur und genau deshalb kann man auch nicht „herauswachsen“. Die daraus entwickelten Interessen und Leidenschaften sorgen auch heute noch für ein unverwechselbares Gemeinschaftsgefühl und gerade die Beschäftigung mit dem, was in der Szene passiert, was sich verändert und wie sie sich erweitert, hält uns darin fest. Denn es ist uns nicht gleichgültig, mit wem wir unser Lebensgefühl teilen. Ein weiterer Blick in die Studie zeigt das gleiche Ergebnis:
Schließlich habe sich gezeigt, wie unter bestimmten Umständen das Altern als Mitglied einer Musik- und Stilgemeinschaft ein kollektiver Prozess sein kann. Denn, obwohl die Identität von Gothics in gewisser Hinsicht privatisiert oder personifiziert wurde, als die Menschen älter wurden, schien es für viele langjährige Teilnehmer teilweise eine wichtige Erfahrung zu sein, als Teil einer subkulturellen Gemeinschaft aufzuwachsen. In diesem Zusammenhang hatte sich das Gefühl und die Orientierung der Gemeinschaft selbst entwickelt und verändert. […] Weit davon entfernt, in einer Subkultur, die von der Jugend beherrscht wird, isoliert zu sein oder sich auf einen verzweifelten Versuch zu konzentrieren, ihre eigene Jugend zu behalten, fanden sich diese Teilnehmer immer noch an eine Gemeinschaft gebunden, die mit ihnen gemeinsam alterte.
Niemand von uns ist zu alt, die Zugehörigkeit zur Szene und seine eigene Identität auszuleben. Dass wir das den körperlichen Gegebenheiten anpassen sollten, sollte uns klar sein. Wenn wir uns mit Korsagen, übermäßigen Gebrauch von Make-up, Latex und Haarteilen in jugendliche Sterotypen quetschen wollen, wirkt es einfach aufgesetzt. Genau so, als würden wir es nicht schaffen, unsere Jugend als Teil der Vergangenheit zu akzeptieren. Sehen wir uns doch als Pioniere. Subkulturelle Entwickler, Entdecker und Chronisten, die die Szene bewahren und in jedes neues Jahrzehnt überführen. Wir entwickeln Stile, die 50-jährige noch wie schwarz veredelte Vampirfürste wirken lassen, wie Könige der Nacht und Königinnen der Dunkelheit.
Sabrina und Jonas – Geschmacklich auf der gleichen Wellenlänge
Wir sollen erwachsen werden? Sollen die anderen sich doch mal eine eigene Identität zulegen, anstatt sich in Aussehen, Verhalten und Interessen dem Zeitgeist anzupassen. Wir passen uns aus Höflichkeit an, aus Funktionalität und aus existenziellen Gründen – aber zu leugnen wer wir sind, ist nicht der richtige Weg. Deshalb laufen wir auch in unserer Freizeit rum, wie wir uns fühlen. Wir sind die Grufti-Gruftis. Das sind die, die nach dem Duden BEIDE Definitionen des Wortes erfüllen. Wer ist hier nun true, ihr makellosen, glatthäutigen Vorzeigeäpfel? :-)
Schicksal ist der Ablauf von Ereignissen im Leben des Menschen, die als von göttlichen Mächten vorherbestimmt oder von Zufällen bewirkt empfunden werden, mithin also der Entscheidungsfreiheit des Menschen entzogen sind.
In den letzten Tagen und Wochen hätte ich zu gerne einige Dinge auf das Schicksal geschoben, dieser imaginären Macht, die unser Leben mit den Fäden, an denen wir gefühlt baumeln, steuert, beeinflusst und vom erwünschten Pfad ablenkt. Wäre da nicht ihr heimtückischer Gegenspieler, die Vorsehung. Die Vorsehung, die auch unter dem Namen Bauchgefühl ihr Unwesen treibt, lässt einen irgendwie ahnen, dass Dinge so kommen, wie sie kommen. Und so reiben wir uns auf zwischen dem Gefühl „Warum ich? – Warum jetzt?“ und dem klopfen aus der Bauchgegend „Das hätte ich mir denken können!“, das man auch ganz prima dann von anderen noch unter die Nase gerieben bekommt: „Das habe ich dir von Anfang an gesagt!“
Auslöser meines Gefühls des Schicksals, der Vorsehung und dem Resümee „Das hätte ich mir denken können“ war ein Motorschaden, der mich – oder besser gesagt meinen Mini – zum legendären Doppelfeiertag zum Monatswechsel heimsuchte. Ja, liebes Tagebuch, ich weiß. Während andere von Krankheiten getroffen werden, mit dem Tod ringen oder einen Liebsten verlieren komme ich mit meinem Auto. Doch vielleicht lässt genau diese Form des „kleinen“ Schicksals genug Raum für Gedanken. Ich glaube wenn du von Schlimmerem getroffen wirst, hast du nur noch Emotion, keine Gedanken mehr.
Was für ein Stress!
Zu allem Überfluss, liebes Tagebuch, war auch das Leben neben dem fahrbaren Untersatz alles andere als vorhersehbar und durch viele Ereignisse getrübt, was nicht unbedingt dazu beitrug, ein Gefühl von Sicherheit und Ordnung zu verströmen, dass wir uns trotz einer alternativen und punkigen Attitüde doch im Grunde genommen so sehr in unserem Leben wünschen. Es gab so viele neue Situationen auf die man sich einstellen musste, es mussten unzählige Dinge erledigt, besprochen und entschieden werden, dass der Tank mit Lebensenergie dringend nach einer Neubefüllung lechzte. Wenn dann auch noch das Auto kaputt geht und man unzählige notwendige Dinge mit dem Fahrrad erledigen muss und einen ganzen Haufen Kosten vor dem Horizont hat, trägt das nicht unbedingt zu Entspannung bei.
Ärgerlich, so beginnt die Faselei von Schicksal und Vorsehung. Bereits zum WGT habe ich mir gedacht, dass mein Auto verkauft werden müsse, schließlich bereitete es in der Vergangenheit schon einige Kosten, die ich persönlich für reichlich unangemessen hielt. Doch weil wir unseren kleinen Flitzer so gerne mochte, haben wir ihn dann doch behalten und den Termin zum Verkauf immer weiter in die Zukunft geschoben. Vorher wollte ich noch dieses und jenes, diverse Märkte, auf denen Orphi ihre Waren feilbieten wollte, standen auf dem Programm und noch ein Haufen anderer Ausreden, um den nervigen Autoverkauf und den kostspieligen Neukauf auf die lange Bank zu schieben. Als der Wagen vor dem Doppelfeiertag 100.000 km auf der Uhr hatte, ein neuer Anlauf: Jetzt aber! Verkaufen! Aber erst nach dem Urlaub. 272 Kilometer später blieb ich auf der Autobahn mit ruckelndem Motor liegen. Das Gefühl der Vorsehung stellt sich ein: „Das hätte ich mir denken können!“
Ein paar Analysen und Hoffnungen später wurde mir klar, dass ich durch unnötige Warterei mehrer tausend Euro in den Wind geschossen hatte. Motorschaden. Unzählige Fragen durchbohren die kleine heile Welt. Verkaufen? Reparieren? Wovon bezahlen? Wie zur Arbeit kommen? Wie kaufe ich ein? Vor ein Monaten träumte ich noch von meiner Zeit als alter Mann. Ich wollte den Führerschein abgeben, weil das ja alles viel zu stressig mit der Fahrerei ist im Alter. Man könne ja auch alles sonstwie erledigen. Alles kein Problem. Aus der Komfortzone heraus sah es so schön aus, doch wenn du dann tatsächlich in die Situation kommst, 2 Getränkekisten bei strömendem Regen auf dem Fahrrad zu transportieren merkst du deutlich, wie sehr man sich an den Luxus gewöhnt hat. Das Gefühl des Schicksals stellte sich ein: „Warum jetzt? Warum ich?“
Wie heißt eigentlich das Gegenteil von Schicksal?
Ich haben den Kopf nicht in den Sand gesteckt, sagt man. Ich war glücklicherweise stabil genug mich nicht in der Hoffnungslosigkeit zu versenken, sondern arbeitete mit Hochdruck an Lösungen. Ich habe den defekten Wagen sehr zügig verkaufen können und konnte damit einen Teil des neuen Fahrzeuges bezahlen, das Anfang Dezember endlich wieder für Mobilität sorgt. Die meisten An- und Abmeldungen sind erledigt und auch das endlose gelatsche durch herbstlich eisige Städte entpuppt sich mit der richtigen Musik als romantisch. Jedenfalls ein bisschen. Die üblichen Sprüche würden wohl lauten: „Glück im Unglück“ oder auch „Mit einem blauen Auge davon gekommen“ womit wir auch am wahrscheinlichsten Gegenteil von Schicksal angelangt wären, dem Glück – den das erscheint, zumindestens in diesem Fall, wie das Gegenteil. Natürlich, es hätte alles besser laufen können, keine Frage. Ich hoffe, wir lernen aus unseren Fehlern.
Doch ist es alles Glück, Schicksal oder Vorsehung, liebes Tagebuch? Natürlich, Zufälle beeinflussen unsere Leben und gerade wenn es um Krankheit oder den Tod geht, ringen wir um Erklärungen und logische Zusammenhänge. Vermutlich sind ganze Religionen darauf gegründet, den bohrenden Fragen, der Ungewissheit und dem Zufall eine Erklärung zu schenken. In säkularisierten Zeiten spricht man weniger vom „Willen Gottes“ sondern mehr von Dingen wie Schicksal und Vorsehung. Dabei haben wir Vieles, das wir gerne diesen Worten in die Schuhe schieben, selbst in der Hand. Und nein, ein pauschales „Jeder ist seines Schicksal Schmied“ passt einfach nicht. Stimmt ja auch nicht, denn Zufälle bestimmen einen Teil unseres Leben, unserer Biologie und unserer Umwelt. Wir müssen damit leben, umgehen und das beste daraus machen. Klingt jetzt einfach. Ist aber überhaupt nicht. Aber es ist machbar. Behalten wir uns das „große“ Schicksal für die Dinge, die wirklich tragisch sind.
Mir hat die Hilfe meiner Arbeitskollegen, die mich mit zur Arbeit genommen haben, die Hilfe meiner Freunde, die mir ein Auto geliehen haben oder die einfach uns besuchen gekommen sind, weil wir sie nicht besuchen konnten und vor allem die stets aufbauenden Worte und Nähe meiner Ehefrau haben sehr gut getan. Spätweisheiten wie zum Beispiel „Das habe ich Dir vorher gesagt“ oder „Das hätte ich Dir gleich sagen können“ nützen nicht die Bohne. Jeder muss seine Fehler selbst machen. Wir können uns nur dabei helfen, sie nicht ständig zu machen.
Liebes Tagebuch, ich hoffe du bist nicht böse, wenn ich dich ein wenig vernachlässigt habe. Doch ich wollte dich einfach nicht mit Dinge zukleistern, die nun mal sind. Wie doof sich Werkstätten verhalten können, wie bescheuert Autohersteller sind, wie anstrengend es ist sich um Angelegenheit zu kümmern, um die man sich nicht kümmern will und vor allen Dingen, wie kalt es auf dem Fahrrad im Herbst ist. Da habe ich eben ein bisschen gewartet, bis ich zum Beispiel entdeckt wie schön der Herbst sein kann, während ich mit Caya zur Post gelaufen bin, um ein Einschreiben aufzugeben. Zum Glück habe ich ein Foto gemacht. Zur Erinnerung. An die schönen Dinge in den vermeintlich schlechten Zeiten.
Allerheiligen, Reformationstag, Samhain, Halloween oder auch „Eine Woche frei mit 3 Tagen Urlaub“. Es gab in diesem Jahr unzählige Beweggründe, die beiden Feiertage tatsächlich zu feiern oder einfach nur zu nutzen. Rein Marketingtechnisch scheint Halloween ein fester Bestandteil unserer Kultur geworden zu sein, während die beiden ursächlichen Bedeutungen auf Desinteresse stoßen. Macht ja auch Sinn, denn mit Grabkerzen und kleinen Figuren von diesem komischen Luther verdienst du natürlich nicht das große Geld. Stattdessen werden Kürbisse zum Leuchten gebracht, schlechte Horrorfilme ausgeliehen und jeder macht durch Deko aus der Klischeekiste einen auf besonders gruselig. Hier und da werden Süßigkeiten bereitgehalten und in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November hat es wohl an unzähligen Haustüren geklingelt zu haben, um diese einzusacken. Auch vor der Gothic-Szene macht dieser Trend keine Pause der Ehrfurcht, sagt man uns doch nach, dass bei uns jeden Tag Halloween wäre. Und so kam es, dass sich zu diesem 31. Oktober unzählige Gruftis auf unzähligen Gothic-Halloween-Partys besonders gruselig geschminkt und gekleidet hatten, kleine Weingummi-Gehirne, Monster-Muffins oder Sarg-Schokolade gegessen haben und Halloween-Playlisten lauschten. Jetzt frage ich mich: wenn bei uns jeden Tag Halloween ist, ist dann der 31. Oktober unser persönlicher Feiertag? Und: Macht eine gruselige Steigerung unserer Garderobe überhaupt Sinn? Ist Halloween vielleicht der Feiertag, an dem wir die Könige sind und der breiten Masse erlauben unsere Passion zu schnuppern? Weise Wissende helfen mir in den Kommentaren.
Obwohl sich das Stadtbild und seine Menschen heute grundlegend verändert hat, steht London immer noch als Synonym für einen subkulturellen Schmelztiegel, wie die NZZ anhand der Skinheads beschreibt: „Kahlgeschorene Schädel gehören heute ebenso zum Londoner Stadtbild wie gezwirbelte Hipster-Schnäuze und komplett tätowierte Körper. Dem war nicht immer so. Der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich an einen Ausflug in den 1980er Jahren an die Stamford Bridge, das Stadion des FC Chelsea. Nie zuvor war ihm die Vielfalt der menschlichen Schädelform so eindrücklich vor Augen geführt worden. Zu einer Zeit, als blank rasierte Köpfe selten auf offener Strasse zu sehen waren, wirkte eine Ansammlung von Skinheads wahrhaft schockierend. Skinheads galten gemeinhin als homophobe Rassisten und brutale Hooligans.“ Auch heute gehören die Subkulturen der britischen Hauptstadt zu den aktivsten, wenngleich sie sich weniger am Gestern orientieren, sondern neuere Pfade beschreiten und sich Schubladen eindeutig entziehen.
A Day in the Park with Shanghai’s Goth Community | City Weekend
Das es in Shanghai tatsächlich eine lebendige Gothic-Szene gibt, wissen wir spätestens seit Janinas eindrucksvoller Reportage aus der Millionenstadt. Seit die jedoch nach Leipzig gezogen ist, bekomme ich weniger Informationen über die dortige Szene. City Weekend frischt den Blick auf die dortige Szene auf und erzählt von Shanghais kleiner, aber sehr starker Szene: „Shanghai’s subcultures are flourishing. You can see it in the surge of home-grown phenomena like wenqing ren (China’s artsy answer to the Williamsburg hipster) as well as imported identities like cosplay, punk rockers and heavy metalists. It’s a colorful canvas of youths expressing themselves, and if you look hard enough, you’ll even find a few darker brushstrokes. Enter Shanghai’s small but strong Goth community.„
Beinhäuser wurden im 11. und 12. Jahrhundert in Europa populär, als der Platz auf den Friedhöfen mit steigender Einwohnerzahlen knapp wurde. Durch solche Lagerungsstätten für Gebeine macht man auf den Friedhöfen Platz für neue Gräber. Heute wirken solche Beinhäuser wie ein gruseliges Relikt aus einer anderen Zeit. Auf dem schwarzen Planeten gibt es einen neuen Reisebericht zu den heiligen Leibern von Waldsassen, der wieder einen aufregenden Blick auf die Toten gewährt. „Deutschland hat einiges an morbiden Köstlichkeiten und eine ansehnliche Beinhaus-Tradition zu bieten. Während ich in den letzten Jahren meist in die Ferne schweifte, um Schädel und Gebein zu sehen, hat sich Marianne de Morangias aus meiner Heimat, dem Erzgebirge, nach Waldsassen in Ostbayern aufgemacht, das in der Oberpfalz an der tschechischen Grenze liegt. Die Inspiration dafür erhielt sie aus dem Buch „Im Reich der Toten“ von Paul Koudounaris. Die „heiligen Leiber“ in Waldsassen sind Skelette – in Christendeutsch: „Ganzkörper-Reliquien“ – frühchristlicher Märtyrer. Aber sie sind nicht das einzig Sehenswerte im Kloster Waldsassen…„
Wer nochmal die Auftritte seiner dunkelsten Lieblinge des Mera Luna Festivals 2017 Revue passieren lassen möchte, wird immer noch beim NDR fündig. In der dortigen Mediathek sind Auftritte der folgenden Bands zu sehen: And One, Blutengel, Schandmaul, Subway to Sally, Mono Inc., The Crüxshadows, Megaherz, Johnny Deathshadow, Versengold, Schwarzer Engel, Darkhaus, Feuerschwanz, White Lies und Mesh. Die Auftritte von Korn und ASP sind aus lizenzrechtlichen Gründen leider nicht dabei. Tipp: Mit dem kostenlosen Open Source Programm „MediathekView“ habt ihr die Möglichkeit, euch die Videos auf dem heimischen Rechner zu sichern, bevor der NDR sie aufgrund der Depublizierungsvorgaben wieder entfernt.
Goths sind bereits seit über 30 Jahren vor den Bühnen, auf Tanzflächen und Friedhöfen zugegen und erfreuen sich trotz zahlreicher Nachrufe, Todesbekundungen und Sterbeanzeigen bester Gesundheit. VICE schreibt dazu: „Yet their place in alternative culture remains steadfast. There is a timeless quality to the British goth. Seasons change, decades roll by, fashions flare and disappear, yet they remain. Perhaps too anachronistic to ever be „on trend“, they have managed to defy generational logic and persist long after other subcultures have fallen by the wayside: huddled in the furthest reaches of the playground, boot-stomping down high-streets.“ Dazu hat man ein paar Interviews mit der aktuellen Generation Gothics geführt, die deutlich machen, wie die Entwicklungen des Internets zu einem lebensspendenden Medium für die Szene geworden ist. „Kinga, 22 – I feel more part of the community now than a few years ago due to the beauty of the internet and social media. It’s so much easier to connect with people though Instagram, Twitter or Tumblr and even meet some of those people in real life. I get mixed response to how I look. Some find my way of dressing, being and my hobbies really cool and admire that, others don’t get it in slightest. But going through an emo/scene phase when being younger prepared me for that so at this point I couldn’t care less if someone dislikes the style or subculture I am a part off.„
Am letzten Wochenende fand die Herbst-Ausgabe des Whitby Goth Weekend statt, zu dem sich wieder tausende Goths der britischen Insel im recht windigen Whitby versammelten. Neben Bands wie Theatre of Hate, The Membranes, Hands Off Gretel, Pussycats, The Bithday Massacre, Massive Ego oder auch Lupen Tooth fand auch wieder das traditionelle Fußball-Turnier zwischen dem Stokoemotiv Whitby FC und dem Real Gothic FC statt, das wieder für 3 unterschiedliche gemeinnützige Organisationen Geldspenden sammelte. Das Spiel endete übrigens 7:0 für den Real Gothic FC und brachte 912 britische Pfund an Spenden zusammen. Wer mehr über die Live-Auftritte der Bands erfahren möchte, wird auf louderthanwar.com fündig, wo es eine ausführliche Sammlung an Live-Reviews zu lesen gibt. „People have been telling us on Facebook what they love about the weekend. Nicola Turford: „The acceptance of all the diversity.“ Susan Flude: „Seeing everyone enjoying themselves.“ Carol Anne Cavendish: „The sheer genius of some of the costumes. It’s a true art form and I love it.„
Guckt eigentlich einer von Euch die Sendung „Bares für Rares“? Ich weiß nicht warum, aber ich bin ein Fan der Sendung geworden, wenn Menschen ihre Fundstücke, Erbstücke und Antiquitäten den Experten zum Kauf anbieten. Inklusive Expertisen voller Geschichten, Wissen und Vergangenheit. Finde ich total spießig, aber toll. Ein der Händler, Fabian Kahl, fällt den meisten durch seine äußerliche Nähe zur Gothic-Szene ins Auge – die sich bei näherem Hinsehen als Passion entpuppt, denn der Leipziger ist ein waschechter Grufti. „Der in Oberoppurg aufgewachsene Fabian Kahl trat trotzdem nicht direkt nach der Schulzeit in die Fußstapfen seines Vaters, sondern entschied sich für ein Fachabitur in Gestaltung und Design. Als jedoch die Liebe zu historischem Trödel immer größer wurde, schmiss der bekennende Gothic-Anhänger die Ausbildung und widmete sich ganz der Teilnahme an Antikmessen und Flohmärkten. Dem Antiquitätenhandel ist der 26-Jährige bis heute treu geblieben und kümmert sich gemeinsam mit Papa Holger um zwei Geschäfte, auch wenn er aktuell keinen eigenen Antiquitätenhandel mit festen Geschäftsräumen hat.“ Ob er mir ein Interview gibt? Eine entsprechende Anfrage ist raus.
Wo wir dann schon bei Halloween sind, kommen wir an den USA nicht vorbei. Da hat Talkmaster Jimmy Kimmel wieder dazu aufgerufen, seinen eigenen Nachwuchs hinters Licht zu führen, in dem man Allerheiligen behauptet, man hätte die ganzen gesammelten Süßigkeiten aufgegessen und die Kinder bei ihrer Reaktion darauf filmt. Hier die bittere Realität hinter Halloween.
Vergangene Woche hat Fever Ray das neue Album „Plunge“ veröffentlicht. Ob das wieder ein verstörend erfolgreiches Album von Karin Dreijer Andersson wird? Musik, Text und Video sind wie immer verstörend fremdartig und belehren uns, dass nicht immer alles schön sein muss, um ästhetisch zu sein.
In den vergangenen Tagen beherrschte vor allem ein Status meinen Facebook Newsfeed: #metoo. Viele Frauen, darunter fast 1 Million Twitternutzer, verfassten unter diesem Hashtag stichpunktartig ihre Geschichten oder teilten den Status kommentarlos. Mit diesem soll auf sexuelle Belästigung und Übergriffe aufmerksam gemacht werden und vor allem auf den Umstand, dass diese keine Einzelfälle sind. Viele meiner Facebook-Freunde teilten diesen Status, viele andere hätten vielleicht einen Grund gehabt ihn zu teilen. Ganz normale (junge) Frauen und Frauen aus „der Szene“. Natürlich passiert das überall und potentiell kann jeder davon betroffen sein – auch Männer. Was hat das also mit der „schwarzen Szene“ zu tun? Warum hier, auf Spontis, ein Mainstream-Hype-Thema. Weil ich es wichtig finde darüber zu sprechen. Um unseren „sicheren Hafen“ und unsere Nische zu hinterfragen und die schöne „Wir-haben-uns-alle-lieb“ Fassade anzugreifen:
Warum wird dieses Thema „in der Szene“ so wenig bis gar nicht thematisiert? Warum gelten dortige Veranstaltungen immer noch als sicherer Rückzugsort? Weil dem wirklich so ist? Oder weil wir wollen, dass es so ist? Weil wir nicht kratzen wollen, an der schönen Vorstellung des „Wir-sind-alle-eine-große-Familie“? Weil uns das wieder zeigt, das auch wir nur Menschen sind und sich auch in „der Szene“ alle möglichen Arten von Menschen tummeln und wir nicht alle gleiche Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen teilen? Ich möchte mich damit auseinandersetzen und Fragen stellen, nicht im allgemeinen und diskurstheoretischen Sinne – das tun zurzeit genug (siehe Googlesuche) – sondern im Bezug auf „die schwarze Szene“.
#metoo – Hintergründe
Nachdem sich mehrere Frauen öffentlich zu sexuellen Übergriffe durch den amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein geäußert hatten, schrieb die amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter: „If you’ve been sexually harassed or assaulted write ‚me too‘ as a reply to this tweet“. Etwa zeitgleich rief die französische Journalistin Sandra Müller unter dem Schlagwort #balancetonporc Frauen auf über sexuelle Belästigung zu berichten. Ins Leben gerufen wurde diese Bewegung jedoch schon zehn Jahre zuvor durch die afroamerikanische Aktivistin Tarana Burke, Leiterin der New Yorker Organisation Girls for Gender Equity, welche sich für die Rechte junger schwarzer Frauen engagiert. Als diese vor Jahren als Campleiterin arbeitete, erzählte ihr ein junges Mädchen von den Missbräuchen durch den Freund ihrer Mutter:
„Ich sah ihr dabei zu, wie sie wie sich von mir entfernte, wie sie versuchte, ihr Geheimnis wieder einzufangen und in ihr Versteck zurückzulegen“, so Burke. „Ich sah, wie sie ihre Maske wieder aufsetzte und wieder in die Welt hinausging, als sei sie ganz allein – und ich fand nicht einmal die Kraft um ihr zuzuflüstern: Me too.“ Quelle: Spiegel
Das sexuelle Belästigungen und Übergriffe häufiger stattfinden als man annehmen mag und die Opfer meist schweigen, sollte jedem klar sein, der schon Mal einen Artikel zu diesem Thema gelesen hat. Ebenso, wie die Tatsache, dass sexuelle Belästigungen und Übergriffe in Deutschland ein juristisches Problem darstellen – im Zweifel für den Angeklagten – und die Opfer im Prozess nur selten Recht bekommen, retraumatisiert werden und die Strafen häufig gering ausfallen. Ganz zu schweigen von der Frage, wie man den Nachweis führt, wenn die Tat schon einige Zeit zurückliegt oder keine körperlich nachweisbaren Spuren mit sich gebracht hat. Doch nicht erst jetzt erreicht dieses Thema die deutsche Öffentlichkeit. 2010 wurde durch den Bund eine Kampagne gestartet, die Opfern Mut machen sollte über den Missbrauch an ihnen zu sprechen und auf Hilfsangebote aufmerksam machte. „Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter.“ Gefördert wurde die Kampagne auch durch die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und der Odenwaldschule – auch wenn das Aufsehen schnell wieder abebbte.
#metoo – „Naja, sind halt Idioten“
Als ich den Hashtag #metoo das erste Mal sah, habe ich mich lange gefragt, ob mir so etwas auch schon passiert ist. Die Antwort ist ja. Und dann dachte ich erst an blöde Macho-Stino-Idioten. Und dann musste ich mir eingestehen, dass das auch schon im Umfeld der „schwarzen Szene“ passiert ist. Ich gebe zu, ich musste lange in meinem Gedächtnis kramen, auch ich verdränge das nur allzu gerne, oder lege die Vorkommnisse unter „Naja, sind halt Idioten“ ab. Aufdringliches Antanzen, lüsternes Starren, anzügliche Blicke und ja, auch mal eine Hand am Hintern. Ich glaube das haben fast alle Frauen (und sicher auch Männer) schon erlebt. Nur, fast niemand spricht darüber. Vor allem nicht im Kontext mit der „schwarzen Szene“. Meist wir über Stinos berichtet, die aufdringlich werden. Selten über Vorfälle die zwischen zwei Menschen stattfinden, die sich in der „schwarzen Szene“ bewegen. Sind sexuelle Belästigungen und Übergriffe in „der schwarzen Szene“ ein Problem?
Während ich das schreibe, muss ich an eine Geschichte denken, die mir nun schon öfter zugetragen wurde. Als die „Szene“ hier noch größer war und es regelmäßiger Veranstaltungen gab, gab es jemanden, der regelmäßig Frauen ohne deren Einwilligung angrapschte – auch unter Rock und Unterwäsche. Viele haben mir diese Geschichte erzählt. Von einer Anzeige oder einem Rauschschmiss hat niemand berichtet. Es gab wohl lediglich mal einen kleinen Aufruhr, als eine Frau sich wehrte, einige Umstehende wurden aufmerksam und dann war es das. Ein Mal wurde wohl eingegriffen. Ich habe das nicht erlebt, es wurde mir nur erzählt und vielleicht ist das eine dieser Geschichten, die halt so erzählt werden und mit der Zeit zu immer aufgebauschteren Gebilden werden. Mein subjektiver Eindruck dazu ist: man wusste das und hat es hingenommen, totgeschwiegen oder versucht privat zu regeln. Warum? Um einen Skandal zu vermeiden? Einen Gesichtsverlust? Weil man Angst vor Ausgrenzung hatte? Ich kenne die Frauen nicht, denen das passierte, es ist ihr gutes Recht zu schweigen, aber warum haben auch die geschwiegen, die davon erfahren haben? Oder warum wird nie darüber gesprochen, dass sie eben das nicht haben?
Vielleicht, weil viele Menschen, die sich „in der Szene“ bewegen, diese immer noch als Schutzraum und als familiäres Gebilde betrachten. Vielleicht, weil diese Sicht notwendig ist um die Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft zu unterstreichen. Sicher auch, weil es schwierig ist über solche Erfahrungen zu sprechen. Weil einem der damit verbundene Schrecken oft abgesprochen wird: „Es ist ja nichts passiert“, „Es war ja nicht so schlimm“, „Nimm es als Kompliment“, „Anderen ist schlimmeres passiert“. Fakt ist aber, in der „schwarzen Szene“ bewegen sich genauso viele Idioten wie im Rest der Gesellschaft auch. Meine persönliche Erfahrung im Vergleich zu „normalen“ Tanzveranstaltungen ist, dass auf schwarzen Events deutlich mehr auf den Freiraum der Einzelnen geachtet wird und man häufig auch eine Entschuldigung erhält, wenn man sich doch mal zu nahe kommt beim Tanzen, dagegen ist auf anderen Veranstaltungen eher kollektives Gruppenkuscheln angesagt. Das heißt nicht, dass Belästigungen und Übergriffe nicht vorkommen, sondern doch eigentlich, dass sie noch mehr auffallen sollten, oder? Das heißt nicht, dass Menschen, die sich in diesem Umfeld bewegen, nicht auch übergriffig sein können.
#metoo – (K)ein Thema in der schwarzen Szene?
Gerade die „schwarze Szene“ ist teilweise sehr freizügig und mitunter von Einzelnen sexuell konnotiert – gerade wenn Überschneidungen zur Fetisch-Szene ausgelebt werden. Manche mögen sich davon aufgefordert fühlen oder glauben dadurch einen Freibrief zu erhalten – auch wenn freizügige Kleidung oder Kleidung mit Anspielungen auf sexuelle Vorlieben eben das nicht sind. Auch gibt die Szene vor, im Bezug auf Sex toleranter und offener zu sein und hat Berührungspunkte mit der Fetischszene – ob wir das gut und logisch finden oder nicht. Schwarzkittel tun gerne so offen, tolerant, aufgeklärt und diskussionsbereit. Da frage ich mich, wie können sexuelle Übergriffe und Belästigungen nie (zumindest bin ich nicht drauf gestoßen) thematisiert worden sein? Auch, oder gerade weil, sich scheinbar ja auch immer wieder Menschen in der „Szene“ finden die derartiges erlebt haben und das mitunter kommunizieren, dass sie bereits Opfer solcher Angriffe wurden. Warum sprechen wir nicht ernsthaft darüber, dass Otto-Normalverbraucher häufig lüstern starren oder Sprüche loslassen und man Dinge zu hören bekommt, wie „Ich habe mal mit einer freaky Goth-Braut geschlafen, voll abgespacet„? Wieso wird immer nur augenrollend am Rande erwähnt, dass viele Party- und Festivalfotografien gezielt auf „Arsch und Titten“ draufhalten? Die „Szene“ gibt sich oft so offen und frei und unkonventionell, aber hier hört das alles meiner Meinung nach ganz schnell auf. Wer sich auftakelt, ist ein Poser und Frauen in knappen Outfit sind Schlampen, oft genug gehört. Auch hier werden Stereotype reproduziert und Frauen die Selbstbestimmung abgesprochen (Männern auch). Auch hier wird geschwiegen. Und auch hier wird sich danebenbenommen?!
#metoo wandert durch meinen Kopf und irgendwie finde ich keine Antwort auf die Fragen und verliere mich in Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung, an meiner eigenen Erinnerung. Ich frage mich, wer sowas schon mitbekommen oder selbst erlebt hat? Ob das genauso häufig vorkommt, wie in anderen Kontexten? Wie damit umgegangen wird? Ob wir mehr darüber sprechen müssen?
Das Young&Cold Festival jährte sich im September zum fünften Mal und wieder waren verschiedenste Künstler aus dem breitgefassten Wave-Bereich vertreten. Neu hingegen war, dass die Veranstaltung bereits am Donnerstag begann und an jedem Tag in einer anderen Location stattfand. Zudem waren dieses Jahr Tagestickets zu erwerben.
Für Autorin Flederflausch war es bereits das dritte Mal in Augsburg, Svartur Nott, den einige vielleicht noch als fleißigen Helfer vom Gothic-Friday in Erinnerungen haben, sollte dieses Jahr seine Young&Cold Jungfräulichkeit verlieren. Was lag da näher als ein gemeinsames Festival-Tagebuch zu erstellen und abwechselnd die Eindrücke und Erinnerungen zu beschreiben, nebeneinander und gegenüber zu stellen?
Ein Artikel der mit Toten beginnt! Oder besser ausgedrückt, mit den Totgesagten. Denn die Blogparaden, Aktionen bei denen sich Blogger zu einem speziellen Thema untereinander verlinkten, hatte man längst begraben. Schön, wenn es trotzdem passiert, denn nun hat Tanja zum #AllHallowsRead aufgerufen, bei dem es darum geht, zu Halloween (eigentlich ja Allerheiligen, aber Halloween klingt moderner) ein passendes Buch vorzustellen und darüber hinaus einen ganzen Haufen davon zu verschenken. Eine tödliche Fügung, dass ich Klaus Märkerts neuen Roman „Wie wir leuchten im Dunkeln, geben wir so verdammt gute Ziele ab“ gerade zum Lesen bestellt hatte, als ich von der Aktion erfuhr. Der Klaus ist nämlich nicht nur einer meiner Lieblingsautoren, sondern auch ein ausgesprochener Experte in Sachen Tod. Doch dazu gleich mehr.
Das Gewinnspiel, bei dem es einen ganzen Haufen gruseliger Bücher zu gewinnen gibt, funktioniert folgendermaßen: In jedem der 13 Blogbeiträge, die an #AllHallowsRead teilnehmen, ist ein Buchstabe zu finden, die am Ende das Lösungswort ergeben, das man per E-Mail einschickt. Die Gewinner von 10 Bücherpaketen mit jeweils 2-4 Büchern, werden dann am 31. Oktober von Tanja ermittelt, benachrichtigt und beschenkt. Wie das alles genau funktioniert und was es zu gewinnen gibt, erfahrt ihr in ihrem Blog. Darüber hinaus verlose ich zwei von Klaus Märkert signierte Exemplare seines Buches unter den Kommentierenden hier im Blog. Mit anderen Worten: Auch bei tödlichen Themen lohnen sich Lebenszeichen!
Japan ist ein kontrastreiches und spannendes Land, dessen Kultur mir fremd und einzigartig erscheint. Immer wieder schwappen Subkulturen aus dem Land der aufgehenden Sonne auch nach Europa, auf zahlreichen Festivals der schwarzen Szene gehören beispielsweise Cosplayer oder Gothic-Lolitas bereits zum gewohnten bunten Farbtupfer im Meer der schwarze gekleideten Gruftis. Auch scheint das Interesse an japanischer Subkultur, deren Stilen und Erscheinungsformen, zugenommen zu haben. Gerade unter den jüngeren Mitgliedern der schwarzen Szene gehören Japan-Tage, Mangas, Anime und Cosplay-Conventions zu den bevorzugten Tellerrand-Interessen. Auch ich finde das, was sich an japanischer Subkultur bei uns etabliert hat, sehr spannend und wollte mich bereits seit einigen Monaten mit dem Thema beschäftigen. Nachdem ich einige japanische Street-Fashion-Portale angeschrieben hatte, um deren Bilder für diesen Beitrag zu verwenden, fand ich schließlich Tokyo Fashion, die mir ihre Aufnahmen zur Verfügung stellten. Dem Wunsch der Betreiber „mit den Bildern und den abgebildeten Personen respektvoll umzugehen„, wie man mir in einer E-Mail schrieb, komme ich gerne nach.
Wer japanische Subkulturen verstehen möchte, muss einen Blick auf Japans Jugend werfen, denn japanische Schulen und Universitäten sind Schmelztiegel für sämtliche hier vorgestellten Stile. Bei meinen Recherchen zu diesem Artikel stieß ich dann auch unweigerlich auf die „dunklen Seiten“ japanischer Lebensweisen und Traditionen, die uns ebenso fremd wie merkwürdig erscheinen, wie die schrille Fassade der Jugendkulturellen Stile. Beide Sichtweisen in einem Artikel zu vermischen, würde meiner Ansicht nach weder der Faszination noch der Kritik gerecht werden und so habe ich mich entschieden, hier zunächst das Äußere unter die Lupe zu nehmen. In einem späteren Artikel werfe ich dann einen Blick auf die „dunkle Seite“ dieser farbenfrohen und visuell eindrucksvollen Welt. Darüber hinaus muss man unterscheiden wo „Subkultur“ anfängt und „Kleidungsstil“ aufhört, da ich aber das für Japan nicht beurteilen möchte, weil ich noch nie dort gewesen bin, mische ich diese Dinge ganz bewusst – oder eben unbewusst.
Tokio
Tokio ist nicht nur die Hauptstadt des Landes, sondern auch internationale Modemetropole, die in Sache Kreativität sämtliche andere Städte in den Schatten zu stellen scheint. An den Wochenenden bevölkern tausende Jugendliche die Straßen der angesagten Stadtteile Shibuya, Harajuku, Shinjuku und Ikebukuro die durch ihre Vielzahl von Mode-Läden, Boutiquen, verrückten Cafés und Restaurants sowie unzähligen Nerd-Shops für Technik- und Gamingfreaks, Anziehungspunkt und Mekka für sämtliche Subkulturen zu sein scheint.
Die Takeshita Street in Harajuku ist eine der bekanntesten Straßen wenn es um Street Fashion Shopping geht… (c) tokyofashion.com…aber sicher nicht die Einzige. Es gibt unzählige Einkausmeilen, die alle einen besonderen Schwerpunkt zu haben scheinen. (c) tokyofashion.com
Das wohl bekannteste Shopping-Paradies ist das „109„, das auf 10 Etagen mit über 100 Läden in Shibuya nicht zu übersehen ist. Hier finden sich neben den bekannten Labels auch einige angesagte Boutiquen japanischer Designer. In Harajuku, auf der rund 3 Kilometer langen Straße Takeshita Dori, findet die Jugend ihr Paradies. Unzählige kleine Schmuckgeschäfte, Schuhe in allen ausgefallenen Variationen und Street Fashion in jeder erdenklich Couleur. Wer sich mehr für Spiele und alles was Technik angeht interessiert, fährt lieber nach Akihabara und wird wohl die folgenden 10 Jahre nicht mehr gesehen werden… Egal ob Spielhölle, Retrogaming, E-Sports oder aktuelle Titel – Hier wohnt der Nerd.
Lolita
Im Gegensatz zur Bezeichnung verstehen sich die Lolitas der japanischen Subkultur als Gegenbewegung zur Freizügigkeit, wie sie beispielsweise die Gyaru ausleben. Gothic-Lolitas, Sweet-Lolitas oder Classic-Lolitas wollen daher eher elegant oder niedlich wirken und erinnern daher eher an Porzellanpuppen aus dem viktorianischen England, an Alice im Wunderland oder sonstige Fabelwesen, die man am häufigsten in Märchen antreffen würde. Sie tragen große, voluminöse Röcke, die oft mit Motiven aus Märchen, bunten Mustern, Blumen oder auch Tieren bestickt oder bedruckt sind. Dazu trägt man meist verzierte Strümpfe, Spitze besetzte Blusen und Plateau-Schuhe im „Mary Jane“ Style (Spangenschuhe). Die Haare werden meist mit Pony getragen und als obligatorischer Haarschmuck dienen spitzen besetzte Bänder, Bonnets (Häubchen), Schleifen, Blumen oder ins Haar gesteckte Mini-Hüte.
Gothic-Lolitas sind meist als Ableger der hiesigen Gothic-Kultur zu verstehen und beschränken sich in ihrem Aussehen allein auf die schwarze Variante des Lolita-Stils. Mit der Subkultur selbst haben die japanischen Anhänger wenig gemein. Das Label „Angelic Pretty“ (ursprünglich als Milk and Pretty bekannt) ist eines der berühmtesten Labels für diesen Teil japanischer Subkultur.
Horned Harajuku Girl in Gothic Lolita Fashion vs. Angelic Pretty Street Style – Souka (https://twitter.com/blackbeautyend) and Nattsu (https://twitter.com/tbm_actor) (c) tokyofashion.com
Harajuku Sweet Lolitas w/ Matching Angelic Pretty Fashion & Pony Bags
Posted on September 19, 2013 in: Tokyo Street – Midori and Poppo (c) tokyofashion.com
Gothic Lolita in Harajuku w/ Alice and the Pirates & Metamorphose temps de fille – Ame (https://instagram.com/lelliepop44/) (c) tokyofashion.com
Lolita in Harajuki – Rumina (Follow Rumina on Instagram https://www.instagram.com/lunadzuki/)
(c) tokyofashion.com
Gothic Lolita Erina in Harajuku (Erina on Instagram: https://www.instagram.com/re.ena66/ (c) tokyofashion.com
Gyaru
Einer der weit verbreitetsten Stile in der japanischen Subkultur ist (war) Gyaru, der jedoch seit 2010 aber deutlich auf dem Rückzug ist, vermutlich weil die japanische Regierung die Gyaru-Kultur als neuen Export-Schlager der Kawaii-Kultur entdeckt hat und Modeschauen unterstützt, die Die japanische Schreibweise „ギャル“ bedeutet soviel wie das englische „girl“. Auffällig für diesen Stil sind reichlich Make-Up, kurze Röcke, Waden-Puscheln und hohe Schuhe. Das wohl bekanntesten Shopping-Paradies für die Girlies der japanischen Jugend ist wohl das „109“ in Shibuya, das auf 10 Etage rund 100 Läden beherbergt.
Besonders auffällige Varianten dieses Stils ist beispielsweise die Yamamba (ヤマンバ). Sie fallen durch ich ihre stark gebräunte Haut, höllisch dickes Make-Up und gebleichtes Haar auf und tragen zudem Lippenstift und Eyeliner in weißer Farbe, um einen starken Kontrast zur braunen Haut zu erreichen. Ihre Bezeichnung verdanken sie angeblich einer japanische Volkserzählung von Berghexen, die durch ihre langen weißen Haare besonders auffällig gewesen sein sollen. Mit den 2000er Jahren wandelte sich dieser Stil in Mamba, die Haut wurde noch dunkler und das Gesicht wird nun vollständig bemalt, grelle Klamotten in allen Neon-Varianten bestimmten ihr Auftreten. Erwähnenswert bleiben noch die Hime-Gyaru im Prinzessinnen- und Rokoko-Stil, die One-Gyaru (オネギャル) , die „ältere Schwester“, die weniger schrill und exzentrisch daherkommt und die Neo-Gyaru (ネオギャル) die nach 2010 allmählich auch westliche Trends, wie breite Augenbrauen und dunkle Lippen, einfließen ließen.
Campus Summit 2013 Pictures – Gyaru Fashion & Culture in Shibuya – Mamba Style rechts im Bild (c) tokyofashion.com
Japanese Kuro Gyaru on The Street in Harajuku Wearing D.I.A. & Flag-J – Mika (c) tokyofashion.com
Gyaru United: Japan’s Black Diamond Gals Champion a Kuro Gyaru Subculture Revival (c) tokyofashion.com
Black Diamond Gyaru Yui w/ Knee-high Furry Boots & Cross Top in Shibuya (c) tokyofashion.com
Nicht nur was für Frauen. Sentaa Guys w/ Alba Rosa, CoCoLuLu, Glad News & Colorful Hairstyles (c) tokyofashion.com
Visual Kei (ヴィジュアル系)
Dieser Stil hat seinen Ursprung auf japanischen Bühnen. Musiker der JPop- und JRock-Szene begannen Anfang der 80er Jahre damit, sie stilistisch und vor allem optisch an westliche Vorbilder anzupassen. Sie ließen sich von Bands wie Kiss, David Bowie oder Twisted-Sister beeinflussen, mischten das mit Inspirationen aus dem japanischen Kabuki-Theater und fanden auch Siouxsie & The Banshees oder Visage ziemlich spannend. Diese Japanische Subkultur entstand aus der Nachahmung der Vorbilder auf der Bühne und ist im Gegensatz zu vielen anderen Stilen eine Subkulturen mit musikalischem Hintergrund. Das V-Rock Festival, eines der wichtigsten Events dieser Musik- und Stilrichtung in Japan, vereinte erstmals 2009 rund 50 Bands aus 49 Ländern auf der Bühne, die von über 29.000 Visual-Kei-Fans gefeiert wurden.
Harajuku Visual Kei Style w/ Black Peace Now & h.NAOTO – Kyouka (https://www.facebook.com/hayato.ariki) (c) tokyofashion.com
Visual Kei Band “Fixer” in Harajuku w/ Twelve Nine & Buffalo Bobs Fashion – Link (https://www.fixer-net.com/korey-1 (c) tokyofashion.com
Moi dix Mois Fan’s Gothic Harajuku Style w/ Sixh, RUM & h.NAOTO (c) tokyofashion.com
Versailles Final Concert – Fan Fashion Snaps on December 20, 2012 at NHK Hall Tokyo (c) tokyofashion.com
Visual Kei Fans in Harajuku w/ Sex Pot Revenge, Fernopaa, Strange Freak & Colorful Hair – R-Shi (https://twitter.com/025xxx0) und Naruse (c) tokyofashion.com
Dolly Kei, Mori Kei und Fairy Kei
Im Zuge einer weiteren Ausdifferenzierung entwickeln sich in den letzten Jahren immer neue Ableger vieler „älterer“ japanischer Subkulturen. Dolly Kei lässt sich von Vintage-Klamotten inspirieren, eifert antiken Puppen aus Grimms Märchen nach und wird ebenfalls von der viktorianischen Ära beeinflusst, die sich bereits im Lolita-Style findet. Man trägt jedoch meist ruhrigere Farben, wie dunkle Grün-, Rot, und Brauntöne. Religiöse Symbole, Teile von altmodischem Spielzeug oder Puppenkörperteile dürfen nicht fehlen. Es gelten zwar keine festgeschriebenen Regeln, Blumen- oder Gobelinmuster scheinen aber ebenso obligatorisch wie Stickereien und Spitze.
Mori Kei hebt sich durch erdige und natürliche Farben aus, ganz so, wie es der japanische Begriff „Mori“ (森), zu Deutsch „Wald“, vorgibt. Wie schön beim Dolly Kei bevorzugt man Schichten verschiedener Einflüsse, die im Gesamtkonzept zum gewünschten Style führen.
Als Krönung der Niedlichkeit hat Fairy Kei das Licht der Welt erblickt. Die Mode ist schon so süß, dass allein der Anblick Zahnschmerzen verursachen könnte. Accessoires in Form von Herzchen, Sternen, Teddys oder Schleifen sind der Hingucker jedes Outfits. Rosa, Pink und Weiß in sämtlichen Pastelltönen stecken den farblichen Rahmen ab, während nicht selten Motive und Symbole aus Serien wie „My Little Pony“ oder den „Glücksbärchis“ an der Kleidung zu sehen sind. Rouge wird häufig direkt unter den Augen aufgetragen, nicht auf den Wangen. Interessante Links: Strange Girl, I don’t know much
Dolly Kei: Harajuku Dolly Girls’ Vintage Dresses & Floral Tattoos- Shiho und Anne
Dolly Kei: Shinjuku Girls’ Hair Bow & Cult Party Skirt vs. Odango Buns & Resale Robe
Das Rouge wird direkt unter den Augen aufgetragen, nicht auf den Wangen. Pastel Bob Hair, Vintage Fashion, Gunifuni Teddy Bear Bag & Tokyo Bopper
Dolly-Kei Girl in Grimoire Dress & Crochet Cardigan
Cosplay (コスプレ)
Beim Cosplay geht es kurzgesagt um die Verkörperung einer Figur aus einem Manga, Anime, Comic, Film oder einem Computerspiel, die durch Kostüm und Verhalten möglichst authentisch dargestellt wird. Hier werden keine Kompromisse an Alltagstauglichkeit oder Bequemlichkeit gemacht, denn die Kleidung muss den Charakter spiegeln und folgt daher auch festgeschriebenen Regeln, nämlich denen der darzustellenden Figur selbst. Anders als die hier vorgestellten Modetrends steht also hinter dem Cosplay tatsächliche ein reinrassige Subkultur, den nicht nur Kleidung und Aussehen sind entsprechend, sondern eben auch das Verhalten. In Japan geht das mittlerweile so weit, dass manche Cosplayer eigene „Idol Cards“ vertreiben, also Sammelkarten von sich und ihren Outfits. Auf Cosplay-Veranstaltungen geht es hauptsächlich um den Wettkkampf untereinander. Bewertet wird in Kategorien wie „Ähnlichkeit mit dem Original“, „Machart und Fertigung des Kostüms“, „Präsentation des Charakters“, „Zuschauerpopularität“ oder auch „Gesamtkonzept der Gruppe“. Die Weltweit größte Veranstaltung, die „World Cosplay Summit“ wird vom japanischen Fernsehsender „TV Aichi“ veranstaltet und lockt Teilnehmer aus aller Welt.
Cosplayer sind auf der Straße recht selten anzustreffen. Haruhi Suzumiya School Uniform Cosplay Girl in Harajuku (c) tokyofashion.com
Japanische Subkulturen verlaufen ineinander, ihre Grenzen sind fließend. Mir ist aufgefallen, dass viele Stile einer eigenen Ausdifferenzierung der Leute folgen und die Namen der Bezeichnungen tragen, die man sich selbst in sozialen Netzwerken oder Bilderplattformen gibt. Ein Artikel wie dieser kann demnach auch nur ein Auszug aus der Vielfalt japanischer Jugendkulturen sein und ist auch als solcher zu verstehen. Auch wenn die hier vorgestellten Stile für unser europäisches Auge merkwürdig und fremd erscheinen, darf ihnen nicht die Daseins-Berechtigung entziehen, denn ich glaube, zu einem vollständigen Verständnis der japanischen Subkulturen gehört auch ein Verständnis für japanische Lebensweise und Traditionen.
Doch darum soll es erst in einem weiteren Beitrag zu „Japanische Subkulturen“ gehen. Ich würde mich dennoch sehr darüber freuen, wenn ihr in den Kommentaren von Eurem Wissen zu diesen Subkulturen berichtet, weitere Splittergruppen vorstellt oder mich schlichtweg korrigiert.
Alle Bilder, die diesem Beitrag freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden sind, stehen unter dem Copyright von Tokyo Fashion. Keine der Aufnahmen fällt unter die für diesen Blog ausgezeichnete Creative Commons Lizenz.
Ich habe einen Wunsch. Den Wunsch, unsere Demokratie hält den Rechtsruck in der Regierung aus. Ich habe sogar die Hoffnung, sie wird durch diese Prüfung stärker und gelebter. Doch ich bin niedergeschlagen. Fast ein bisschen Hoffnungslos. Wie konnte man einen Herrn Gauland, Spitzenkandidat der AfD, der erst Aydan Özoğuz, Integrationsbeauftragte des Bundes und SPD-Politikerin, „in Anatolien entsorgen“ wollte und nun offen ankündigt: „Wir werden Frau Merkel jagen“ mit seinem Kreuz auf dem Wahlzettel nur wählen? Die Szene, so ist oftmals zu lesen, sei unpolitisch und beugt sich keiner Vereinnahmung durch eines der Lager. Das ist auch gut so, schützt aber nicht davor, sich individuell zu positionieren. Nie war es so wichtig wie am vergangenen Sonntag, zur Wahl zu gehen und seinem Standpunkt in Form eines Kreuzes Ausdruck zu verleihen.
Ihr hattet keinen Standpunkt? Ihr wolltet keinen haben? Es erschien Euch zu schwierig? Vielleicht wäre dann eine andere Regierungsform für Euch interessant, im Ausland gibt es zahlreiche Länder, die keinen Standpunkt erfordern. In einer Demokratie geht das nicht. Stellt Euch vor, die tausende AfD-Wähler nehmen ihre Spitzenkandidaten wörtlich und unliebsame Kritiker werden „entsorgt“ oder Frau Merkel wird „gejagt“. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere noch an Rostock-Lichtenhagen?
Dies ist ein persönlicher Artikel. Er hat nichts mit der schwarzen Szene oder einer sonstigen Subkultur zu tun und spiegelt lediglich meine persönliche Meinung. Es soll sich nicht wiederholen, denn Spontis möchte keine politische Plattform sein oder der AfD weitere kostenlose Popularität spendieren. Totschweigen geht aber leider nicht. Es war mir ein Bedürfnis.