Es wurde wieder allerhöchste Zeit, den musikalischen Briefkasten zu leeren. Das ist – zur Erinnerung – der virtuelle Briefkasten, in den Bands, Label und Künstler*Innen ihre Musik legen können, die wir hier dann möglicherweise vorstellen. Nutzt gerne das Kontaktformular, um auch eure Musik hier zu finden, falls sie uns gefällt. Im Feature ist diesmal die bezaubernde Paura Diamante, die mit ihrem zweiten Album „The Descent“ dem Verfall einen Soundtrack geben möchte.
Die Marlene Dietrich des Darkwave, Paura Diamante, führt ihre Symbiose aus queerer Musik und Darkwave konsequent fort und veröffentlichte bereits im Oktober 2023 das zweite Album „The Descent„, aus dem auch jüngst die Single „Spiders“ ausgekoppelt wurde. Im Gegensatz zum Debütalbum erscheint mir das aktuelle Album noch waviger und stellenweise etwas düsterer, was ich natürlich grundsätzlich begrüße und was der Titel des Album bereits impliziert. Songs wie die Singleauskopplung „Spider“ oder auch „The Day You Broke My Heart“ sind nach wie vor eingängige Synthwave-Tracks, die mit ihrer Eingängigkeit in die Beine strömen. Einen Kontrast dazu bilden meiner Meinung nach „Crawl“ und „Ghosts“, die es zwar nicht an melodischen Synthie-Teppichen mangeln lassen, aber eine andere Stimmung transportieren. Mit dem eindrucksvollen Stück „War“ wird dann auch klar, was Paura Diamante beschäftigt und was möglicherweise zur Stimmung des Albums beigetragen hat.
Holger Hiller, der seinerzeit mit Palais Schaumburg für einen alternativen Zweig der neuen deutschen Wellen sorgte, wärmt sein 1983 erschienenes Album „Ein Bündel Fäulnis aus der Grube“ nochmal auf. Ein Stück Weirdness zum 40. Jubiläum des Hamburger Künstlers.
Crows On Wires haben uns bereits im November 2023 ihren Song „Stop The Clock“ zugeschickt. Und da die Zeit ja angehalten wurde, erscheint diese Vorstellung nun aktueller denn je. Die Band aus Dresden fühlt sich im Post-Punk heimisch, bevorzugt Kerzenlicht, wie sich mir schreiben. Bei Youtube kann man sich ihr neuestes Werk anhören.
In einem visuell eindrucksvollen Video, der den Song „Whispers In The Echo Chamber“ begleitet, kündigt Chelsea Wolfe ihr frisch erschienenes Album „She Reaches Out To She Reaches Out To She“. Klingt ein bisschen wie die Nine Inch Nails, was keineswegs negativ gemeint ist. Der Kontrast zwischen dem „harten“ und dem „zarten“ ist wie Marzipan-Zartbitter-Schokolade. Ich hoffe, diesen Vergleich kann jemand mitgehen. Auch wenn der Song wenig „Tanzpotential“ zu haben scheint, finde ich ihn sehr spannend.
„Die Hoffnungsträger der deutschen Gothic-Szene„, wie die Band Wisborg von ihrem Label „Dansemacabre“ genannt werden, haben ebenfalls ein neues Album in den Startlöchern, das sich diesmal der deutschen Sprache verschrieben hat. „Auf Deutsch zu singen ist ein zweischneidiges Schwert“, erklärt Frontmann Konstantin Michaely. „Wenn dein Publikum auf Anhieb versteht, wovon deine Stücke handeln, dann haben die Texte naturgemäß mehr Gewicht.“ Das stimmt. Trotzdem wagen sich Wisborg auf Messers Schneide und scheinen sich auf das erste Ohr nicht daran zu schneiden. Der massentaugliche „Goth-Rock“ der Band ist für mich das wohlschmeckende Einstiegs-Bonbon in die musikalische Vielfalt der Gothic-Szene.
Kill Shelter versuchen sich hemmungslos an einem Klassiker der musikalischen Geschichte der Szene. Ihre Cover-Version von „She’s In Parties“, die Teil des aktuellen Tribut-Albums „Honoris III“ ist, orientiert sich stark am Original und stellt nur vereinzelt klangliche Stellschrauben. Klingt aber ganz gut und kann bei Youtube angehört werden.
DTORN haben sie dem Phänomen „Mann“ gewidmet und legen damit das Schwert, das Frontmann Torsten Schneyer auch abseits seiner musikalischen Karriere kunstvoll schwingt, in die Wunde aktueller Diskussion um toxische Männlichkeit. Zusammen mit Gesangspartner Clay von der Band „Wyst“ singt man über „Brüdern, Vätern und Söhnen, von Macht und Zerstörung, von Trauma und Indoktrination“ in einem einzigen Song. Ob der lyrische Song die Kraft hat, all diese Bilder zu zerstören und den hörenden Mann von seinen destruktiven Mustern befreit, ist individuell. Der Sound ist vielschichtig verspielt, der Text mehrlagig tiefgängig und der zelebrierte Gesang stimmungsvoll düster. Es bleibt fraglich, ob die komplexe Musik die Welt in eine bessere verwandelt, denn es liegt in der Natur der Sache, dass sich chronisch toxische Männer solche Musik nicht unbedingt erreicht. Zumindest gibt der Song aber genug Anlass über die Frage zu philosophieren, ob das Thema „toxische/positive“ Männlichkeit in der Szene viel zu selten behandelt wird.
Sidewalks und Skeletons haben Anfang Februar 2024 ein neues Album mit dem Titel „Exorcism“ veröffentlicht, die Singleauskopplung „Erased“ trifft musikalisch den Nagel des Genre „Witchhouse“ auf den Kopf. Der britische Künstler Jake sagt dazu in einem Interview: „In „Exorcism“ geht es um die Gegenüberstellung der Unschuld, in die jeder Mensch hineingeboren wird, und der harten Realität der Welt, die diese Unschuld schnell wieder zunichte macht. In gewisser Weise werden wir alle von der Welt besessen. Wir können die Person verlieren, die wir einmal waren. Das Album stellt diesen Kampf auf vielfältige Weise dar.“
Sopor Aeternus schließt mit der EP „Fab Dead Cult Veil“ die Tetralogy „Alone At Sam’s“ bis auf einen Teaser gibt es noch nicht allzuviel zu hören, die Fans sind aber bereits jetzt aus dem Häuschen.
Der aus Österreich stammende Musiker Christian Sundl schwingt hemmungslos das Tanzbein und bezeichnet seine neueste Schöpfung als „Goth House“. Dabei handelt es sich um einen Remix seines eigenen und gleichnamigen Stückes, das er unter dem Namen „Gran Bankrott“ bereits vor 2 Jahren veröffentlicht hat, der hier bei Soundcloud zu hören ist. Auch „Volker Milch“ schickt mir einen Remix seines Stückes „Träume“, das er bereits 2016 aufgenommen hat und das man sich im Bandcamp anhören kann.
Einen besonderen Gruß sende ich an dieser Stelle an Runa Wjassier und ihrer Band Dragol. Ich bin froh, dass die Band ihren musikalischen Platz gefunden hat und auf dem Mera Luna 2023 den Newcomer-Wettbewerb gewonnen hat. Ich hoffe sehr, dass der Song „Das letzte Mal“, der vor einem Monat als Video erschienen ist, nicht der letzte bleiben wird.
Irland, wir müssen reden. Bambie Thug ist möglicherweise der wichtigste Beitrag für die europäische Grufti-Kultur, seit uns die Kelten das heidnische Samhain-Fest überlieferten. Um zu erfahren, wie die Chancen stehen, habe ich gerade nochmal bei Nostradamus angerufen und wir sind uns einig. Bambie hat mit ihrem Beitrag „Doomsday Blue“ den European Song Contest 2024 quasi schon gewonnen. Jedenfalls für die Herzen der europäischen Grufti-Szene. Behaupte ich jetzt mal. Da waren die „Lord Of The Lost“ im letzten Jahr Kindergeburtstag, obwohl die Band um Chris Harms den letzten Platz nun wirklich nicht verdient hatten.
Der Song „Doomsday Blue“, der neulich in der nationalen Vorentscheidung gewonnen hat, beeindruckt mich. Nicht nur, weil ich den Song ziemlich gut und mutig finde, sondern auch, weil die Iren offensichtlich einen gleichgesinnten Musikgeschmack haben. Im Gegensatz zur irischen Presse, die Barbie nicht wirklich einordnen können. Ein irischer Pfarrer meinte nach dem Genuss des Songs „dass Irland als Land erledigt sei.“
Der Song „Doomsday Blue“, der von der EP „Cathexis“ stammt, die 2023 veröffentlicht wurde, wird von Bambie als „Hyperpunk avant Electro-Pop“ bezeichnet, hier und fällt auch der Begriff „Ouija-Pop“, das allein schon von seiner Wortschöpfung interessant ist.
Überrascht vom Erfolg sagte Bambie nach dem Finale: „Ich habe keine Worte mehr. Als Texter würde man meinen, ich hätte mehr zu sagen, aber ich bin sprachlos. Ich bin so aufgeregt und ich verspreche, ich werde Euch so stolz machen.“ Ich bin schon stolz, auch wenn ich kein Ire bin.
Bambie wird Irland also beim 68. ESC der Anfang Mai in Schweden ausgetragen wird, vertreten. In einem Interview verrät Bambie mehr über sich. Könnt ihr euch auch noch angucken, wenn ihr wollt.
Ich bin beeindruckt von der Performance und obwohl ich gelegentlich gegen einen Ausverkauf unserer Subkultur wettere, kann ich nicht aufhalten, wenn einige schwarze Tropfen der Verdammnis über den europäischen Musikmarkt tropfen. Ich werde sie dieses mal begrüßen und werde einige irische Bekannte überzeugen, in meinem Namen zu voten, wenn es soweit ist. Ich drücke Bambie die Daumen, wenn der schwarze Nagellack getrocknet ist.
Wie die LVZ berichtet, schließen zum 29. Februar zwei Ibis-Hotels in Leipzig ihre Pforten. Damit fallen knapp 300 Betten in zentrumsnaher Lage, die in einer preisgünstigeren Kategorie angeboten wurden, ersatzlos weg. Das dürfte die jetzt schon angespannte Preissituation freien Hotelzimmer zum WGT 2024 in Leipzig weiter verschärfen. Wie lange die Schließung dauert, ist unbekannt, alle betroffenen Kunden sollen eine Stornierung ihrer Buchung erhalten.
WGT Preisniveau stabil – Kostenexplosion der Hotels
Während die Karten für das Wave-Gotik-Treffen auch in diesem Jahr stabil bleiben, scheinen die Kosten für eine Übernachtung um die Pfingsttage zu explodieren. Über 220€ pro Nacht kostet mittlerweile ein durchschnittliches Hotelzimmer in Leipzig, 5 Übernachtungen zum Wave-Gotik-Treffen 2024 in Leipzig kosten selbst bei sonst moderaten Hotelketten zwischen 1.100 und 1.800 Euro für zwei Personen. Für viele Gothic-Fans wird ein Besuch des Treffens damit zum Jahresurlaub. Dynamische Preisgestaltung zu den Regeln von Angebot und Nachfrage treiben die Preise in die Höhe.
Dabei mangelt es Leipzig nicht an Hotelzimmern, im Gegenteil. Die LVZ schreibt dazu: „Fakt ist: Leipzig hat zu viele Hotelbetten, die nicht gleichmäßig übers ganze Jahr ausgelastet sind. 2022 verfügte das Leipziger Beherbergungsgewerbe über insgesamt fast 22.000 Betten mit einer Auslastung von rund 42 Prozent – zu wenig angesichts der allgemein gestiegenen Kosten, vor allem bei kleinen und mittleren Hotels.“ Hotelbetreiber versuchen anscheinend mit regelrechten Wucherpreisen die Minderauslastung über das restliche Jahr zu kompensieren und auch gestiegenen Kosten im Energie-, Unterhalts- und Personalsektor tragen maßgeblich dazu bei.
Selbstverständlich betrifft das nicht nur Leipzig und das WGT. Im Allgemeinen ziehen die Preise für Hotels, Dienstleistungen und Restaurantbesuche an. (Quelle) Auch wenn die Preissteigerung in diesem Jahr etwas geringer ausfallen soll.
Sollte das Wave-Gotik-Treffen auf die „grüne Wiese“?
Das WGT hat durch seine Langlebigkeit und seinen Einfluss auf die schwarze Szene einen enormen Bekanntheitsgrad, der mittlerweile auch viele internationale Gäste nach Leipzig lockt. Im Zuge solcher städtischen Großereignisse explodieren stets die Preise der ortsansässigen Hotels. Zur Fußball-Europameisterschaft 2024 im Juni dieses Jahres, bei dem auch im Leipziger Zentralstadion Spiele stattfinden, kosten die gleichen Zimmer, die bereits zum WGT 220 € die Nacht kosten, das doppelte. Auch die Leipziger Buchmesse im März hat bereits für deutliche Aufschläge auf die sonst üblichen Preise gesorgt.
Es ist absehbar, dass die Preise für die Unterbringung zu den Wave-Gotik-Treffen zukünftiger Jahre nicht signifikant günstiger werden. Für einige Stamm-Besucher des Treffens mündet das in einem „Boykott“ des Treffens, weil der Gesamtpreis für ein „Schwarzes Pfingsten“ in Leipzig das persönliche Budget übersteigt. Absolut nachvollziehbar, denn wenn das WGT der einzige Urlaub des Jahres sein soll, gerät die Wichtigkeit des Treffens in den Hintergrund.
Gibt es eine Lösung?
Für viele bleibt das WGT das wichtigste Szeneevent. Ich behaupte sogar, weltweit. Es gibt nur wenige Festivals, die eine ähnliche Strahlkraft besitzen und so viele Facetten der Szene an einem Ort bündeln. Nirgendwo sonst gibt es einen ähnlich musikalische Vielschichtigkeit, nirgendwo sonst ist soviel Kultur für und aus der Szene zu sehen.
Ob das WGT an einem anderen Standort besser aufgehoben wäre? Ist es überhaupt möglich, soviel Auftritte und Events in einem anderen örtlichen Rahmen (zum Beispiel auf einem Flughafengelände) stattfinden zu lassen? Was meint ihr?
Jeder hat bei der Frage „Wie sehen echte Gothics aus?“ wohl ein anderes, spontanes Bild im Kopf. Stöbert man im Internet nach „echten“ Gothics, so bekommt man meist aufwendig geschminkte, toupierte und gestylte Menschen vorgeschlagen, die dem Stereotyp des Gothics am ehesten entsprechen. Im Eulenforst, dem offiziellen und ganz fantastischen Spontis-Youtube-Kanal, hat sich Ehegrufti Orphi mit dieser Frage beschäftigt. Das Ergebnis könnte Euch (!) allerdings überraschen.
Hintergrund: Gothic-Polizei bei TikTok
Grund für das Video war ein Reaction-Video, das Orphi gemacht hat und das unter dem Titel „Gibt es bei TikTok eine Goth-Polizei?“ die junge Youtuberin „Drama Kween“ vorstellt, die sich mit eben dieser Frage beschäftigte. Muss man ein besonderes Styling haben, um ein Teil der Szene zu sein?
Allerdings ist „Drama Kween“ schon der erste Teil eines Eindrucks, dem sich wohl niemand, der sich für die schwarze Szene interessiert, entziehen kann. Aufwendiges Styling, atemberaubende Schimkkünste und perfekte Frisur. Das Internet präsentiert stets eine klischeehafte Bilderflut, die wohl den meisten Gothics, die sich jeden Tag durch die Tristesse des Lebens quälen, nicht ähnlich sieht. Dennoch warten überall, wo man versucht dem Gedanken des „Gothics“ auf die Spur zu kommen, gut gestylte, perfekt geschminkte und brillant toupierte Stereotypen darauf, euch unterschwellig zu vermitteln, dass ihr mit einem schwarzen T-Shirt, einer schwarzen Jeans und ein paar Pikes kein Teil der Szene sein könnt. Stimmt natürlich nicht!
Doch wie sehen echte Gothics nun aus?
In ihrem großartigen Video stellt Ehegrufti Orphi einige von Menschen vor, die auf den ersten Blick mit der Szene wenig zu tun haben, aber die unter der unscheinbaren Oberfläche einiges zu bieten haben. Hier zeigt sich, wie sehr der äußere Eindruck täuschen kann. „Don’t judge a book by its cover“, sagt der Engländer
Sicher, da pflichte ich Orphi bei, machen wir zu Festivals und Events immer ein bisschen mehr aus uns, auch wenn wir an die Styling-Kunstwerke der Gothics aus der besagten Internet-Suche nicht heranreichen. Aber letztendlich sieht der Gothic unter der „Haube“ – die mitunter viel Übung und Geschick benötigt – ebenso unscheinbar aus.
Die Message, die rüberkommt, ist klar. Junge Nachwuchsgruftis, die die Szene für sich entdecken, sollten ihre Szenezugehörigkeit nicht allein vom äußeren Erscheinungsbild abhängig machen. Es gibt soviel wichtigere Dinge, die einen „echten“ Gothic ausmachen, als ein Talent und eine Leidenschaft für das perfekte Styling. Orphi bringt in ihrem tollen Video die Sache auf den Punkt und präsentiert Euch Menschen, die schon lange in der Szene unterwegs sind und die einen Beitrag dazu leisten, dass „Gothic“ viel mehr ist als ein Fashion-Label. Die sehen auch alle fantastisch und umwerfend aus, aber eben nicht so, wie es die sozialen Kanäle einem vorgaukeln.
Gothic Americana ist eine neue Kollektion von Dr. Martens, die „den Western-Style auf eine Gothic-inspirierte Art und Weise neu definiert.“ Aus dem anfänglichen Fragezeichen, das über meinem Kopf schwebte, wurde eine ganze Gruppe an Zeichen, die Dinge wie Unverständnis, Abneigung und Verwunderung symbolisieren könnten. Wir riskieren einen Blick auf die eigenwillige Verknüpfung von Gothic, Western und Amerika.
Dem Schuhhersteller Dr. Martens geht offensichtlich nicht nur die Kohle aus, wie wir in diesem Beitrag berichtet haben, sondern auch die Szenen und Trends, mit denen sie ihre „modische Rebellion“ unterstreichen.
Die Gothic Americana Kollektion
Mit der aktuellen Kollektion möchte man offenbar das musikalische Genre „Gothic Country“ abbilden und das „klassische, ausdrucksstarke Dr. Martens Designs mit einem stilvollen Western-Twist“ aufpeppen. Wie so eine Mischung aus Western-Stiefel und Dr. Martens, wobei sich das allerdings auf ein paar weiße Stickerei-Applikationen und Druckknöpfe beschränkt. Dazu hat man sich den Künstler „Denzel Himself“ als musikalisches Zugpferd vor den Karren gespannt, denn der selbsternannten „Goth Cowboy“ wäre das perfekte Gesicht für die Kampagne, so Dr. Martens auf seiner Webseite.
Denzel Himself posiert in seinem Instagram-Account für die Dr. Martens Kollektion von „Gothic Americana“
Ich bin jetzt sicher kein Experte, was die Einordnung von Musik in Schubladen angeht, allerdings ist das, was „Denzel Himself“ auf seinem YouTube-Kanal präsentiert, kein Gothic, Country oder Western. Meiner bescheidenen Meinung nach. Sowieso scheint „Gothic Country“ ein Genre zu sein, in das keiner hinein will, sondern nur hineingesteckt wird, so wie dieses tolle Album von Johnny Cash zum Beispiel.
So wirkt dann auch der Trend, der hier präsentiert wird, auf mich irgendwie künstlich und wenig authentisch. „Gothic Americana“ wirkt wie ein an den Haaren herbeigezogener Trend, der weder eine musikalische noch eine subkulturelle Quellen zu haben scheint.
Aber Hand aufs schwarze Herz, das Label „Gothic“ ist ein öffentlicher Zug, bei dem sich jeder eine Fahrkarte kaufen kann. Es sei auch jedem gegönnt, den vorhandenen Interpretationsspielraum für seine Kunst zu nutzen. Ich bin, wie ich bereits in verschiedenen Zusammenhängen betont habe, kein Label-Guard, der penibel auf die Einhaltung von Regeln pocht, wenn ein Schuh sich „Gothic“ oder eine Musikrichtung „Gothic Western“ nennt.
Allerdings darf ich behaupten, dass weder die Schuhe noch die damit verbundene Musik in meine „Gothic-Welt“ passen. Es erscheint mir wie eine weitere Falschauszeichnung eines weiteren Trends, der Gothic zum Fashion-Merkmal degradiert.
Ich habe den Eindruck, als müsste ich das mal an dieser Stelle differenzieren. Einfach mal so für die Suchmaschinen, die fragen könnten „Ist Gothic Americana wirklich Gothic?“
Mein Vorschlag zur Güte, liebes Dr. Martens Team. Wenn ihr schon Gothic irgendwo draufklebt, dann macht doch zumindest ordentliche Totenkopf-Schnallen dran, druckt umgedrehte Kreuze darauf oder stickt Pentagramm-Applikationen ins Obermaterial. Killstar gibt sich doch auch redlich Mühe, dem Gothic-Universum gerecht zu werden. Ich verlange ja keine spitzen Docs, obwohl das sicherlich mal ein spannendes Photoshop-Projekt wäre.
Zum Schluss noch ein bisschen Information mit Recherche.
Am vergangenen Wochenende war unsere Leserin Maren unterwegs, um im Kulturzentrum „Grend“ in Essen die Auftritte von Isla Ola, Die Tödin und Twin Noir in einem familiären Umfeld (ungefähr 100 Zuschauer) zu genießen. Es hat sich gelohnt, soviel will ich vorweg nehmen und das in mehrfacher Hinsicht, denn Maren hat ihre Eindrücke in einem Konzertbericht aufgeschrieben, den sie mit Euch teilen möchte. Wie nennt sie ihren Bericht noch gleich? „Aufbruch aus dem Schutz der nebligen Wälder zum Chaostanz in einer absurden Welt.“
Isla Ola: Im Schutz des Nebels
Anfahrt aus den Wäldern in Nebel und Nieselregen – so gestaltete sich meine mentale Vorbereitung auf ein Konzert, für dessen Besuch die Initialzündung durch den hervorragenden Artikel von Gruftwurm erfolgt war. Ich selbst wäre nie in der Lage Isla Olas Musik so treffend zu beschreiben, wie er es getan hat. Ich kann Musik ohnehin nicht fachgerecht beschreiben, ich kann nur sagen, wie sie auf mich wirkt. Deswegen bleibt mir auch nur zu sagen, dass ich ihren Auftritt genauso empfand, wie er es geschildert hatte.
Dass Isla Ola den Anfang machten, erleichterte mir das Ankommen in einem Umfeld, in dem ich mich nicht oft bewege, denn ich konnte weiterhin im Nebel verweilen, zu den melancholischen Klängen der Stimme der Sängerin die Umgebung komplett ausblenden und mich nur auf mein Innenleben fokussiert der Illusion hingeben, ich sei immer noch allein. Ich hätte diesen Weg im „Nebel der Emotionen“ wie Gruftwurm es nannte noch ewig beschreiten können, aber mit dem Ende von Isla Olas Auftritt war es nun auch für mich an der Zeit meine Aufmerksamkeit auf die tatsächliche Umgebung zu lenken.
Die Tödin: Reise ins Herz der Finsternis
Die Bühnenbeleuchtung wechselte von kaltem Blau zu beunruhigendem Rot, passend zu dem Auftritt der Künstlerin, die all meine Erwartungen völlig in den Schatten stellte.
Die Tödin war bislang diejenige, von der ich noch nichts gehört hatte. Natürlich hörte ich mir im Vorfeld einige Lieder an, ohne dabei jedoch eine Ahnung zu bekommen, was mich wirklich erwarten würde. Interessanterweise ordnete ich sie dabei Richtung NDT ein, was andere wohl genauso gesehen haben. Meine Sympathie gewann sie schon in der Umbaupause, als sie auf der Bühne einen Altar der Finsternis mit Kerzen, Räucherwerk und Flakons mit Elixieren, über deren Wirkung man nur spekulieren kann, errichtete. Reinhörtip: „Gift“. Erinnerung an meine Wohnheimküche von damals wurden geweckt. Vor dieser Kulisse zelebrierte sie dann durch Mimik, Gestik und Bewegung eindrucksvoll Dunkelheit und Schmerz. Gegen die zwanghafte Heiterkeit „Wir wollen doch jetzt mal alle schön fröhlich sein“, die andere versuchen einem zu oktroyieren, bot sie in ihren Texten alles auf, was man mit der dunklen Welt in Verbindung bringen kann: vom Schatten bis zum dunkelsten Keller, der bis zum Armageddon als Rückzugsraum dient, von Nosferatu bis Satan und ihm zugeschriebenen Symbolen.
Dabei brach sie mit Tabus, indem sie ihren Hang zur Selbstzerstörung voll auslebt in einem expressiven Tanz zu düsterer, teils aggressiver Musik. Unterstrichen wurde ihr Auftritt durch ihr Erscheinungsbild, das vor allem in ihrem Make-up dunkle Emotionen widerspiegelt. Eine gelungene Ästhetisierung ihres inneren Schmerzes.
Vor dem Konzert wurde ich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass es völlig krank sei, sich solche Musik anzuhören. Ich denke, dass das Gegenteil der Fall ist. Der „Dunkeltanz“ der Tödin bietet einem die Chance, mit ihr ins eigene Herz der Finsternis zu reisen und sich dem zu stellen, was man dort vorfindet.
Twin Noir: Chaos und Party des Absurden
Twin Noir: Cody Barcelona und Ian Volt
Das Duo aus Berlin, das auf die Tödin folgte, Twin Noir, hatte ich im vergangenen Jahr als Support von „She past away“ erleben dürfen und freute mich daher darauf, sie wiederzusehen. Ihr erster Song „Ich tanz“ (die ganze Nacht allein) stellte eine gute Verbindung zu Isla Olas „Wo bist du hin?“ her. Sowohl inhaltlich als auch musikalisch schimmerten hier noch Einsamkeit mit wavigen Klänge durch. Dann zogen Cody Barcelona und Ian Volt aber ihr ganz eigenes Ding durch. Ihren Musikstil beschreiben sie selbst am besten auf ihrer Homepage.
Ihre Bühnenshow war geprägt von geplantem Chaos, das sie mit ihren Fans feiern. Dabei beansprucht Cody Barcelona nicht nur die Bühne für sich, sondern zwischendurch auch schon mal den ganzen Saal. Auch wenn man denkt, dass man nicht tanzen kann oder will oder sich einredet, man sei zu alt, ist es schier unmöglich, sich von dieser Energie, die die beiden versprühen, nicht anstecken zu lassen und ruhig stehen zu bleiben. Am Ende ist das schwarze T-Shirt fertig und man selbst auch. Diese Absurdität spiegelt sich auch in den minimalististischen Texten wider – oft eine Verknüpfung einzelner Sätze, die Assoziationen wecken und einem ein Grinsen entlocken über eine absurde Gesellschaft in einer absurden Welt.
Gehört dieses Duo nun zur schwarzen Szene? Cody Barcelona selbst hat diese Frage am Rande des Konzertes aufgeworfen. Nun, darüber zu befinden überlasse ich anderen, die mehr Ahnung haben als ich.
Für mich fügte sich gerade diese Mischung, dieser an sich verschiedenen Künstler und Bands aus melancholischer Sehnsucht, innerem Schmerz und gefeiertem Chaos zu einem großartigen Konzert zusammen. Die Frage nach meinem Favoriten konnte ich nicht beantworten, aber am meisten überrascht hat mich der Auftritt der Tödin, einem im Übrigen sehr sanften und freundlichen Wesen, wenn man direkt neben ihr steht.
Weitere Bilder:
Die Tödin Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Die Tödin Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Die Tödin Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Die Tödin Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Die Tödin Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Die Tödin Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Isla Ola Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Isla Ola Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Twin Noire Live im „Grend“ Essen am 03. Februar 2024
Heute Nacht dürft ihr nocheinmal dem Spontis-Radio fremdhören, denn um Mitternacht entführt euch unsere Leserin „Brittel“ auf Radio-Z ein zweites mal in ihre ganz persönliche Plattenkiste. Nach fast 13 Jahren ohne Radio kehrt sie als Gast-Moderatorin auf ihren alten Sendeplatz zurück. Sonntag auf Montagnacht ist sie in Nürnberg und Umgebung auf 95,8 MHz zu hören und darüber hinaus auch weltweit im Livestream auf www.radio-z.net
Brittel, die sich den Titel „Diplom-Plattenwerferin“ verdient hat, machte 10 Jahre subkulturelles Radio gemacht und dabei „schäbigen Unfug durch den Äther gejagt„, wie sie mir in einer E-Mail schreibt. Was wird gespielt?
„Ich spiele quer durch den Post Punk, Wave, Industrial und Elektronik Gemüse Garten. Schwerpunkt sind die 70er und 80er. Bringe aber auch eine Platte von „The Whispering Sons“ mit. Gestern war ich noch in meinem Stammtonträger Laden in Nürnberg und habe eine LP von „Schicksal“ gekauft. Zwei Singles von Nico habe ich dabei, eine dreier LP Box von Klinik, eine Single von „Die tödliche Doris“, „Spizzoil“ und eine LP von „Santrra Oxyd“, die habe ich übrigens mal in ihrer Wohnung interviewt – eine tolle Begegnung. Die habe ich damals in ihrer Wohnung interviewt. Das war einer der tollsten Begegnungen. Habe sie danach noch einmal privat in Berlin besucht und letztes Jahr nach über 16 Jahren wieder gesehen. An meinem Geburtstag. Mein erstes Telefon-Interview war mit Pyrolator. Und der Schlagzeuger von den Goldenen Zitronen war in meiner Sendung, der wegen der Liebe nach Fürth gezogen ist.“
Radio Z ist einer der ältesten freien Radio-Sender in Bayern und keiner der Macher weiß so ganz genau, warum man sich vor 35 Jahren für diesen Buchstaben entschieden hat. Brittel hat allerdings einige Male mitgewirkt und einen Erfahrungsschatz aufgebaut, von dem sie uns heute Nacht vielleicht etwas erzählen wird. Möglicherweise kann ich sie auch für ein paar „Anekdotensammlungen“ für diesen Blog überreden. Einige Bilder als Vorgeschmack hat sie uns gleich mitgeschickt:
Der Ghoul ist ein Intrigant, ein besonders fieser. Gut, das liegt in vielfacher Hinsicht in seiner Natur, denn wer Gräber aufbricht, um sich von den Körpern der Toten zu ernähren, hat möglicherweise einen ethisch-moralischen Kompass aus dem Reich des Bösen. Doch bevor der Ghoul ein echter Ghoul wurde, führte er ein anständiges Leben als Unfall-Paparazzi, der seinen Lebensunterhalt damit bestritt, das Unglück anderer Menschen als Nachrichtenmeldungen an den Boulevard zu verkaufen. Nachdem er selbst bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, wurde er dazu verdonnert, als Ghoul über die Friedhöfe zu schleichen. Und jetzt hat er auch noch dem Sukkubus Weihwasser in das Fondue gemischt, die sich daraufhin mit Durchfall quält. Gut das Alana Abendroth ihm einen Magenbitter reicht, um das schlechte Gewissen, die ausweglose Situation und die Erinnerungen von damals zu betäuben. Prost!
Ich überbringe freudige Kunde: Der Eulenforst auf YouTube ist wieder da! Knapp drei Jahre lang hat es mein Ehe-Grufti geschafft, den Drang, Videos über und mit ihren Leidenschaften zu machen, zu unterdrücken. Im Vordergrund ihres aktuellen Videos steht die Foto-Love-Story „Ratte macht die Fliege“, das noch dadurch bereichert wird, dass sie am Ende jeder Folge Original-Leserbriefe an Ratte vorliest, die man ihr damals geschickt hat. Aber der neue (alte) Eulenforst hat noch mehr zu bieten.
Was ist neu?
Der Kanal von Orphi Eulenforst ist der offizielle YouTube-Ableger von Spontis und bringt neben Video-Vorstellungen von alten Artikel aus Zeitschriften auch viele eigene Formate, die Orphi besonders gereizt haben. So hat sie viel Arbeit in ihre SIMS-Leidenschaft gesteckt und eine virtuelle Gothic-WG gegründet, die regelmäßig neue Abenteuer erlebt. 2 Folgen gibt es bereits, doch dazu später mehr. Aus sicherer Quelle weiß ich bereits jetzt schon, dass Orphi noch viele weitere Ideen in der Schublade hat, die sie bei entsprechendem Interesse auch sicherlich verwirklichen möchte.
Neu ist vor allem die Lust, wieder Videos zu machen, ohne sich einem imaginären Druck auszusetzen, möglichst viele Menschen zu erreichen. Trotzdem würde sie sich natürlich darüber freuen, wenn ihr den Kanal abonniert, die „Glocke“ aktiviert und die Videos liked und kommentiert, wenn sie euch gefallen ;-)
Über Ratte muss ich nicht viel erzählen, denn den meisten Lesern dürfte dieser Name ein Begriff sein. Die BRAVO-Artikel von damals machten nicht nur die Szene einem breiten Publikum bekannt, sondern sorgten auch für ordentlich Nachwuchs. Lasst euch von der Erfinderin des Genre „Let’s Read“ Orphi Eulenforst den ersten Teil der Foto-Love-Story vorlesen und schwelgt in den Erinnerungen! Als Besonderheit liest sie auch noch einen Original-Leserbrief vor, der damals an Ratte geschickt wurde! So bekommt ihr einen tollen Einblick, was Ratte den jungen Menschen damals bedeutet hat. Lasst Euch überraschen!
Gothic-WG
Orphis große Leidenschaft sind die SIMS, ein mittlerweile 20 Jahre altes Computer-Spiel, in dem der Spieler in einer Art „Lebenssimulation“ Aktionen und Entscheidungen seiner kreierten Spielfiguren beeinflussen kann. Allerdings möchte Orphi keinen klassischen Let’s Play Kanal anbieten, sondern vielmehr eine computergenerierte Soap. Dazu hat sie einen Gothic-Haushalt aus unterschiedlichen Charakteren gegründet, den sie nach und nach vorstellt und der im späteren Verlauf spannende Abenteuer erleben soll.
Übrigens: In den vielen Protagonisten der Gothic-WG steckt immer ein bisschen Wahrheit :) Der hübscheste Ehe-Grufti der Welt komplettiert das Spontis-Universum neben dem Radio auch um das bewegte Bild. Ich bin gespannt, was Orphi Eulenforst in Zukunft noch alles vom Stapel lässt. Abonnieren, Glocke aktivieren, Liken und kommentieren. Das hilft bei YouTube ungemein.
Dark Blossom ist ein gefühlvoller und bildgewaltiger Film über die Lebenswelt von drei dänischen Jugendlichen, die sich mit ihrer Freundschaft einen Schutzraum in der Gothic-Szene bauen, in dem sie gegen ihre Dämonen und ihre Isolation kämpfen. 2021 feierte die Dokumentation von der dänischen Filmemacherin Frigge Fri Premiere. Ich hatte die Ehre, den Film seinerzeit zu schauen und habe Frigge dann ein paar Fragen für ein Interview geschickt. Neben der tollen Dokumentation, die man sich jetzt endlich anschauen kann (eine ausführliche Erklärung findet ihr im ersten Kommentar), liefert die Filmemacherin einen spannenden Einblick in die Beweggründe für ihren Film, gibt Erklärungen zur Umsetzung und erzählt davon, wie sie ihre Protagonisten kennengelernt hat.
Worum geht es in der Doku Dark Blossom?
Auf dem Feld hinter dem Hof ihres Vaters sammelt die 20-jährige Josephine überfahrene Tiere, lässt sie verwesen um die Knochen der Tiere als Schmuck zu verwenden. Sie war nie ein Teil der Handball-Clique, und ihre unzähligen bunten Perücken, der große und schwere Nasenring sowie ein ausgestopfter Babyvogel im Glas machten sie in der kleinen Stadt in Dänemark, wo sie aufwuchs, zur Außenseiterin. Auf der Suche nach Sinn und Verbundenheit fand sie zwei Freunde in der Gothic-Szene – die ausdrucksstarke und stets kreative Maximalistin mit dem selbstgewählten Namen „Nightmare“ und den nachdenklichen Jay, der in einem Haus der Inneren Mission aufwuchs.
Bewaffnet mit Schädeln, schwarzem Make-up, wilden Outfits und toupierten Mohawks kämpft diese gotische Dreieinigkeit darum, die Kontrolle über ihre Einsamkeit und die inneren Dämonen zu erlangen und sich einen Rückzugsraum zu schaffen, in dem sie sich entwickeln können. Gemeinsam schaffen sie einen Raum, in dem sie frei durchstreifen, Normen schieben und die Welt erobern können.
Doch eines Tages trifft Josephine Jan auf Instagram und verliebt sich kopfüber in ihn. Nachdem nur drei Monaten Beziehung verfolgen sie ihren Traum, der Enge der Kleinstadt zu entfliehen. Sie ziehen zusammen in eine Wohnung im 14. Stock in einem Vorort von Kopenhagen ein. Als ihr schwarzes Herz für etwas anderes zu schlagen beginnt, als für die Dunkelheit, wird die Freundschaft der drei auf die Probe gestellt.
Dark Blossom ist ein berührender Einblick in eine Freundschaft der Unkonventionellen
Für den Außenstehenden, an die sich die Dokumentation richtet, mag es befremdlich wirken, wenn in einer Szene, die sich in düsterer Musik einhüllt und sich so gerne Tod und Okkultismus beschäftigt plötzlich Platz für Verletzlichkeit und Gefühle entsteht.
Frigge Fri lädt den Zuschauer ein, in die Welt der Jugendlichen einzutauchen und ihre Gedankenwelt in experimentellen und kreativen filmischen Ansätzen zu erforschen. Es erscheint überhaupt nicht notwendig, die Theatralik der Gothic-Szene zu erklären, sondern sie als Leinwand zu zeigen, in der sich die drei Freunde darstellen und ausleben können.
Josephine, Jay und Nightmare haben eine einzigartige Bindung. Sie fallen auf, wenn sie durch die Vorstadtstraßen Dänemarks gehen, die Menschen werfen ihnen unverblümt auch weitere Blicke hinterher. Frigge normalisiert das Bild, indem sie die drei 4 Jahre begleitet und den Zuschauer in die Welt zwischen Tierpräparation und Wave-Gotik-Treffen eintauchen lässt. Wir erleben, wie sie durch ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zusammenwachsen, lachen mit ihnen, wenn sie sich gegenseitig ärgern oder ihre Eltern am Telefon belügen und fühlen mit ihnen, wenn sie sich voneinander entfernen. Frigge normalisiert die Unkonventionalität, in dem sie uns auch das Leben der einzelnen Charaktere außerhalb ihrer Bindung und Selbstdarstellung zeigt, wie sich jeder einzelne versucht, in die Realität einzufügen.
Wir erleben eine 80-minütige „Coming-Of-Age“ Geschichte, die uns intime Einblicke in drei Menschen und ihre Freundschaft geben, ohne aufdringlich zu wirken. Man fühlt sich wie ein Teil ihrer Gemeinschaft und fühlt den Herzschmerz, als die Freundschaft der drei auf die Probe gestellt wird. Frigge zeigt, dass Freundschaften wachsen und auseinander wachsen, zeigt die Konflikte, die durch Entwicklungen einzelner Charaktere entstehen, ohne das Gefühl von Voyeurismus zu erzeugen.
Dark Blossom ist ein großartiger Film. Wenn sich das Ende musikalisch entfaltet, fühlt es sich an, als hätten wir Monate mit Josephine, Mareridt und Jay verbracht. Die emotionale Art und Weise der Bilder, die Frigge Fri uns präsentiert, lässt kaum Distanz zu den Dreien spüren. Im Gegenteil, das Ende lässt uns mit persönlichen Erinnerungen zurück, überall finden sich Anknüpfungspunkte an die eigene Gefühlswelt.
Dark Blossom – Interview mit Filmemacherin Frigge Fri
Wer ist Frigge Fri und wieso hast du Dich für die Lebenswelt der Jugendlichen interessiert, die du in deiner Dokumentation „Dark Blossom“ porträtierst?
Ich bin in einem Vorort von Kopenhagen mit meiner Mutter, die Künstlerin ist, meinem Vater, der Musiker ist, und einem kleinen Bruder aufgewachsen. In meiner Grundschule gehörte ich nie zu den Beliebten, weil ich lieber zeichnete als Fußball zu spielen. In dem Moment, in dem ich alt genug wurde, um die Stadt zu verlassen, nahm ich den ersten Bus in die Innenstadt von Kopenhagen und fand zum ersten Mal in meinem Leben eine verständnisvolle und selbstbewusste Gemeinschaft. Ich fand eine Subkultur im „Ungdomshuset“ (das Haus der Jugend) ein Treffpunkt für Autonome, Künstler und Linke.
Nach langwierigen Konflikten mit der Regierung wurde das Haus 2007 abgerissen – damals war ich 17 Jahre alt. Es war eine sehr schreckliche und traurige Zeit für mich und meine alternativen Freunde. In diesem Moment wurde mir klar, wie wichtig es ist, das Ungewöhnliche, Andersartige und Wilde in der Gesellschaft zu schätzen, denn ich hatte das Gefühl, dass die Regierenden uns jungen Menschen etwas weggenommen hatte.
Wie hast du die Protagonisten deiner Dokumentation Josephine, Nightmare und Jay kennengelernt?
Im Sommer 2017 begann ich mit den Recherchen für den Dokumentarfilm. Ich war fasziniert davon, wie junge Menschen Instagram als Plattform nutzen, um sich selbst auszudrücken. Wie diese Plattform ein sicherer Raum sein kann und ein Ort, um kleine Nischen, Faszinationen und Träume zu kultivieren und Menschen über Städte und Grenzen hinweg zusammenzubringen.
Eines Tages fand ich ein Profil mit dem Namen ‚Girly_Goth‘. Ich war von dem, was ich sah, total angezogen und angetan. Ein ungeschliffenes, junges Mädchen namens Josephine, das täglich ausdrucksstarke Selfies aus ihrem Jugendzimmer postete. Sie war düster, verspielt, sehnsüchtig und sehr selbstdarstellerisch – das hat mich beeindruckt.
Mir wurde klar, dass sie in der dänischen Stadt, in der sie lebte, nicht Teil der großen Gemeinschaft war. Sie hatte ihren Platz in den virtuellen Gemeinschaften im Internet für alternative junge Menschen gefunden.
Ich habe herausgefunden, dass Josephine Teil eines düsteren Trios war – eine Art von Dreifaltigkeit mit ihren Freund Jay und Mareridt. Gemeinsam hatten sie genau jene einzigartige Gemeinschaft geschaffen, die in ihrem normalen Leben fehlte und bauten sich so einen sicheren Raum, in dem sie Ausschluss vor der Außenwelt fanden. Ich liebe es, wie sie sich gegenseitig ergänzen. Ich nahm Kontakt auf und von da an wurde ich irgendwie ein Teil der Clique und begleitete sie 4 Jahre lang.
Nightmare inszeniert sich mit Fasan auf einer alten Festung | (c) Frigge Fri
Nightmare in seinem Wohnzimmer – Er hat nicht viele Möglichkeiten, sich auszuleben. | (c) Frigge Fri
Josephine mit einem (künstlichen) Augapfel im Mund | (c) Frigge Fri
Josephine auf der Sonnenliege. Nicht wegen der Bräune, soviel steht fest | (c) Frigge Fri
Jay, Nightmare und Josephine im Supermarkt | (c) Frigge Fri
Wenn man Josephine, Jay und Mareridt einer Szene zuordenen wollen würde, wäre „Gothics“ sicher eine treffende Einordnung. War es Dein Ziel einen Film über die Szene oder einfach nur über junge Menschen zu machen?
Mir war es nicht wichtig einen Film zu machen, der eine Szene beschreibt oder die Leute über die Gothic-Kultur aufklärt – es ist natürlich toll, wenn der Film das auch kann – aber für mich war das Wichtigste bei Dark Blossom zu zeigen und nicht zu erzählen.
Mein größtes Ziel war es, zu zeigen, wie wichtig es ist, sich mutig zu sein und die Möglichkeit zu haben, sich auszudrücken. Und vor allem, dass man dies in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen tun kann. Josephine, „Nightmare“ und Jay haben alle eine starke kreative Ader und nutzen diese, um die Dunkelheit auszudrücken, die jeder von ihnen mit sich herumträgt. Und genau dieses Kanalisieren von zum Beispiel Einsamkeit, Angst und Unverständnis aus ihrem Umfeld finde ich eine große Inspiration.
Du hast während der Dreharbeiten zu deiner Dokumentation sicher eine Menge Leute aus der Szene kennengelernt und hast zusammen mit der Clique das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig besucht. Wie würdest du die Gothic-Szene beschreiben?
„Nightmare“ hat mir einmal gesagt: „Was ich an Goth einzigartig und besonders finde, ist, dass er dir eine Leinwand bietet, um deine extremen Gefühle zu zeigen„. Und ich denke, das fasst genau zusammen, warum ich als Mensch und Filmemacherin das so schön finde – und auch, wie ich die Goth-Szene ungefähr erlebe.
Sie ist so voll von Ausdruck, Kreativität und Neugierde. Die Teile der Gothic-Szene, die ich erlebt habe, und die Menschen, die ich in der Community kennengelernt habe, zum Beispiel beim Wave-Gotik-Treffen, waren so einladend, aufmerksam und lustig. Und dann mag ich einfach die Ästhetik, die Musikszene und die Mischung aus Eitelkeit und Humor, in der man sich wohlfühlt.
Was meinst du, warum kann die Gothic-Szene ein „Zuhause“ für so viele Menschen sein?
Ich denke, es gibt viele verschiedene Gründe, warum man sich in der Gothic-Szene „zu Hause“ und wohl fühlen kann. Da ist natürlich die Anziehungskraft der Musik, der Ästhetik, der Literatur usw., die einem das Gefühl gibt, perfekt zu sein oder mit etwas verbunden zu sein, auf das man sich beziehen kann. Ich glaube, viele in der Gothic-Szene haben sich irgendwie entfremdet gefühlt und hatten das Gefühl, keine Gemeinschaft zu haben. In einer Szene zu sein und Teil einer Gemeinschaft zu sein, die dir keine dummen und feindseligen Fragen über dein Aussehen, deine Sexualität, dein Geschlecht, deine Interessen und so weiter stellt, muss die Definition eines sicheren und geräumigen Zuhauses sein.
Josephine, „Nightmare“ und Jay unterwegs in einer Leipziger Pizzeria im Rahmen des Wave-Gotik-Treffens
Kommen wir zurück zu Deinem Film. Was willst du mit deiner Dokumentation rüberbringen, erzählen, worauf möchtest du aufmerksam machen?
Ich denke, der Film „Dark Blossom“ ist wichtig, weil er den starken und gleichzeitig verletzlichen Außenseitern Tribut zollt. Der Film soll jungen Menschen, die aus der Norm fallen, einen Spiegel der Solidarität vorhalten, eine Inspiration für die Kreativen und Schwachen sein, aber auch Intoleranz, soziale Kontrolle und Mittelmäßigkeit in unserer Mitte ansprechen und darauf aufmerksam machen. Es ist auch ein Aufruf, neugierig auf uns als Menschen zu bleiben. Ich hoffe, dass das Publikum durch seine eigenen Vorurteile und vorgefassten Meinungen über diejenigen, die anders sind als die Norm, bis ins Mark erschüttert wird. Genauso hoffe ich, dass der Film denjenigen, die anders sind, den Mut und das Selbstvertrauen gibt, die Norm herauszufordern und sich selbst auszudrücken. Ich hoffe auch, dass Dark Blossom fasziniert und inspiriert, dass er ein Gefühl des Wiedererkennens auslöst und so den Weg in all unsere schwarz schlagenden Herzen findet.
Dein Erzählstil berschränkt sich darauf, Bilder und Menschen sprechen zu lassen. Das faszinierende für mich als Zuschauer ist, dass alle 3 in einem völlig unterschiedlichen Licht erscheinen. Wie würdest du Josephine, Marerdit und Jay beschreiben?
Josephine ist neugierig, liebevoll und kann sich auf so viele Arten ausdrücken. Ihr Aufwachsen war von Einsamkeit geprägt und schon früh fand sie einen ganz besonderen Zugang, um in ihr eigenes Ausdrucksuniversum zu verschwinden. Ihr sicherer Raum war ihr Zimmer, und um die Leere der Einsamkeit zu füllen, begann sie, sich kreativ auszudrücken und ihrer Faszination für Roadkills und bunte Perücken freien Lauf zu lassen.
„Nightmare“ ist ein ausdrucksstarker, extravaganter und sensibler Multikünstler, der Musik und erstaunliche Designs macht. Schon in jungen Jahren fühlte er sich mit dem Okkulten, der Hexerei und der Goth-Kultur verbunden. Er entdeckte, dass er durch die Möglichkeit, verschiedene Seiten von sich auszudrücken, einen Teil des Chaos in und um ihn herum kontrollieren und konstruktiv nutzen konnte.
Jay ist nachdenklich, klug und sensibel. Er ist halb Amerikaner und wuchs in einem Heim der „Inneren Mission“ auf, was den Großteil seiner Erziehung bestimmt hat. Fragen der Identität begannen sich in Jay zu regen und sein Bedürfnis, die dunkle Natur, die auch ein Teil von ihm war, zu bewältigen und auszudrücken, wuchs. Er verlor sich in Gothic-Märchen, verschiedenen Gothic-Musikgenres und wildem Make-up.
Alle 3 scheinen aus verständnisvollen Familien zu kommen, wuchsen in einer scheinbar behüteten Umgebung auf dem Land aufgewachsen und scheinen in der Lage zu sein, alle Möglichkeiten, die ihnen die ihnen zur Verfügung stehen. Trotzdem spricht die Beschreibung des Films von den „inneren Dämonen“, mit denen sie kämpfen. Welche Fratzen zeigen die Dämonen in deiner Wahrnehmung?
Ich stimme nur teilweise zu, dass sie in verständnisvollen Familien aufgewachsen sind. Ich habe mich dafür entschieden, dass der Film sehr wenig mit ihren Familien zu tun haben sollte. Es gibt nur wenige Szenen im Film, in denen die Eltern mitspielen, und für mich war es wichtig, im Filmmaterial nach unterstützenden und freundlichen Momenten zu suchen, statt nach Unverständnis und Unwissenheit, die tatsächlich sehr präsent waren.
Die Dämonen sind Teil des Lebens. Und im Film werden sie auf viele Arten, Lichter und Figuren gezeigt. Sie erscheinen zum Beispiel in „Nightmare’s“ Modenschau, in Jays gruseligen Monstergeschichten, in der ausdrucksstarken Geräuschkulisse, in einer verwackelten Kamera oder wenn Josephine ‚Nightmare‘ erzählt, wie sehr sie Jütland hasst, wo sie aufgewachsen ist.
Dein filmischer Stil hebt sich wohltuend von der Gleichförmigkeit der Dokumentationen ab. Mit Josephine im Besonderen scheinst du ihre Persönlichkeit mit spannenden Einstellungen einfangen zu wollen. Die Ideen für die Einstellungen kamen von Josephine oder bist du deinen eigenen Vorstellungen gefolgt?
Die Arbeit an Dark Blossom war eine Zusammenarbeit mit Josephine, „Nightmare“ und Jay. Ich habe eine enorme Zusammengehörigkeit und Fusion mit ihnen gespürt. Ich war daran interessiert, ihre Faszinationen, Träume, Ausdrücke und ihre Ästhetik durch meine Art, die Kamera zu halten, zum Ausdruck kommen zu lassen. Ich bin ein sehr visueller Geschichtenerzähler und es ist mir wichtig, Geschichten mit anderen Mitteln als mit Worten zu erzählen: die Art des Schnitts, die Geräuschkulisse mit Tierschreien, die Mischung von Formaten, der Einsatz von Nachtsicht, enge Tableaus mit Porträts und bunten Blumen auf den Feldern. Josephine, „Nightmare“ und Jay sind wie Chamäleons, die ihre Gestalt und Form verändern – genau wie der Film.