Es gibt ja so Ideen, bei denen man sich nicht so sicher ist, ob es die beste Eingebung seit langem, oder die bescheuertste seit einer großen Weile ist. Zum Melting Sounds zu fahren war so eine. Nach der Erstellung des Festival Guides 2015 hatte mich unweigerlich das Festival-Fieber und das Verlangen nach livemusikalischer Beschallung gepackt und nachdem hier durchschnittlich nicht so wirklich viel geht, hatte ich spontan den Entschluss gefasst, dass ich hier mal raus und was für meine düsterschwarze Seele tun muss. Also Festivalticket gebucht und die Fahrt klar gemacht – mit dem ersten Zug nach Hause – und hier setzen meine Bedenken ein, aber Leben findet nun mal außerhalb der Komfortzone statt.
Freitagnachmittag, gegen 15 Uhr. Ich stehe in der Innenstadt in der frühlingswarmen Luft und warte auf meine Mitfahrgelegenheit und werde mir der seichten Nervosität, die ich schon seit dem Kauf des Tickets verspüre so richtig bewusst. Hoffentlich lohnt sich das. In der Sonne fahren wir durch Wiesen und Feldern, irgendwo da, wo die Zivilisation zu Ende, aber die Welt wunderschön ist. Vor Bochum begrüßt mich die orangeuntergehende Sonne im Licht gefärbten Nebel über den Wäldern. Hesses „Im Nebel“ fällt mir ein. Was für ein grandioser Auftakt des Abends! (Was für ein Jammer, dass ich so sehr vom Anblick gefesselt war, dass es nicht für ein Foto gereicht hat)
Punktlandung in Bochum. Von außen macht der Bahnhof Langendreer einiges her. Renovierter Backsteinbau, heimelig beleuchtet. Am Eingang werden mir erst mal Süßigkeiten angeboten (wtf, so was Cooles hab ich ja noch nirgendwo erlebt, sollte mal zum Standard erhoben werden…) und mein Online-Ticket gegen eine richtige Karte getauscht. Von innen ist die Location leider ziemlich beliebig, aber ich bin ja wegen der Musik da. Gerade als ich mir mit meinen ersten Getränk einen Platz gesucht habe betritt Matt Howden (Sieben) mit seiner Violine die Bühne. Wobei betreten eigentlich falsch ist, es zieht ihn förmlich dort hin und noch vor dem ersten Ton spürt man die unheimliche Energie und Begeisterung, die von diesem Mann ausgeht, welche sich mit den ersten Takten die Bahn brechen. Matt spielt und fühlt, ich höre und versuche nicht grenzdebil zu grinsen. Aber, es ist zu hell und das Publikum befindet sich wohl noch im Auftauprozess.
Nichts desto trotz – großartig – und ich verstehe warum manche Konzerte im Sitzen genial sein müssen – weil man dem Bedürfnis sich in die Klänge fallen zu lassen auch mit seiner ganzen physischen Existenz hingeben kann – ohne eine unsanfte Begegnung mit dem Boden zu haben.
Bis in den Kern – und meine Knie werden weich
Umbaupause. Ascetic: springen auf die Bühne. Hüpfen sich warm, sind voller Vorfreude. Ich auch. Was im Kopfhörer, wie blaues Feuer um sich greift, überschwemmt live den Raum und trägt alles mit fort. Mich zumindest. Das Publikum ist sonst eher noch immer etwas verhalten (Kennt ihr das? Auf Konzerten? Die Band spielt und vergeht fast und das Publikum steht mich verschränkten Armen und wartendem Gesichtsausdruck da, strahlt einfach mal kein Empfinden aus und von hinten schwappt beständig Stimmgemurmel in die Klänge? – voll unentspannt!), sollte aber noch in Wallung geraten. Nichtsdestotrotz macht sich mit dem Spiel eine schwere, umfassende Düsternis breit. Pulsiert. Bis in den Kern – und meine Knie werden weich.
Wieder Pause, wieder zu viel Licht. Dann: Aeon Sable. Vor diesem Act hatte ich ja ehrlich gesagt etwas Angst. Ich habe die schon mal gesehen. Auf dem letzten WGT. In der Theaterfabrik. Bei 36 Grad im Schatten. Unter schlecht gestrichenen Oberlichtern. Mit einer anderen Erwartung, als am Freitag. Das war naja, eben nicht das, was ich erwartet hatte. Am Freitag war ich dann mit einer anderen Vorstellung hingegangen. Das war besser. Nicht so genial, wie die Künstler zuvor, aber das Publikum kam langsam in Bewegung und ich hab einfach etwas von dem Gefühl zuvor mitgenommen. Und insgesamt durchaus atmosphärisch und irgendwie…warm. Das Melting Sounds machte seinem Namen alle Ehre.
Morgennebel im Halbschlaf
Mit Soror Dolorosa war all das Gefühl dann endlich auch beim Rest der Versammlung angekommen. Die Beschreibung von Andy Julia als etwas arrogant und bei Auftritten tendenziell an- bzw. betrunken trifft zu, dass er keinen Ton trifft allerdings nicht. Er trifft die Töne, die Töne treffen ins Herz und seine ganze Ausstrahlung entbehrt zwar nicht der Theatralik, tut der Sache aber keineswegs Abbruch. Floating Sounds – und jetzt strahlt das Publikum endlich voll und ganz zurück.
Großartig! Ganz, ganz großartig! Mein Gesicht und meine Finger kribbeln immer noch, während ich das schreibe und jeden Moment, den ich daran denke.
Die anschließende Aftershow-Party kämpft mit An- und Durchlaufschwierigkeiten, animiert aber durchaus immer wieder zum Schwingen des Tanzbeines und ich habe noch eine nette Unterhaltung über das Plattencover von Soror Dolorosa, erinnert nämlich irgendwie an Abba… Als ich um kurz vor vier Richtung Bahnhof aufbrechen muss, möchte ich eigentlich gar nicht gehen. Sicher auch weil ich weiß, dass mein Bett noch einige hundert Kilometer entfernt ist. Im Zug im Halbschlaf durch den Morgennebel, im Kopf Gefühlsnebel. Schmelzende Töne klingen nach.
Fazit: Beste Idee seit langem ;)
Zum weiterlesen und schauen: Ein Bericht auf Trailer-Ruhr rundet das Erlebnis ab. Tolle Bilder hat Daniel Beiderwieden gemacht, die man sich in seinem Blog anschauen kann und die natürlich auch im Facebook-Profil des Festivals zu sehen sind.