Musikalischer Briefkasten #9 – Eine Einheit Fledermäuse und der Sturz der Monarchie

Tag für Tag gelangt man nach Hause, schaut auf die Uhr und fragt sich, wohin nur all die Zeit entflohen ist. Wofür ging sie dahin? Was bleibt? Und dann kommt der Moment, an dem man sich fragt, wann zuletzt der musikalische Briefkasten inspiziert wurde…

Ich finde einen Haufen Mails, die sehnlichst auf einen Leser warten. Gefühlt 75% davon sind Hinweise auf Neuveröffentlichungen von drei altbekannten Labels, welche Spontis quasi mit Tipps zuspammen. Mich wundert einerseits, dass die Auswahl jener Labels bisher noch so übersichtlich ist. Gibt es neben A+W, Mannequin, Dead Wax nicht noch mehr Labels, die Spontis auf dem Schirm haben und mit Einsendungen bombardieren wollen?

Hier stehe ich andererseits vor einem Dilemma: Was davon nehme ich in den Beitrag und was nicht? Eigentlich ist der Anspruch, euch das vorzustellen, was an Spontis herangetragen wird, aber nähme ich alles der genannten Labels, machte dies auch keinen Sinn. So lese ich denn künftig die „guten ins Töpfchen und schlechten ins Kröpfchen“ – Soll heißen, ich stelle euch die aus meiner Sicht relevanten Tipps vor und liste die anderen am Ende des Beitrags einfach auf – sofern die Menge nicht Überhand nimmt. Direkte Einsendungen über das Kontaktformular von Künstlern werden unabhängig davon berücksichtigt.

Nach ein wenig Sortieren schnappe ich mir nun meine Kopfhörer und lausche in das erste Projekt…

DIAF – LIACHT

Dort weist das im Werden befindliche Projekt DIAF um Path of Samsara-Mitstreiter Niko B. Spontis auf seine vom „80er Goth und Neuer Deutscher Welle“ beeinflusste Debüt-Single LIACHT hin. Also fackele ich nicht lange und höre rein.

Auch wenn ich abgesehen von den Drums/der Perkussion keine Parallelen zum Goth raushöre, kommt das mit dem NDW-Einfluss deutlich eher hin: Denn dieses Stück ist sehr eigen (und das meine ich wertschätzend!), sowohl, was den Gesang, als auch den Text betrifft, erzeugt aber im Zusammenspiel von synthetischer Basslinie und genannter Perkussion eine animierende Stimmung, wie nicht selten auch bei typischen NDW-Stücken anzufinden. Der Einsatz der Gitarre wirkt da fast auch mich etwas deplatziert, ist aber letztlich nur eine Befindlichkeit am Rande.

Während des Hörens kann ich bei jedem Mal ein Schmunzeln nicht vermeiden, irgendwie finde ich das Stück auf seine Art komisch. Aber vielleicht bin auch einfach zu müde. Oder habe zuviele Fastnet-Clowns verspeist. Egal, bildet euch eure Meinung einfach selbst:

Division Fledermaus – Unter Bewusstsein

Ein erster Blick auf die Bandcampseite lässt meinen Blick sofort auf das hinterlegte Motiv gleiten. Sofort kommt die Assoziation des Kieler Matrosenaufstandes vom November 1918 – und siehe da, das Duo der Division Fledermaus kommt aus eben jenem Städtchen – genau 100 Jahre später. Eine nette Verbindung von Gründung(sort) der Gruppe und Zeitgeschichte. Man könnte fast (aber auch nur fast) Martial Industrial o.ä. erwarten, stattdessen höre ich mich hinein und vernehme elektronische Klänge. Also auf ins Gefecht.

Ist das instrumental gehaltene Intro noch leicht synthwavig-melodischer Natur, entpuppt sich vor meinen Ohren spätestens mit Black Magic und der angezerrten Stimme als tendenziell dunklere Elektronik, welche manchen Protagonisten von A+W recht ähnlich klingt. Mit weiterem Hören wirken die Stücke „Unter Bewusstsein Part I – VIII“ als optische und klangliche Heraushebung von den eher mollig intonierten Stücken dazwischen. Erinnert ein wenig an Wellen und ist vielleicht sogar Absicht.

Die „Hauptstücke“ des Albums sind, wenn auch überwiegend elektronisch gehalten, teils mit leichter Stimmenverzerrung und taktbetont (interessante, neofolkig anmutende Ausnahme: Im Feuer), BPM-technisch im eher ruhigeren Bereich gehalten, was ich als adäquat erachte, da so die besungenen, gefühlsbezogenen Thematiken besser zum Tragen kommen. Nichtsdestotrotz hat die Division Fledermaus auch „härtere“ Stücke im Gepäck, wie beispielsweise In deinem Bann. Aber auch klassisch elektro-wavige Klänge aus den 80s tauchen auf, so beim Stück vive le mort.

Mich freut es, dass auch der Norden der Republik mit guter, handgemachter Musik versorgt wird, die Division Fledermaus hat hier ein in meinen Augen durchaus hörbares und gut aufeinander abgestimmtes Album produziert. Hört hinein, vielleicht auch in das etwas speziellere Stück „Puppenjungs“ mit einem gewissen Herrn Haarmann als Thematik…

Dishymn – Der Weg ist weit

Hinfort von Kiel, spült sich Welle um Welle das just geborene Ein-Mensch-Projekt DISHYMN auf Spontis kleine Insel. Im letzten Jahr mit „über zwei Jahrzehnten währender Vorlaufzeit“ in Dortmund geboren, veröffentlichte Mastermind Daniel K. scheinbar unter dem Eindruck Dantes ‚Göttlicher Komödie‘ um die Weihnachtszeit das erste Demo-Stück „Weit ist der Weg“.

Dort begleiten ruhige, melancholische Gitarrenklänge den Sänger und hinterlassen im Zusammenspiel mit dem Text auch nach dem fünften Durchhören einen sehnlichen, verträumten aber auch resignierenden Eindruck. Ein ausgesprochen guter Auftakt für weitere, in Arbeit befindliche Stücke dieses Projektes.

Dune Messiah – I Headed For The Dancers

Die melancholische Stimmung ausnutzend, seien die Leser und Hörer als Nächstes auf die Formation Dune Messiah aufmerksam gemacht, welche vielleicht durch seinen Auftritt bei der „Nocturnal Culture Night“ dem ein oder anderen etwas sagt.

Das 2014 gegründete Nachfolgeprojekt von Magnus Westergaard, welcher zuvor bei der dänischen Post-Punk-Formation „The Woken Trees“ Guitarrero war, hat just auf dem Label A+W nach drei größeren Veröffentlichungen eine neue 1-Track-Single, I Headed For The Dancers, veröffentlicht.

Geprägt von Country, dunkelfolkigen und post-punkigen 80s singt sich Magnus hier unter Begleitung von ebenfalls ruhiger Gitarre, leichten, hintergründigen Synthies und tanzbarem Takt mit seiner treffsicheren Stimme in seine Gefühls- und Gedankenwelt. Eingängig und auf seine Art berührend werde zumindest ich abgeholt und dorthin mitgenommen…

Wem dem der von A+W angepriesene und unten präsentierte Song nicht zusagt, mag auch gerne in dieses Stück oder das Folgende schauen. Vielleicht ist dies etwas für den geneigten Hörer?

 

June – Silver Demon

Bereits erwähnte Mannequin Records haben vor Kurzem das dritte, größere Werk des 2010 gegründeten minimal-elektronischen Projektes June veröffentlicht. Hinter dem doch recht vielgenutzten Projektnamen verbirgt sich Einzelkämpfer Tsampikos Fronas, welcher ursprünglich aus der House-Ecke kommt und die Welt der analogen Synthesizer für sich und seine Lauscher entdeckt hat. Soweit so gut.

Aber wie klingt die Silver Demon LP denn nun? Von den Sounds her so sehr nach 80ern, Futurespace, Elektrotechnik und falschen Erinnerungen, dass man denkt, man wäre irgendwie durch ein Wurmloch „zurückgeschickt“ worden. So kuschele ich mich gemütlich in meinem Sessel… Um dann bei Exit Strategy durch einen front-fähigen EBM-Rythmus wieder aus der Ruhe gerissen zu werden. Nett. Danach wirds aber irgendwie zwischendurch recht eintönig… Der gute Herr probiert sich aus und erschafft instrumentale, repetitive Soundlandschaften, die mich etwas gelangweilt zurücklassen. Und gerade wo ich denke, dass dies so bleibt, zeigt sich, dass das Album dann durchaus noch einige Vorzeigestücke zu bieten hat: Klingt der Track Odyssey in meinen Ohren recht „kantig“/elektro-wave-typisch, ja, irgendwie futuristisch, ist Behind the Walls in meinen Ohren das Hochlicht: Kraftwerkesquer Klang, erweitert durch den Sprechgesang von Tsampikos, verschafft dem Stück die eingängigste Atmosphäre der Veröffentlichung. Abgerundet wird das alles durch den dystopischen und zugleich verspielten Track Silver Demon:

Alphamay – Retrographie

Eigentlich möchte uns die Osnabrücker Formation Alphamay ihre aktuelle Single Afterglow vorstellen. Aber irgendwie finde ich, dass die spätestens seit 2015 leicht euphemistisch als „electric avantgarde“ in Öffentlichkeit präsente Gruppe mehr zu zeigen hat, als ein paar eher mäßige Remixe des titelgebenden Stücks durch bekanntere und unbekanntere Elektro-Acteure. Daher schwenke ich kurzerhand auf das aktuelle Best-Of-Album РЕТРОГРАФИЯ (Retrographie) um, welches die kreative Breite der beiden Künstlern Henning H. und Chris F. deutlich besser widerspiegelt.

Von der Instrumentalisierung klar synthietetisch-elektronisch gehalten, erinnern Stücke des Albums wie The Carousel oder Love Must Die deutlich an jene musikalische Vorbilder mit denen die Gruppe bereits auf Tour war: Deine Lakaien. Neben eher „weicheren“ Stücken gibt es alternativ auch vergleichsweise „härtere“, mit üblichen Elektro-Sounds versehen, wie beispielsweise The Pilgrims Weep. Diese werden jedoch direkt darauf folgend kontrastiert durch minimal-synthetische Arrangements wie „Weak Philosophies“, oder auch mal eine Mischung aus beidem, wie bei dem Stück C=64 (Old Friend).

Alphamay, als audio-visuelles Gesamtkunstwerk verstanden, bietet hier soliden Elektro-Pop mit diversen Einflüssen der elektronischen Musik. Gut gemacht! Warum höre ich was von denen eigentlich in keinem Club oder gar auf Arbeit im Radio?

Elvis de Sade – Angelus Novus

Dass München aktuell wavig-/gruftigen Sound zu bieten hat war mir bisher nicht bekannt. Oder ich habe es vergessen. Egal. Dies ändert sich nun mit der 4-köpfigen Formation um Andreas R. (Komposition), Leo S. (Gesang), Felix H. (Bass) und Cosima W. (Synthie) und ihrer EP Angelus Novus, im Dezember 2019 erschienen bei Y&C Records. Allein der Bandname und seine Herleitung klingen verdammt bestechend:

Elvis de Sade stehen musikalisch für Exzess und Verfall – wie ihre Namensgeber: die Popkultur-Tragödie Elvis Presley und Marquis de Sade, der Philosoph des Schreckens, der Amoral, der Pervertierung der Dinge.

So beginnt der erste Song „Cheerings From The Other Side“ (siehe Video) – wie passend – mit einem Trump-Zitat. Und setzt dann den Gesang mit den Worten „Hello my Darkness, meeting you again“ entgegen. Klare Ansage. Zeitgeist. Und der an einen gewissen Ian C. erinnernde Gesang schafft dann irgendwie eine Verbindung an Zeiten, die sich seitdem in Manchem nicht geändert haben. Ich bin hängengeblieben, höre die EP infolgedessen gleich mehrmals in Folge.

Dabei bleiben vor allem Track Nummer drei, Sorrows Vanish These Nights und das finale Stück, Mirror Reflection, in meinen Ohren hängen. Und lassen mein eingerostetes Tanzbein gehörig zucken.

Euch erwarten warme Synthies, klare Wave-Gitarre, mitnehmende Texte und Rhythmen, dies alles aufeinander abgestimmt dürfte eigentlich jedem Interessierten ein seliges Lächeln auf die Lippen zaubern. Ach ja, und die Süddeutsche Zeitung hat Elvis de Sade auch schon im Visier gehabt.

Pisse – LP

Wer eine der besten, aktiven deutschen Punkbands dieser Tage nicht kennt, sollte unbedingt eine Bildungslücke schließen. Vor allem dann, wenn m/w/d auch nur ein bisschen Interesse an solcherlei Sound und Habitus hat.

Denn Pisse haben Ende Januar nach vorangegangenen EPs (Mit Schinken durch die Menopause et al.) nun ihre erste LP auf die Menschheit losgelassen. Mit schreiendem Gesang, simplen Melodien, prägnanten Texten, schrammelnden Gitarren, nem Synthie und einer Mischung aus Wut und einer Prise Gaga haben Sie sich jetzt schon in mein Ohr gespielt. Verdammt. Ich habe offenbar eine Schwäche für diese Kombi und bin eindeutig parteiisch…

Tipps: der selbst-recycelte Opener Die Fetten Kinder, Duracell, Zu viel Speed, und natürlich, weil so schön aktuell…

Damit bleibt zum Abschluss eine Auflistung, was sonst noch so (doppelt und dreifach) ins Postfach flog. Fühlt euch frei, auch dort mal hineinzuhören, vielleicht gefällt auch davon was. Bis irgendwann…

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