Musikalischer Briefkasten #18 – Böse Zungen mit dunklen Stimmen

Es wird wieder Zeit, den Briefkasten zu leeren. Böse Zungen mit dunklen Stimmen flüstern mir seit Wochen in meinem Kopf, dass seit der letzten Entleerung des Briefkastens wieder zu viel Zeit ins Land gegangen ist. Tatsächlich verschob sich der auf den Jahreswechsel angesetzte Veröffentlichungstermin dieses Beitrags mehrere Male, mal aufgrund äußerer Umstände, mal aufgrund eigener Befindlichkeiten. Und dann bist du irgendwann so weit, stehst nach vollbrachtem Tagwerk kaputt vor dem Spiegel und schaust dem schlechten Gewissen direkt ins Gesicht. Aber immerhin. Das Ergebnis ist abwechslungsreich, spannend und stellenweise unerwartet. Ihr dürft gerne stöbern.

Vague Lanes – Foundation And Divergence (Swiss Dark Nights)

Durch Zufall bin ich Ende letzten Jahres auf das kalifornische Duo der Vague Lanes um die erfahrenen Musiker Badger McInnes und Mike Cadoo gestoßen und war von ihrer ersten gemeinsamen Veröffentlichung sehr angetan. Passte es doch zur introspektiven, besonnenen Stimmung, welche in den letzten Tagen des vergangenen Jahres im Vordergrund stand. Mit Drumcomputer, zwei Bässen, Wave-Gitarre, dezentem Elektronik-Einsatz und passendem Gesangswerk werden hier Klangwelten und emotionale Tiefe in bester 4AD/Ethereal-Tradition erschaffen, die zumindest mich vollkommen in andere Sphären trugen.

Als Anspieltips würde ich euch Nihilist Knot Twist, Hollow Clock oder folgendes Stück nahelegen:

Deep Imagination – Find Your Own Way (BSC Music/Prudence)

In eine ähnliche Richtung schlägt auch das nachfolgende Stück als Auftakt für das kommende Album „The Children Of The Moon“ von Deep Imagination. Das Studio-Projekt um Thorsten Sudler-Mainz samt Gastmusikern aus dem Frankfurter Raum existiert schon knapp zwei Jahrzehnte und war bis jetzt jedoch noch nicht in mein Bewusstsein vorgedrungen (Virtual DJ-Datenbank sagt nein). Klangtechnisch haben wir es hier mit einer Kreuzung aus Pink Floyd, neoklassischem Wave und New Age/Ambient zu tun, alles in allem eine durchaus angenehme Mischung für entspannte Stunden. Vielleicht mag die Formation den Weg in eure Ohren finden?

Korinthians – Well

Die Korinthians sind eine Belgische Post Punk/Gitarrenwave-Kapelle mit einem Klangbild, was mich schlagartig an Placebo oder die Editors erinnert. Mit ihrem neuen Stück Well greifen sie thematisch die Kurzgeschichte The Crack eines Gregory E Watson auf, welche sich um einen Protagonisten, dessen erfolgreiche Frau und einen gesplitterten Spiegel dreht.

Wer des Englischen einigermaßen mächtig ist, kann den Text gerne auf der Bandcamp-Seite oder dem Subtext beim Video nachlesen und bei Interesse in Textinterpretation üben. Ansonsten bitte einfach auf das weiße Triangel klicken und genießen. Das Stück hat was…

Scott Crow – Of Everything And Nothing (Emergency Hearts)

Schauen wir etwas über den Teich in die Vereinigten Staaten, zu Scott Crow und seinem ersten Solo-Album. Ihr habt noch nie von ihm gehört? Keine Schande, ging mir genauso.

Offenbar ist Mr. Crow ein recht umtriebiger Kritiker des US-amerikanischen Wirtschafts- & Gesellschaftssystems, mit zahlreichen Auftritten und Publikationen in dortigen Medien. Wenn Herr Crow mal nicht Reden hält, demonstriert oder Bücher schreibt, macht er in seiner Freizeit offenbar auch Musik. Erfahrungen konnten so seit den 80ern bspw. in der „Industrial Dance“/EBM/Synthie-Formation Lessons Seven erworben werden.

Sein Solo-Album ist mit Unterstützung mehrerer Kollaborateure nun als Sammelsurium aus all den prägenden Einflüssen seines Lebens zu verstehen. Ob New Wave oder HipHop: Den Hörenden wird ein tendenziell abwechslungsreicher Klang mit nachdenklicher, gesellschaftskritischer Botschaft geboten. Bei mir ist jetzt nicht so viel hängengeblieben, vielleicht ist der Einstiegs-Track ja was für euch:

London After Midnight – Oddities Too (Darkride Records)

Da wir schon mal „drüben“ sind, kann man vielleicht einen Blick auf die altbekannten London After Midnight werden.

Mit den Oddities Too gibt es seit Ende letzten Jahres einen neueren Überblick über die wohl bekanntesten Stücke der Formation, einige davon deutlich umarrangiert und insgesamt ganz nett anzuhören. Wobei ich die Originale von The Spider And The Fly, Claire’s Horrors oder Sacrifice weiterhin deutlich ansprechender finde, fehlt mir hier die Energie, welche LAM bisher ausgezeichnet hatte. Betrüblich, aber kein Weltuntergang. Denn dieser hat bekanntlichermaßen andere Dimensionen und wird in Form des anthropogenen Klimawandels auch durch die weiterhin engagierten LAM kritisch aufgegriffen.

Im Falle des nachfolgenden Donna Summer-Covers hat die Band den Rezipienten in ihrem Begleittext diverse Informationsquellen zur Thematik verlinkt und bietet damit ein niedrigschwelliges Angebot für englischsprachige LeserInnen. Gut gemacht, bitte setzen, weiter so, und endlich mal wieder ein neues Album rausbringen.

Ultra Sunn – Killing Your Idols (Fleisch Records)

Was kommt heraus, wenn Boy Harsher noch mehr Fokus auf Bass und Tanzbarkeit legten? Wie wäre es da mit Ultra Sunn. Ihr eingängiger Mix aus bassigem Synthwave und EBM-Anleihen braucht sich das Duo aus Sam Huge und Gaelle Soufle nicht hinter den prestigeträchtigen Vertretern elektronischer Musik aus belgischen Landen zu verstecken. Meine Favoriten der EP sind sorrow and tears, can you believe it und silver smile. Und wenn es auf die Tanzfläche ginge, dann mit:

Plastikstrom – Eskalation (Young & Cold Records)

Hat jemand „Tanzfläche“ gesagt? Auch Plastikstrom hat sich letztes Jahr ins Studio nach Augsburg begeben, um all jene Stücke zu veröffentlichen, die unter Eindruck der Pandemie (tanz allein) und der sich tendenziell ins Negative entwickelnden Umwelt entstanden sind (Gipfelstürmer). Herausgekommen ist mit Eskalation ein durch aggressive und doch melodische, elektronische Klänge dominiertes Album mit gesellschaftskritischen- und introspektiven Einschlag, welches im Gegensatz zum Vorgänger Beton gegen Angst diesmal noch tanzbarer erscheint und mit Pogokinder ein bereits früher veröffentlichtes Stück enthält.

Und da ich im November live vom nachfolgenden Stück sehr positiv überrascht wurde, hier die Studio-Variante von der Kooperation des Duos mit DIAF:

Systemabsturz – Verdächtig

Zur Abwechslung gefälligerweise etwas Pop? Wie wäre es denn minimal-elektronisch, mit einer Spur Attitüde und ironisch-pointierten Texten? Wie wäre es da mit der Band Systemabsturz:

Systemabsturz ist die wahrscheinlich beste und schlechteste Datenschutz-Electropunk-Band der Welt. Musikalisch sehen sie sich zwischen Pop, Rave-Punk und Techno, oberste Priorität von jedem Livekonzert sind zärtliche Mosh-Pits und Seitenstechen.
Im November 2021 haben sie ihr erstes Album Überwachung zum Mitsingen veröffentlicht.

Und das ist meiner Meinung nach echt gelungen. Ein herzliches Danke an den Tippgeber für den Glückshormon-Cocktail während des Lauschens und Lachens! Wer einem Crossover aus Welle:Erdball, den Toten Crackhuren oder Das Flug nicht abgeneigt ist, sollte zumindest einfach mal reinhören. Tut nicht weh und macht Spaß. Warum werden die beiden eigentlich nicht zum ESC geholt?

Airman – Geheimer Service

Mit demselben Thema spielt auch das Kölner Ein-Mann-Projekt Airman auf seiner zweiten Single, Geheimer Service. Es wird etwas sperriger Elektro-Pop geboten, der in mehreren Variationen das Titelstück aufgreift und leicht diffizil präsentiert.

Mich kann die neue Kreation jetzt nicht vom Hocker reißen, da wirkt auf mich die 2015er-Veröffentlichung Softwar in trancigem Gewand irgendwie eingängiger (und holt mich von den Sounds in meine Kindheit zurück)….

Winterstille – Und Sie Tanzten (Wool-E)

Zum Abschluss habe ich für euch noch die Formation Winterstille. Die beiden Redakteure des belgischen Zines Dark Entries, Xavier Kruth und Gerry Croon, huldigen hiermit ihren schwarzromantischen Wurzeln und schenken uns den Ausklang für diesen Beitrag.

Neben dem aktuellen Album der beiden, Puin Van Dromen sei vielleicht noch das ebenfalls recht besinnliche Nebenprojekt von Gerry erwähnt. Wer dann noch Muße hat und ihn die Neugierde gepackt hat, kann dann gerne auch noch hier stöbern und in alten Zeiten blättern.

In diesem Sinne schließe sich der Vorhang und lasse euch mit einer kleinen Auswahl an Musik zurück.

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Markus
Markus (@guest_62120)
Vor 1 Jahr

Korinthians…was für ein großartiger Tipp!

Letzte Bearbeitung Vor 1 Jahr von Markus
Durante
Durante(@durante)
Antwort an  Markus
Vor 1 Jahr

Nicht schlecht, ist mir persönlich aber viel zu fröhlich… ;)
Erinnert etwas an Placebo.

Achim
Achim (@guest_62158)
Vor 1 Jahr

Hallöchen, erstmal mercy dafür, dass Du hier so eine geile Band/Songbesprechung abhältst! Deep Imagination mit Ihrem Video …atmosphärisch schöner Song und ein gelungenes Video dazu. Kann ich auch empfehlen.
Dazu Systemabsturz…Neue Deutsche Welle reloaded mit zeitgemäßen Text…kommt „verdächtig“ gut rüber…

Durante
Durante(@durante)
Antwort an  Achim
Vor 1 Jahr

Ja, Systemabsturz hat was schon allein der Texte wegen! 8)(Kannte die als Tech-Nerd schon aus’m Chaosradio, war ganz überrascht auf Spontis über sie zu stolpern.)

Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_62168)
Vor 1 Jahr

Vague Lanes konnte ich vor einer Zeit auch für mich entdecken und ich mag ihren schweren dunklen Sound. Ihr Album Foundation and Divergence ist wirklich gut gelungen. Vom Sound eine Mischung aus Sisters, Xymox, Cocteau Twins und NIN. Ich möchte noch ergänzen, das die Band den bekannten Titel „The Last Song“ von Trisomie 21 gecovert hat. Der hat es zwar nicht auf das Album geschafft (evtl. rechtliche Gründe), ist aber auf Youtube hörbar. Mir persönlich gefällt das Original immer noch besser. Aber wer mag, kann sich gern seine eigene Meinung bilden.  

Deine Wahl von Ultra Sunn mit Keep Your Eyes Peeled triffst du voll ins schwarze, denn dieser Titel schleudert sich auch durch meine Playlist. Ein weitere Titel meiner Wahl wäre The Eye. Der rest ist mir persönlich doch etwas zuviel elektronisch.

London After Midnight mit ihren Album Oddities too klingen die alten originale wirklich besser. Aber das beliebte Stück Sacrifice welches hier auf dem Album im String Quartet trällert, lässt mein melancholisches Herz höher schlagen.

Norma Normal
Norma Normal(@normanormal)
Antwort an  Gruftwurm
Vor 1 Jahr

Danke für den Tipp mit „The last song“! Gehört zu meinen all time favorites. Deshalb und auch weil ich Coversongs meist nicht mag, bin ich jetzt doch sehr überrascht. Mir gefällt es richtig gut, also keine Frage das Original ist halt das Original, aber ich hörs grad in Dauerschleife!!

John Doe
John Doe(@arno-siess)
Antwort an  Norma Normal
Vor 1 Jahr

Da gehe ich mit dir konform! :-)
Ich persönlich finde, daß es sehr wenige Coversongs gibt, die dem Original noch etwas hinzufügen können.
Das bedeutet nicht, daß sie deshalb schlecht wären, aber in meinen Augen sind sie schlicht unnötig, weil es da nichts mehr daran zu verbessern gibt.
Eine Ausnahme davon ist für mich zum Beispiel „The Passenger“ in der Version von „Siouxsie and the Banshees“.Aber da bin ich wahrscheinlich befangen, weil ich diese Band grundsätzlich sehr mag… ;-)

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Antwort an  John Doe
Vor 1 Jahr

Meine Lieblings-Coverversion ist ja „New Dawn fades“ von Joy Division, gecovert von Deathcamp Project. Da gefällt mir das Cover tatsächlich mal besser als das Original…
https://www.youtube.com/watch?v=94pKqBto3Fs

Ansonsten kann ich auf Coverversionen oder auch Remixe gern verzichten. Viele Veröffentlichungen bestehen inzwischen ja zum nicht unerheblichen Teil (oder gar komplett) aus Remixen oder Coverversionen, was mich immer ärgert. Zum einen, weil sie meist schlecht(er) sind und zum anderen weil sie unnützes Füllmaterial sind, an deren Stelle auch einfach richtige Songs gepackt werden könnten… Keine Ahnung, warum mittlerweile so ein furchtbarer Remix-Trend herrscht.

Letzte Bearbeitung Vor 1 Jahr von Tanzfledermaus
Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_62189)
Antwort an  Tanzfledermaus
Vor 1 Jahr

Dead Souls von Joy Division, gecovert von Nine Inch Nails wäre mein kleiner favourite. ;)

Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_62190)
Antwort an  Norma Normal
Vor 1 Jahr

Danke für Deine persönliche Meinung. The last song das Original darf auf einer einsamen Insel bei mir auch nicht fehlen. :)
Ich bin aber auch ein Bewunderer der alten Scheiben von Trisomie 21 wie Le Je-Ne-Sais-Quoi Et Le Presque Rien
oder Passions Divisées.

John Doe
John Doe(@arno-siess)
Antwort an  Gruftwurm
Vor 1 Jahr

Ich hoffe, daß ich niemals auf diese Probe mit der einsamen Insel gestellt werde.
Das Rettungboot würde ich glatt verpassen, weil ich mich nicht entscheiden könnte.
Die Auswahl ist leider so riesig… ;-)

Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_62192)
Antwort an  John Doe
Vor 1 Jahr

Da schließe ich mich Dir an. Die Auswahl wäre riesig und auf etwas verzichten würde mir schwer fallen. :)

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