Neues Rammstein-Album: Es wird Zeit für die Angst

Ohne Skandale, Vorverurteilungen und wilde Gerüchte ist am 29. April Rammsteins neues Album „Zeit“ veröffentlicht worden. Wir erinnern uns an „Deutschland“, als die Band sich provokativ als verkleidete KZ-Häftlinge die Schlingen um die Hälse legen ließen. Über 7 Millionen Aufrufen nach 17 Stunden, die Single-Auskopplung „Angst“ hat nach 2 Tage nicht mal die Hälfte. Demnach ist das neue Album ein Leisetreter, jedenfalls in plakativer Hinsicht. Der musikalische Inhalt bleibt Rammsteins Linie allerdings treu. Laut, brachial und vor lauter inhaltlicher Bedeutung so schwanger, dass man fast Fünflinge erwarten könnte.

Das ist das Erfolgsrezept der Berliner Band, die das Genre „Neue Deutsche Härte“ vor fast 30 Jahren populär gemacht haben. Die Ernsthaftigkeit, mit der Rammstein die Rolle der „deutschen Teutonen“ verkörpern, ist bewundernswert, die Inszenierung, mit der man sich darstellt, ist stets an irgendeiner Grenze eines vermeintlich guten Geschmacks und ihre Live-Shows zählen zu den weltweit eindrucksvollsten Spektakeln. Sie sind erfolgreich, auch – oder vor allem – im Ausland, für viele verkörpern sie mit ihrer Musik und dem Gesang von Till Lindemann das typisch Deutsche, inklusive dem rollenden „R“ mit Nazi-Attitüde.

Wen wundert es da, dass Google die Frage „Ist Rammstein rechts?“ als Erstes vorschlägt, wenn man sich mit der Band beschäftigt. Nein, sind sie nicht.

Und so polarisieren Rammstein mit ihrem 8. Studioalbum erneut ihrer Hörerschaft, was Musikwissenschaftler Peter Wicke schlüssig erklärt, denn Rammstein „halten uns einen Spiegel vor und wir fühlen uns ertappt – und lehnen das ganz vehement ab, weil das, was nicht sein darf, auch nicht sein kann. Aber irgendwie erkennen wir uns doch irgendwie alle mit unserer Kultur in diesem Projekt wieder.

Rammstein machen Angst

Der Song „Angst“, den ich zusammen mit seinem Video schon großartig finde, bringt den aktuellen Zeitgeist auf den Punkt. Anfangs versteht man sich prächtig, grillt und lacht zusammen. Heimlich wächst aber die Skepsis voreinander, aus dem kleinen Gartenzaun werden Mauern mit Kameras, im Internet besorgt man sich vermeintliche Informationen, die eine Paranoia voreinander bedienen.  Die letzte Einstellung des Videos ist dann auch sowas wie ein Stillleben einer gesellschaftlichen Angst, das den Titel „Realitätsentkopplung“ tragen könnte. Die Band verspeist genüsslich den Schokokuss, während man im Fernsehen das Leid von Mutter und Tochter betrachtet, die hinter Stacheldraht eingepfercht sind.

Es wird Zeit für Rammstein

Rammstein muss man wahnsinnig gut und total Scheiße finden. Gleichzeitig. Im Stern finden sich daher gleich zwei Artikel, der eine Autor hält das Album für gut, der andere eben Scheiße. Die Zeitschrift kann nun wirklich nicht mehr ernst nehmen. Die TAZ findet: „Männlichkeitskult aus Ostberlin: Rammstein mit neuem Album „Zeit“ und Songs, deren Strukturen klingen wie an der Baumarkt-Säge zugeschnitten.“ Der Spiegel freut sich auf das Ende der Band: „Mit provozierenden Auftritten sind sie bekannt geworden, geblieben sind nur Altherrenwitze über Botox und Brüste: Das neue Album von Rammstein könnte ihr letztes sein – schlimm wär’s nicht.“ und auch die gleichnamige Zeit fühlt sich auf den namentlichen Schlips getreten und schreibt. „Hat Andrea Berg nach ein paar Gläschen Schwarzburgunder den Existenzialismus entdeckt? Nein, es ist die neue Rammstein-Platte.

Immerhin. Jetzt gibt es wenigstens NACH der Veröffentlichung der Platte Skandale und Gerüchte, denn viele munkeln, es könne das letzte Album der Band sein, schließlich würde man im Song „Adieu“ genau davon singen. Vielleicht ist die Zeit der Band tatsächlich erschöpft und sie ziehen die Reißleine, bevor sie als Karikatur ihrer Selbst, wie in dem Video „Zick Zack“ zu sehen, enden.

Nehmt euch mit, was ihr haben wollt. Rammstein machen es jedem leicht, sie gut oder schlecht zu finden, jeder findet seinen Reibungspunkt. Bei mir hat sich die Band Respekt erarbeitet. Anfangs hatte ich so meine Schwierigkeit mit ihrer plakativen „Deutschness“ ihrer schwülstigen Attitüde und den bedeutungsschwangeren Texten und auch die Musik, die nach dem immer gleichen Schema funktioniert, war nicht immer meins. Dennoch gibt es zahlreiche Songs, die ich großartige finde und auch ebenso viele, die ich doof finde. Unter dem Strich bleibt aber der Respekt, vor dem Fleiß, den die Band in ihrer Musik und ihren Shows zeigen. Respekt vor dem ewigen Grenzgang zwischen Provokation und Kitsch und zwischen aufgesetztem Verhalten und authentischem Ausdruck.

Die Lücke, die Rammstein mit einer Auflösung schaffen würden, füllt sicherlich niemand mehr. Das kann man gut finden oder eben – ihr wisst es schon – schlecht.

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Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 1 Jahr

Ich bin absolut kein Fan von Rammstein, aber das Video zu „zick zack“ ist einfach klasse. Lange nicht mehr so gelacht wie bei den späteren Szenen…

Letzte Bearbeitung Vor 1 Jahr von Tanzfledermaus
Bibi Blue
Bibi Blue(@biljana)
Antwort an  Tanzfledermaus
Vor 1 Jahr

Jetzt muss ich auch lachen und stelle mir vor, wie ich Tape und Tacker zu Pfingsten einpacke.

Blackangel
Blackangel (@guest_62031)
Antwort an  Tanzfledermaus
Vor 1 Jahr

Ja Rammstein mag ich auch nicht, das harte Brutale und Brachiale machte und macht nach wie vor die szene nicht aus, genausowenig Centhron oder Agonoize.

Wiener Blut
Wiener Blut (@guest_61136)
Vor 1 Jahr

Da oute ich mich doch als totaler Fan der letzten Werke Deutschland, Ausländer, Zeit und Zickzack. Sowohl Lied wie Video haben mir allesamt gut gefallen, wobei ich Deutschland immer noch am genialsten finde. Es gibt übrigens momentan nicht nur negative Kritik zum aktuell veröffentlichten schaffen. P.S. Rammsteins Lücke an aktueller, deutschsprachiger und populärer Musik (sorry, bei den Massen an Fans ist es Pop für mich), und aktueller genialer Musikvideos, kann keine deutsche Band füllen. Hier der Link zur positiven Kritik des SWR: https://www.swr.de/swr2/musik-jazz-und-pop/kommentar-feuer-frei-fuers-feuilleton-die-ewig-missverstandenen-von-rammstein-100.html

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