Eine gruftige Nacht. Der Regen prasselt gegen die Fensterscheiben, der Wind peitscht in Böen durch die Strasse und schleicht sich immer wieder durch die überforderten Dichtungen der Rahmen. Auf der Fensterbank flackern Grablichter, die Schwaden der Räucherstäbchen schwängern den Raum mit einem unverwechselbaren Patschuli-Aroma. So kann es losgehen. Ich habe meine Erwartungen absichtlich niedrig gehalten und versuche Vorurteile gegen die Berichterstattung unter den Tisch zu kehren. Obwohl sich viele Klischees erfüllten, wurde ich positiv Überrascht, ja sogar ein wenig nachdenklich gestimmt.
Noch bevor ich diesen Artikel schreibe, treffen auf Facebook die ersten Kommentare ein. Ian Luther: „Ich fand die Doku durchwachsen. Aber Cyber als Gothics der Zukunft zu bezeichnen halte ich für einen schlechten Witz. Diese ganze leuchtende, saubere, plastikglänzende Welt ist nicht das, was ich als Zukunft der schwarzen Szene sehe.“ – Sophia Intolerantia: „Das Problem war die Zeit. Eine halbe Stunde ist ZU wenig und sie hatten ja durchaus Leute erwischt, die wirklich mehr zu sagen hatten.“ Grabesmond Nocturna: „Abgesehen davon finde ich, das es schon an Verarschung grenzt, wenn man eine Doku über Gothic ankündigt und es dann letzendlich nur um Cyber, Cyberloxx und Fetishpartys geht.“ Ich schaue mir den Bericht nocheinmal an:
Der Bericht beginnt mit dem Amphi-Festival in Köln, eine gute Wahl, wenn man einen Querschnitt durch die Oberfläche der schwarzen Bewegung ziehen möchte. Sicherlich, ein Besuch auf dem WGT wäre vielleicht interessanter gewesen, aber wäre die Wirkung auf Außenstehende -und die Autoren dieses Bericht haben mit der Szene nicht zu tun- wirklich eine andere gewesen? Ich lasse die Bilder auf mich wirken. Bunt, schrill, laut, genau so wie das Amphi war, wurde es auch dargestellt. Der Sprecher erzählt uns keine Neuigkeiten und spricht von Fakten. Auftritt Kai Lotze, der Veranstalter des Amphi, der behauptet, hier würde es pro Stadt ein bis zweitausend Szenemitglieder geben. Offensichtlich war er noch nicht in meiner Stadt. Nichtsdestotrotz, betrachten wir die Oberfläche im der Sinne der Wochenend-Gothic, Teilzeit-Grufties und artverwandte Sympathisanten, mag er Recht haben.
„Die Goths sind lebendiger denn je. Wie haben sie sich solange gehalten? Sind sie heute noch eine Gegenkultur?“
Ein Auftritt von Rosa Crux, gewohnt provozieren und imposant. Olivier Tarabo, der Sänger der Band : „Wir dürfen nicht vergessen, die Religion bot uns früher ein Paradies, sie nahm uns die Ängste vor dem Tod. In einer Gesellschaft ohne Religion, die keine Lösung mehr für diese Ängste hat, regiert das Unbehagen. Als Goth ist man bereit mit diesem Unbehagen zu leben.“ Ein kluger Mann, diese Aussage möchte ich unterschreiben, sie entspricht nach meiner Vorstellung einem Grundpfeiler der Szene. Sicher, sie lässt sich nur auf einen Bruchteil der Szene-Mitglieder anwenden. Diese Einstellung ist nach und nach verloren gegangen, spätestens mit der heranwachsenden 3. Generation, die eine gebügelte Oberfläche finden, die man immer schwerer zu durchdringen vermag.
Katmi, die in diesem Bericht die mittlere Generation repräsentiert, sagt: „Wir leben in einer Zeit in der wir immer gut drauf sein sollen, erfolgreich und möglichst glücklich. Wir sind permanent auf Glückssuche. Die Goths verweigern sich genau dieser Tyrannei des Glücks.“ Dunja Brill, Autorin verschiedener Szene-Bücher ergänzt: „Memento Mori, erinnere Dich dass du sterblich bist, deswegen Carpe Diem erinnere Dich das du die Zeit deines Lebens nutzen sollst.“ Der nächste Grundpfeiler wie ich finde. Bis jetzt glänzt der Bericht nicht mit Bilder einschlägiger Festivals, sondern mit interessanten Menschen, die sich ihr eigenes Bild gemacht haben, dass um Längen authentischer ist, als ich es bis jetzt in derartigen Berichten gesehen habe.
Le Boucanier repräsentiert das Szene-Urgestein, der uns Einblicke in seine eigenwillige Wohnungsausstattung gibt und über die Anfänge der Szene und ihre musikalischen Neigung erzählt. Ich nicke zustimmend und lausche den Klängen guter Musik. Überhaupt ist die musikalische Auswahl in diesem Bericht passend und ganz darüber hinaus ausgezeichnet. Es geht weiter: Punk -> Post-Punk -> Gothic. So ist es.
Kommen wir zur jüngsten Generation, hier dargestellt an den Cybern. Das kennen wir schon, Poser, Party und Tanzen. Schnell nochmal das Genre Industrial falsch dargestellt. Ich bin geneigt vorzuspulen. „Die Cyber-Goths sind die Goths der Zukunft.“ Ein Satz, über den sich schon viele bei Facebook ausführlich ausgelassen haben. Egal wie man diesen Satz deutet, die Zukunft ist ungeschrieben. Ihr kennt meine Meinung, ausdifferenzieren, ihr eigenes Ding machen und gut ist. Kämpfen für eine bessere Zukunft, die sich an alten Werten orientiert, ohne neue Strömungen zu vernachlässigen. Kein Satz, über den ich mich aufregen kann, denn betrachtet man die Szene von außen, zeigt sich genau dieses Bild. Bunt, schrill, laut. Und immer noch bestreite ich, dass das eine mögliche Zukunft sein kann, denn Cyber ist meiner Ansicht nach auf dem Rückzug. „Wir wollen die Gothic-Szene ändern.“ Ich möchte ihm sagen: Versuche nichts zu ändern was sich nicht ändern will, mach‘ Dein eigenes Ding. Das in dem jungen Mann mehr steckt, erfahre ich später.
Rogue von den Crüxshadows über die Musik: „Was die Gothic Musik ausmacht, sind nicht die technischen Elemente, sondern die Thematik der Songs.“ Auch das ist meiner Ansicht nach so, Gothic trägt sich durch viele Musik-Arten. Fetisch + Gothic flimmert über die Mattscheibe. Für mich gehört das nicht zusammen, dass es aber in der Szene präsent ist, darf man als Fakt betrachten. Die Zukunft ist jedoch, wie bereits erwähnt, ungeschrieben. Wir arbeiten daran ;-) Viele Berliner Alt-Gothics fühlen sich meiner Erfahrung nach durch die Fetischisten angezogen, wer weiß, vielleicht ist das die verloren gegangene Provokation, die man heute in einfachen schwarzen Klamotten nicht mehr erreicht.
Annie Burger-Roussenac, die als Autorin und Kennerin der Gothic-Szene vorgestellt wird, bemängelt das Fehlen von Utopien, sie vermutet, die Gothics schaffen sich aufgrund des Bewusstsein nichts ändern zu können, eine eigene Welt, in der sie Ihre Utopien ausleben können. Ich bin mir da nicht so sicher. Der Gesellschaft mangelt es eher an der Perspektive etwas ändern zu können, viele Gothics leben aber bereits ein alternatives Leben. Wir schaffen uns keine Parallelwelt, in der wir uns ausleben können, sondern machen die Welt in der wir leben zu etwas besonderem. Vielleicht habe ich aber auch nur etwas falsch verstanden.
Es folgt ein Schaubild, das ich nicht unkommentiert lassen will. 1982 soll es in England losgegangen sein, um dann 1990 in den Ostblock zu schwappen. Diesen Eindruck teile ich nicht. Gothic ist bereits Ende der 70er schleichend in die Musik-Szene in England geschwappt. 1982 hat das Kind vielleicht einen Namen bekommen. Aber Ostblock? Soweit würde ich nicht gehen, vielleicht im übertragenen Sinne, denn meiner Ansicht nach hat die deutsche Szene durch den Mauerfall einen entscheidenden Impuls erhalten, weiterzuexistieren. Die Veränderung im Ostblock führten dazu, das ist richtig. Aber die Szene schwappte nicht, wie dargestellt, dorthin.
Kommerz Kommerz
„Die Gothic-Szene ist ein florierender Markt.[…] Sind die Goths Opfer ihres eigenen Erfolgs? Werden sie von der Konsumwelt eingeholt, der sie eigentlich entfliehen wollten?“ So wie der Sprecher es zusammenfasst so ist es. Gothics von heute sind bequem geworden, da möchte ich mich nicht ausnehmen. Wir profitieren vom Angebot, können uns 24 Stunden lang in hunderten Internet-Shops bedienen und bekommen auf Festivals ein Überangebot an dem, was wir als ästhetisch empfinden. Der Markt profitiert von uns, Angebot durch Nachfrage. Als es nichts gab, hat man es selber gestaltet, heute wird jeder Trend aufgegriffen und in ein Konsumprodukt an jedermann gebracht. Wir sind die Opfer unseres eigenen Erfolgs. Hat uns die Konsumwelt eingeholt? Vielleicht ist es so, aber nur, weil wir uns einholen lassen. Wir sollten uns die Frage stellen, wohin wir möchten. Jeder der darüber meckert, wie Konsumlastig ein Festival ist, hat die Wahl. Wir müssen sie nur treffen.
Auch die rechte Ästhetik wird aufgegriffen. Olivier Tarabo bringt es auf den Punkt: „Ihr wollt nicht sehen was euch aufregt, aber genau das zeige ich Euch. Mit Hakenkreuzen zum Beispiel. Mit allem was euch ärgert. Es geht ums kaputtmachen, ums zerstören, ums widersprechen. Insofern hat es auch eine anarchistische Seite. Es ist ein Schlag ins Gesicht.“ Wir sollten uns schlagen lassen um nachzudenken, nicht um das zu kopieren was wir sehen. Provokation sollte keine Mode werden.
Chancy hat zwei Fehler gemacht
Der junge Cyber bekommt meiner Ansicht nach eine wichtige Rolle in der Cyber-Diskussion. Er hat Fehler gemacht, aber auch ganz viel Richtig gemacht. Es gibt einige wichtige Dinge, die ihn von all den konsumierenden Cyber unterscheidet, etwas, von dem sich viele eine Scheibe abschneiden können. Er ist leidenschaftlich, engagiert und hat ein Ziel vor Augen. Er veranstaltet seine eigene Party, sein ganz eigenes Ding. Es mangelt ihm noch an Professionalität, aber nicht an Überzeugung. Er steht für mich als Sinnbild einer möglichen Zukunft. Die Cyber machen ihr eigenes Ding, als Ableger einer anderen Subkultur. Chancy macht es vor.
Phil K, der nun interviewt wird, erklärt die Kluft zwischen den Welten: „Heute wird so ziemlich alles da hinineinprojeziert. Manche nennen sich Gothics, sind vom Look aber Cyber-Punks. Mein Eindruck ist, das der Look wichtiger geworden ist, als die Musik. Gothic ist heute mehr eine Mode als eine Bewegung. Ursprünglich war das mal anders.“ War das wirklich so? Oder hören wir das verklärte Bild eines Urgesteins? Meiner Ansicht nach wurde Gothic schon Mitte der 80er zur Mode, spätestens, als Jugendzeitschriften diesen Look vorstellten.
Fazit: Ist die Szene tot?
„Glücklicherweise, “ so Le Boucanier, „gibt es noch Bands, die die Bewegung am Leben erhalten, ich glaube das sie heute die Gothic-Bewegung ausmachen.“ Nicht zu vergessen die Szene-Anhänger, die diese Musik immer noch fordern. Nicht zu vergessen die Anhänger, die in Gothic mehr sehen als Musik und Mode. Die Anhänger, die auch in der Lage sind einer neuen Generation eine alte Richtung zu geben und zu staunen, wie sie den Weg gehen werden.
Die Dokumentation halte ich unterdessen für sehr gelungen. Sie zeigt den IST-Zustand und lässt einige Menschen zu Wort kommen, die in der Summe die Grundpfeiler einer Bewegung definieren, so wie ich sie mir vorstelle.
Warum also darüber aufregen? Nun, es mag an einer Erwartungshaltung liegen. An der Erwartung genau das zu sehen, was einen stört. Für mich sind hier einige sehr interessante Menschen zu Wort gekommen die es tatsächlich schaffen, der Szene eine Art von Definition zu geben. Wer nicht weiß, was ich meine möge sich die Zitate von Olivier Tarabo, Katmi, Dunja Brill und Le Boucanier nochmals zu Gemüte führen. Was haben wir denn erwartet? Antworten auf Fragen, die wir uns selber stellen? Neue Facetten einer 30 Jahre alten Szene? Wir sollten unsere Erwartungshaltung überprüfen und dürfen nicht vergessen, dass sich die meisten hier schon Jahre in der Szene bewegen. Für den jungen Nachwuchs-Goth oder den interessierten Menschen von nebenan ist diese Doku ausgezeichnet. IST-Zustand.
Ist es Verarschung eine Doku über Gothic anzukündigen um dann Cyber und Fetisch zu sehen? Nein, das ist Realität. Wollen wir etwas von dem sehen, was wir uns unter einer Gothic-Dokumentation vorstellen, müssen wir handeln. So wie Chancy, der jungen Cyber. Wir müssen es selber machen. Mit Leidenschaft und Engagement. Und so kommt es, dass sich der Kreis schließt. Der junge Cyber aus Paris zeigt, wie Gothic in der Zukunft aussieht. Nicht nur konsumieren, sondern mitgestalten, vorleben und weitergeben. Leidenschaften und Ideen einbringen anstatt nur darauf zu warten, dass etwas passiert. Sonst sieht es schwarz bunt aus für die Szene.