Unsere Kinder – Grufties, Skinheads und Neonazis in der DDR 1989 (DEFA)

Langsam fährt die Kamera die Straße hinunter, während die Nacht hereinbricht oder der Morgen erwacht. „Zuerst war es nur ein Gerücht. Doch das Gerücht hat eine seltsame Eigenschaft, es verbreitet sich schneller als eine Nachricht. Manchmal auch, ist das Gerücht glaubwürdiger als die Nachricht, denn sie bestätigt nur, was alle schon wissen.“ Wie ein Impuls verleitet die ruhige Stimme des Sprechers dazu, zuzuhören.

Als Roland Steiner zwischen 1985 und 1989 die Dreharbeiten des Film „Unsere Kinder“ für die DEFA absolvierte, wollte er einen Film über rechtsextremistische Jugendliche in der DDR machen, erkannte aber schnell, das mehr zwischen Schwarz und Weiß liegt, als sich dem Betrachter auf den ersten Blick erschließt. „Skinheads, Neonazis rasen durch unsere Straßen. Sehr schnell haben wir festgestellt, dass man diese Gruppe junger Leute nicht isoliert betrachten kann, wir sind also auch zu anderen jungen Leuten gegangen. Fast scheint es, als gäbe es da noch andere Unterscheidungsmöglichkeiten: Täter, Opfer, Vermittler. Aber es sind Menschen, die Ihren Weg suchen.

Ein steiniger Weg. In der DDR gilt man als nicht systemkonformer Jugendlicher mit anderem Aussehen oder anderen Ideen sowieso als potentieller Staatsfeind und wird von einem Apparat kriminalisiert, der grausamer nicht sein könnte. „Man nennt sie Grufties, sie selbst nennen sich Holger, Ines und Mark. Zumeist in der Nacht überwinden sie Friedhofsmauern und die Grenze zwischen ihrer Umwelt und sich, jedenfalls, ist es der Versuch. Warum finden sie keinen Platz im Diesseits?

Steiner stellt dar, hört zu und stellt Fragen. Er schafft Vertrauen und ermöglicht den Jugendlich innerhalb der DDR völlig frei zu sprechen, zu sagen, was sie denken. Neonazis fragt er in einem abgedunkelten Raum nach ihren Motiven, will wissen, was sie bewegt. Zu keiner Zeit verurteilt er, die ruhige Art wirkt beinahe unheimlich, fast ein wenig stoisch. Er mischt die Gespräche mit Aufnahmen ihrer Treffpunkte und zeigt das Umfeld in dem sie sich bewegen, die Art seiner Aufnahmen empfinde ich als äußerst fesselnd und extrem authentisch.

Die Interviews eröffnen eine tiefgreifende Frustration darüber, vom Rest der Gesellschaft nur über das Äußere beurteilt zu werden, sie stellen die Wechselbeziehung zwischen Erwartungen und dem Nachkommen dieser Erwartungen her: Wenn ihr denkt, ich bin so, dann bin ich auch so. Auch die Erziehung zur Gewalt innerhalb der eigenen Familien wird thematisiert. Ein Skinhead äußert, er wolle Täter und kein Opfer sein, viel Hass und Wut auf den Staat und die Situation sind zu spüren. Wo soll man das abreagieren? Bei den Lehrern oder Eltern nicht, das steht fest. 1

So ein Artikel im Film- und Kulturmagazin Negativ. Den Film gibt es übrigens für 13€ zusammen mit anderen Werken in der Box „Mauer Kinder“ vom Icestorm-Verlag.

Was erhoffen wir zu sehen? Rechtsradikalismus und Faschismus wächst seit je her auf dem gleichen Nährboden. Perspektivlosigkeit und Angst sind nur zwei Facetten eines Lebens in der DDR. Als die Mauer fiel, erhofften man sich eine Zukunft, man hegte große Träume und Erwartungen, die die Wiedervereinigung nicht erfüllen konnte. Für viele machte die Wende alles nur noch aussichtsloser. Die Freiheit zu tun was man möchte, zu sein wer man ist und zu sagen was einem in den Sinn kommt, schützt nicht vor den selben Dingen, die schon vorher für Orientierungslosigkeit sorgten. Arbeitslosigkeit und keine Aussicht seinen Platz im Leben zu finden, spitzen das Problem zu. Man sucht schuldige. Hoyerswerda war 1991 medial wirksamer Schauplatz für einen vorläufigen Höhepunkt.

Im Magazin Negativ steht weiter:

Die Gespräche rücken diese generell auf allen Seiten herrschende Unzufriedenheit in den Fokus, (ver)führen zu der Annahme, dass die Wurzel des Problems darin liegt, die junge Generation mit dieser Aversion gegen herrschende Zustände allein gelassen und sie somit für solche Gemeinschaften erst empfänglich gemacht zu haben. Ein gerade in Haft genommener Skinhead schreibt in einem Brief an seine Mutter, dass er den Ausstieg oft probierte, ihm aber gesagt wurde, das dürfe er nicht, man brauche ihn hier. Dieses Gebrauchtwerden ist etwas, das dieser Generation existentiell fehlt, denn sie ist eine Generation, die keine Entscheidungen treffen darf, der kein Vertrauen entgegen gebracht und die vollständig überwacht wird. Trotzdem erschreckt die Vehemenz, mit der diese Jugendlichen ausländerfeindliche Parolen schmettern, die nicht alleine der Überzeugung sondern vor allem dem Gemeinschaftsgefühl geschuldet sind. 1

Einzelnachweise

  1. Aus dem Artikel „goEast 2011“ von Rebecca Nicklaus im Kultur-Magazin Negativ http://www.negativ-film.de/2011/04/goeast-2011-unsere-kinder.html[][]
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tobikult
tobikult(@tobikult)
Vor 12 Jahre

„Man nennt sie Gruftis. Sie selbst nennen sich Holger, Ines und Mark.“
Chapeau! Was ihr immer für Sachen ausgrabt. Vielen Dank! Diesen Doku-Stil habe ich seit meinen Schulfernsehen-Zeiten nicht mehr genossen :-)

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