Warum es das WGT bald als Kinderbuch gibt – Interview mit dem Autor von „Wir Kellerkinder“

Neulich erhielt ich einige recht unterschiedliche Nachrichten über die sozialen Netzwerke, die mich auf ein geplantes WGT Kinderbuch aufmerksam machen wollten. Während einige sich über den „Ausverkauf unserer Szene“ empörten, lobten andere Nachrichten die Idee eines solchen Buches und forderten: „Bring doch mal was darüber!„. Diesen Gegensätzen wollte ich auf den Grund gehen und habe Christian, den Autor des Buches „Wir Kellerkinder – Everyday is Halloween“ um ein Interview gebeten. Natürlich bin ich auch sehr gespannt, wie ihr dieses Projekt seht, ob ihr seine Beweggründe nachvollziehen könnt und ob ihr einen Ausverkauf der Szene erkennt.

Christian (siehe Titelbild) ist 42, lebt in Hamburg und bewegt sich seit einem guten Vierteljahrhundert in der Szene und dürfte mit seinen 24 WGT-Besuchen durchaus als Veteran durchgehen. Ob er sich selbst als Grufti bezeichnen soll, weiß er nicht recht, „ich trage halt ausschließlich schwarz und höre fast nur dunkle Musik, viele andere häufiger vorkommenden Merkmale finden sich jedoch nicht an mir.“ Zusammen mit Jan von Gotikatur möchte er ein Buch auf die Beine stellen, das voraussichtlich 2020 erscheinen wird und über Crowdfunding finanziert werden soll.

Gegen den Einheitsbrei aus Prinzessinnen und Meerjungfrauen

Spontis: In einer Mischung aus Überraschung, Neugier und Schock habe ich davon gelesen, dass Du vorhast, ein Kinderbuch zu schreiben. Wie kam es zu der Idee?

Christian: Die Überraschung freut mich, ebenso die Neugier. Aber ein Schock? Die Idee hat sich mir quasi aufgedrängt! Dieses Jahr werde ich zum 24. mal das WGT erleben, mein fünftes als Vater. Neben der Musik gefiel mir schon immer die Atmosphäre, die vielen verschiedenen Spielarten und das friedliche Miteinander. Ständig neue Eindrücke und ständig neue Charaktere. Und genau diesen Teil meines Lebens möchte ich meiner Tochter natürlich irgendwie näher bringen. Nicht, um aus ihr einen Grufti zu machen, sondern, um mit ihr etwas zu teilen, was mir wichtig ist.

Spontis: Du schreibst in deinen Informationen zum Buch: „…ich möchte die schwarze Szene […] für Kinder erfahrbar machen und ihnen diese Vielfältigkeit vermitteln.“ Wie willst du das anstellen? Wie ist das Buch aufgebaut?

Christian: Es soll ein Wimmelbuch und auch für 3-6 jährige verständlich sein. Für ein Festival wie dem WGT, wo eine ganze Stadt voll von verschiedenen schwarzen Menschen ist, schien mir das die passendste Form. Es soll keine Ansichten oder Philosophien vermitteln, keine Melancholie erklären oder das Obskure. Es soll sich das Treiben ganz naiv und unvoreingenommen ansehen und es abbilden.

Spontis: Du hast neulich selbst Interviews mit Gruftis geführt, die du für die Idee begeistern konntest. Welche Fragen hast du gestellt und worauf zielten diese Interviews ab?

Christian: Meine Fragen waren zum Teil schon so naiv, wie ich sie mit dem Buch auch beantworten möchte: “Wer bist du?”, “Was bist du?” und “Was bedeutet all das schwarz?”. Und abschließend die Frage, ob das alljährliche Szene-Gewusel in einem Bilderbuch Platz finden könnte. So viel sei verraten, alle fanden die Idee toll. Die Interviews selber werde ich in den kommenden Wochen veröffentlichen und hoffe so noch mehr Aufmerksamkeit für dieses Projekt zu erzeugen.

https://www.facebook.com/wirkellerkinderbuch/videos/1253415504822904/

Spontis: Warum ist es Deiner Ansicht nach überhaupt notwendig, Kindern etwas über eine Subkultur zu vermitteln?

Christian: Zunächst einmal geht es mir ganz persönlich darum, etwas, das mir wichtig ist und einen wichtigen Teil von mir definiert mit meiner Tochter zu teilen, um sie an meinem Leben teilhaben zu lassen. Genauso, wie sie mich an ihrem Leben teilhaben lässt.

Vor allem aber möchte ich dem Einheitsbrei aus Prinzessinnen und Meerjungfrauen, Einhörner und Kuscheltiere auf der einen Seite und Piraten, Feuerwehrmänner und Dinosaurier auf der anderen Seite einfach mal etwas anderes entgegensetzen. Etwas, das anders ist und auch sein will.

Die Kinderliteratur, aber auch die Musik und die Filme sind voll von Stereotypen. Es gibt verdammte Ü-Eier für Mädchen! Da ist nichts besser geworden in den letzten Jahrzehnten. Im Gegenteil, die Industrien haben Stereotypen perfektioniert. Und wie alle Eltern bestätigen werden, kann man dem nicht entkommen, egal wie sehr man sich dagegen stemmt, weil spätestens in der Kita die anderen Mädchen mit der Eiskönigin und die Jungs mit Feuerwehrmann Sam ankommen.

Mir macht es jedes Jahr großen Spaß, mich auf dem WGT und in der Stadt umzuschauen und die vielen verschiedenen Leute zu sehen. Kindern wird es vermutlich ähnlich gehen. Ob sie selbst einmal Teil dieser oder einer anderen Subkultur werden, vermag so ein Buch vermutlich kaum zu beeinflussen und das ist auch gar nicht das Bestreben. Das sollen die kleinen Menschen schön für sich herausfinden.

Es kann doch nicht verkehrt sein, einfach mal etwas zu machen, das eine Alternative aufzeigt, anders ist und vielleicht sogar hilft den kleinen Horizont nachhaltig zu erweitern dafür, dass es auch andere Lebensentwürfe gibt, dass Anderssein etwas tolles sein kann.

Spontis: „Wir Kellerkinder“ ist ein interessanter Titel, beziehst du Dich damit auf den Spielfilm von Wolfgang Neuss oder wie kam es zu dem Titel?

Christian: Die Liste derer, die ohne googlen den Namen Wolfgang Neuss assoziieren ist kurz. Ich habe den Film vor vielen Jahren mal im Studentenkino gesehen, aber hatte ihn nicht mehr präsent und musste  erst an seinen Titel erinnert werden, also eher nein. Kellerkinder ist einfach einer dieser Begriffe, die der schwarzen Szene hinterhergerufen werden, von Leuten, die damit nichts anfangen können. Er passt deshalb so gut zu diesem Buch.

Gothics in den USA hingegen hören immer wieder ein hinterher gerufenes “Halloween’s over!” weswegen auch der Untertitel “Everyday is Halloween” gut passt (auch ohne sich direkt auf Ministry zu beziehen). Das Buch soll dort, wo es Text haben wird, zweisprachig daherkommen und so von deutsch- aber eben auch englischsprachigen WGT-Besuchern gelesen werden können.

Spontis: Ich habe mich gefragt, was Du damit erreichen willst, Kindern die schwarze Szene erfahrbar zu machen. Möchtest du Nachwuchs generieren, Offenheit und Toleranz vermitteln oder den Erklärbär spielen?

Christian: Vielleicht, ja, ja und nö. Kinder lernen etwas, das sie nicht verstehen, indem sie damit spielen. Wenn dabei Offenheit und Toleranz gegenüber Anderssein entstehen kann und dieses Buch einen kleinen, bescheidenen Beitrag zu einer solchen Entwicklung leistet, würde mich das sehr stolz machen.

Misstrauen gegenüber der Konsenskultur als Gemeinsamkeit

Spontis: Ich glaube, viele Szene-Mitglieder sehen ihren Rückzugsraum in Gefahr, wenn du in ihren Augen die schwarze Szene zum Kinderbuch degradierst. Viele sehen Deine Bemühungen kritisch und fürchten, du vermittelst ein Bild von einer schwarzen Szene mit plärrenden und spielenden Kindern auf schwarzen Hüpfburgen. Eben das, wovor viele Szenemitglieder zu fliehen versuchen. Was sagst du dazu?

Christian: Kinder sind doch längst Teil dieser Szene. Viele von uns sind Eltern geworden. Es gibt sogar schon Großeltern unter uns und das WGT, wie auch einige andere große Festivals, haben darauf längst mit Betreuungsangeboten reagiert. Natürlich gibt es auch Gruftis, die von alldem nichts wissen wollen und mit Kindern nichts anfangen können, aber ist ausgerechnet Kinderfeindlichkeit ein typisches Merkmal dieser sonst als so friedlich beschriebenen Szene?

Kritik schlug mir bisher wirklich selten entgegen. Klar gibt es Leute, die meine Idee für Unsinn halten und damit bin ich total einverstanden. Mir gefällt ja auch nicht alles. Mir wurde auch vereinzelt Kommerz vorgeworfen, dabei bin ich froh, wenn ich das Projekt umsetzen kann ohne draufzahlen zu müssen. Es gibt auch Leute, die – ähnlich deiner Frage – die “Trueness” dieses Projektes in Frage stellen und da kommen wir zu einem interessanten Thema. Denn was die Szene ausmacht und wie sie sich definiert ist eben kein festgeschriebener Code, wie es einige meinen, sondern etwas sehr individuelles. Die einzige echte Gemeinsamkeit, die ich erkennen kann, ist das Anderssein und ein tiefes Misstrauen gegenüber der Konsenskultur und daraus sich ergebend die Tendenz den Blick in das Dunkle, das Abseitige zu wenden, um dort etwas für sich zu finden. Und dennoch scheinen wir alle eine Sehnsucht nach Gemeinsamkeit zu verspüren, der wir u.a. auf dem WGT nachgehen.

All das können Kinderbücher der Szene nicht nehmen. Sie können aber vielleicht helfen eine Offenheit für das Anderssein zu schaffen, von der wir alle profitieren würden.

Ich persönlich möchte nicht vor Kindern flüchten. Aber ich möchte von coolen Kindern umgeben sein, die selbstbewusst ihren Weg suchen und dabei keine Scheu haben, Dinge auch mal anders zu machen.

Spontis: In deinen erst Bild-Collagen zum Buch-Projekt tauchen auch viele „Kostümierte“ auf und suggerieren, dass es wieder einmal nur um die Selbstdarsteller und Verkleidungskünstler geht und weniger um die Szene und die damit verbundenen Weltanschauung, wie die Leidenschaft für das Morbide, das Abseitige und das Okkulte. Wie siehst du das?

Christian: Für das Morbide, das Abseitige und das Okkulte ist Kinderbüchern nur wenig Platz und wenn, dann immer kindgerecht aufbereitet. Das ist uns aber doch nicht fremd. Es gibt schon so viele niedliche Fledermaus-Rucksäcke u.ä. und niemand stört sich daran. Warum auch?

Wohl aber sollte die Szene in der Lage sein, sich dem naiven Blick eines Kindes zu stellen, der zunächst einmal doch nur feststellen kann, dass da Menschen rumlaufen, die anders aussehen als die meisten. Warum machen die das? Was bedeutet das alles? Sind die böse oder lieb? Das sind doch total valide Fragen. Klar kratzt das nur an der Oberfläche, aber so fängt doch alles Interesse an.

Wie sollen Kinder Toleranz für Anderssein entwickeln, wenn diese Anderen sich Ihrem Blick nicht stellen?

Spontis: Genug gebohrt. Wer ist eigentlich alles an der Entstehung des Buches beteiligt?

Christian: Bis jetzt entspringt das Buch nur meinem Kopf. Aber mit Jan von Gotikatur gibt es einen Illustrator, der in der Umsetzung dann wiederum großen Einfluss auf alles haben wird. In gewisser Weise haben das auch schon all diejenigen, mit denen ich mich bisher austauschen konnte.

Spontis: Wann ist geplant, das Buch herauszubringen und was soll es grob geschätzt kosten? Wann startet die Crowdfunding-Kampagne?

Christian: Sobald die Kickstarter-Kampagne erfolgreich zu Ende gegangen ist, fangen wir an zu zeichnen. Je nach Umfang wird das ein paar Monate dauern, bevor wir vermutlich Anfang 2020 die ersten Exemplare in den Händen halten können. Das gilt ebenfalls für alle, die uns via Kickstarter entsprechend unterstützt haben. Alle anderen müssen dann noch ein wenig warten, bis man das Buch online oder auf dem WGT für voraussichtlich 16,95 Euro erwerben kann.

Die Kickstarter-Kampagne startet bald. Das genaue Datum halten wir aber vorerst geheim, denn als erste erfahren es unsere treuen Newsletter-Abonnenten, die so auch als erste die Gelegenheit bekommen sollen, sich die besten Rewards zu sichern. Das Buch wird auf Kickstarter mit einem deutlich reduzierten Preis erhältlich sein. Auch wird es die Möglichkeit geben, sich selbst in dem Buch als Figur zu verewigen. Early Birds kriegen die dicksten Würmer!

Spontis bedankt sich bei Christian für dieses ausführliche und aufschlussreiche Interview!

Weiter Informationen zum Buch „Wir Kellerkinder – Everyday is Halloween“:

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BlueLotus
BlueLotus (@guest_57898)
Vor 4 Jahre

Ich gehöre zwar zur kinderlosen Fraktion, kann aber nichts Verwerfliches an der Idee finden, warum nicht, kommt halt drauf an, wie’s gemacht wird! Wenns von der Szene für die Szene ist, sollte doch was Nettes rauskommen, bin gespannt! Falls sich Killstar & Co als Sponsor melden, solltet ihr halt dankend ablehnen ;)

bat
bat (@guest_57899)
Vor 4 Jahre

Ich gehöre auch zur kinderlosen Fraktion, aber auch ich finde, dass es eine schöne Idee ist! :)

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