Aufklärung in Bilder“ – unter diesem Titel führte Deutschlands größte Jugendzeitschrift, die BRAVO, 1972 die Foto-Love-Romane ein. Neben der Unterhaltung sollten die bebilderten Kurzgeschichten „neben viel Spannung auch noch klare Fakten zu Aufklärungsthemen (bringen). Sex, Flirten, Körperfragen, Verhütung und mehr – verpackt in spannende Geschichten!“ Kein Thema der Jugend wurde ausgelassen, kein Trend übersprungen und so kam es, das sich die Bravo 1987 auch den Grufties zuwendete, nachdem sie den Trend bereits in anderen Zusammenhängen für sich nutzte.
Wieder mit von der Partie ist Carla, die mittlerweile 20 Jahre alt sein dürfte und bereits in Carla, die Schock-Friseuse eine Seite der Bravo füllte. Diese Carla ist aber auch ein Münchener Wave- und Gothicstrudel und hat gleich reihenweise jungen Menschen in das düstere Verderben gezogen. Nicht nur das viele den Artikel über sie verschlungen haben und ihrem Beispiel folgten, jetzt macht sich auch noch Karriere in einem der renommiertesten Jugend-Foto-Romanen der 80er. Wir wollen in der mehrteiligen Reihe beobachten, was aus Carla und ihren Freundinnen wird und wie die BRAVO die moralische Kurve kratzt.
Zoff um Dagmars Glatze (Teil 2)
„Ratten und Maus (A), zwei total schriller Münchener Waverinnen im Grufti-Look, sind die großen Vorbilder von Vero. Als über Ratte ein Artikel in einer Zeitschrift erschien, hat ihr Vero einen Brief geschrieben. Ratte lud sie daraufhin zu einem Treff in eine Münchener Waver-Disco ein. Damit sie nicht aussehen wie die letzten „Land-Pomeranzen“ hat Vero ihre Freundin Dagmar schwer gestylt und ihr in „Heimarbeit“ eine scharfe Waver-Frisur mit rasierten Schläfen verpaßt (B). Dagmar kriegt daraufhin natürlich erst mal Riesen-Stunk mit ihrer Mutter (C) …“
Was dem ein oder anderen heute als spießige Wortwahl erscheint, war damals schon angepasste Jugendsprache. Ausrasierte Schläfen macht man heute ganz blank und nennt man Undercut, Waver im Grufti-Style haben sich getrennt und waren später Waver und Gruftis. „Bäh, wie hast du das denn hingekriegt? Sieht ja wieder voll spießig aus!“ Gemeint ist Dagmars Outfit mit zerissener Hose und Cowboy-Stiefeln und glaubt mir, damit hätte mich meine Mutter nicht aus dem Haus gelassen. Aber unrecht hat die Bravo damit natürlich nicht, Konflikte mit den Eltern waren vorprogrammiert und natürlich auch gewollt. „Seht her ich bin anders.“ Gerade in der Schule, der Ausbildung oder der Uni fallen Totalveränderungen natürlich bei Mitschülern am stärksten auf und schwanken bestenfalls zwischen Ablehnung und Zustimmung. Betrachtet man die Bilder heute, so hat man sicherlich auch an der Kleidung der anderen „Normalen“ etwas auszusetzen. Faszinierend wie die gesellschaftliche Norm unsere Wahrnehmung verändert.
„Daß die alle so doof reagieren, hätte ich nicht gedacht!“ Was hat sie erwartet? In der Schule gibt es wohl immer Menschen die einen mögen oder eben nicht, da spielt das Outfit eine untergeordnete Rolle und ist lediglich Mittel zum Zweck. Zwischen den Zeilen steht auch sehr oft: „Ich würde gerne so aussehen wie du, traue mich aber nicht und deshalb lästere ich über Dich um wenigsten hier Gemeinschaft zu erleben.“ Seien wir ehrlich, mit einem solchen Mut zum Outfit gehört man sicherlich nicht zu den beliebtesten der Umgebung, die sich immer an der Masse orientiert. Zu Deutsch: Wären wir alle Gruftis, würde man wohl die „Normalen“ ausgrenzen. Liegt wohl in der menschlichen Natur. Nachvollziehen? Kein Problem, wir waren allen mal jung.
„Dagmars Mutter war zunächst stocksauer auf ihre Tochter und deren angeblich bescheuerten Frisur. Aber dann läßt sie sich von Vero breitschlagen, die für ihre Freundin heiße Reden vom Stapel läßt, während Frau Martens bügelt. Und Veros Argumente ziehen – Dagmar darf mit in die Waver-Disco nach München. Vor allem, weil Veros Vater, ein Lehrer, die beiden Mädchen abholt und mit dem Auto nach Hause bringt. Die beiden wohnen schließlich 30 Kilometer von München entfernt… Nun gehen die Vorbereitungen für den Abend los. Verim deren Eltern großzügiger sind, hat genügend Wave-Klamotten und passenden Schmuck, den sie ihrer Freundin für den Abend leiht.“
Ja so war das. Ohne Hilfe ist man aufgeschmissen, gerade was die Haar angeht. Die Feinheiten liegen jedoch im Bild verborgen: „Ob Ratte wohl sehr arrogant ist?“ Arroganz gehörte zum guten Ton der Szene, ein elitäres Gehabe und das offensichtliche „Über den Dingen stehen“ gehörte zum typischen Szeneumgang nach außen hin. Dadurch verstärke man einerseits die Ablehnung anderer Jugendlichen und schütze sich vor allzu dummen Fragen der Mitmenschen. Das machte es natürlich schwierig, den wahren Kern eines Menschen zu ergründen und in das vermeintlich schwarze Herz eines Grufties zu sehen. Das wollte die Bravo auch gar nicht, Foto-Love über Waver heißt nur am Rande Aufklärung und in der Hauptsache Unterhaltung. Doch im Gegensatz dazu war die Szene in sich sehr einfühlsam, empathisch und sensibel und ermöglichte es vielen Jugendlich wirklich über sich und ihre Gedanken zu sprechen. Tiefschürfende Gespräche sind kein Mythos, sondern durchaus Realität gewesen. Seit der Vereinnahmung durch die Spaßgesellschaft „Grufti sein ist cool“, ist das jedoch aus dem Blickwinkel verschwunden und wieder in den Untergrund abgetaucht.
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