Anfang Mai wird im britischen Liverpool der 67. Eurovision Song Contest ausgetragen. Wer Deutschland dort vertreten wird, stellt sich beim Vorentscheid „Unser Lied für Liverpool“, der am 3. März ausgestrahlt wird, hoffentlich heraus. Unter den neun deutschen Bands und Künstlern, die sich bewerben, sind auch die unter Gothics bekannte Band „Lord Of The Lost“ mit ihrem Song „Blood & Glitter“. Vielen Fans der Band gefällt diese Teilnahme nicht, sie werfen der Band „Kommerz“ vor. In einer Stellungnahme verteidigt Chris Harms, Sänger der Band, sein Vorgehen.
Angst vor dem „Unheilig-Effekt“?
Die Teilnahme der Band „Lords Of The Lost“ beim Vorentscheid zum ESC 2023 polarisiert vielen Szene-Mitglieder, die sich zu den Fans der Band zählen. Sie befürchten, die Band würde sich letztlich vom „Mainstream verheizen zu lassen“, ganz so, wie es Unheilig aus ihrer Sicht ergangen ist. Wer sich mit Ballerman-Bands wie „Ikke Hüftgold“ oder Boygroups wie „TRONG“ um einen Platz beim ESC buhlt, so der Konsens aus vielen Kommentaren, kann den Vorwurf in ähnliche Gefilde abzudriften, nicht von der Hand weisen. Viele Bands haben sich in der Vergangenheit schon mit derartigen Vorwürfen herumgeschlagen. Die Mittelalter-Band Faun, die in der nach Jahren in den Tiefen der Szene bei Schlagersendungen auftrat, wollte 2015 ebenfalls beim ESC mitmischen und wurde „von den Fans Unheilig gesprochen„. Schauen wir uns doch erst mal an, worum es überhaupt geht.
Auf ein Ohr mit „Lord Of The Lost – Blood & Glitter“
Sind wir doch ehrlich, liebe Leser. Die Chancen, mit diesem Song den Vorentscheid zu gewinnen, sind meiner Meinung nach gering. Ganz zu schweigen vom „Eurovision Song Contest selbst“. Nicht nur wegen des Wortes „Blut“ im Titel und einem wahren Blutregen im dazugehörigen Musikvideo, sondern weil sich die „Lord Of The Lost“ offensichtlich so geben, wie sie sind. Und wenn sie es tatsächlich mit diesem Nu-Metal-Goth-Rock-Crossover an die Spitze des Vorentscheids schaffen, könnte ich nach 1982 tatsächlich auch mal wieder zu Fernbedienung greifen, um den ESC zu verfolgen. Ich bin einfach neugierig, wer in Europa auf diesen „Sound“ steht.
Lord Of The Lost: Statement zu den Vorwürfen
Weil die Reaktionen offensichtlich doch heftiger und zahlreicher waren als gedacht, sah sich Chris Harms („The Lord“), Sänger der Band, zu einer Stellungnahme bei Facebook genötigt. (Hier nochmal als Screenshot)
Wir sind schon LANGE voll Kommerz. […] Weil wir mit unserer Musik inzwischen Geld verdienen (denn das bedeutet „kommerziell“). Wir dürfen unsere Kunst als unseren Job bezeichnen. […] Es war ein harter, langer Weg bis hierhin und er ist es noch! Jeden Tag.
Von seiner Kunst leben zu können, ist der Traum vieler Künstler. 2023 ist es allerdings so schwer geworden, in der Masse der Kunst herauszustechen, dass man durchaus „unkonventionelle“ Wege einschlagen kann, um diesen Traum zu erhalten.
Chris Harms ist schon seit 2007 mit „Lord Of The Lost“ unterwegs, veröffentlichte seit dem 11 Studioalben und gehört zu den extrem fleißigen Bands, die auf dem Mera Luna oder dem Amphi fast zum Stamm-Line-Up gehören. Sie gehört neben „HIM“ oder „Type O Negative“ zum Genre „Gothic-Metal“ oder auch „Dark Rock“ und dürften die Verknüpfung von Metal und Gothic maßgeblich beeinflusst haben.
Nun werden sie für den Erfolg, für den sie fleißig gearbeitet haben, zum „Kommerz“, den man ablehnen sollte?
https://www.facebook.com/chrisharmslordofthelost/posts/pfbid0aiqAHF6KK53GS751ZbHpU3D5pkZYnoG6osCb8GMDwyPfpb7tpL3hYX5eWwPg9iwZl
Lord Of The Lost – Nur (m)eine Meinung
Wenn du als Musiker den Schritt gehst, von deiner Kunst leben zu wollen, musst du stets Kompromisse eingehen. Jahrelang spielst du dir die schwarz lackierten Fingernägel wund, um erfolgreich und bekannt zu werden, kämpfst um Plattenverträge, Einnahmen und Aufmerksamkeit, um dann, kurz vor dem Erreichen des Ziels, von denen ausgebuht zu werden, die dich vor der Bühne angefeuert haben. Damit muss man als (erfolgreicher) Musiker umgehen.
Vielleicht ist das so ein Grufti-Reflex: Was erfolgreich ist, muss schlecht sein. Es ist vermutlich die Angst, dieselbe Band gut zu finden wie die Nachbarn, die neben Helene Fischer, Schützenfest und Tupperware jetzt auch „Lord Of The Lost“ hören. Es ist das Gefühl, die eigene Szene-Identität zu verlieren, weil man die gehütete Perle der musikalischen Identifikation mit jemandem teilen muss, von dem man sich eigentlich abgrenzen wollte.
Seine Meinung dann aber auch noch in die sozialen Netzwerke zu posaunen und einem Musiker, der seit über 15 Jahren für seinen Erfolg gearbeitet hat, diesen madig zu machen, ist respektlos. Geht doch einfach nicht hin, schaltet ab und klickt woanders hin. Hört doch einfach andere, unbekanntere Musik.
Oder noch viel einfacher: Nehmt es hin wie ein richtiger Grufti und wartet, bis vielleicht Lords Of The Lords sich so eine Art „Legendenstatus“ bei Euch erspielen. Ihr könnt sogar ein paar Alben auslassen, die euch nicht gefallen, dürft aber heimlich weiterhören. So wie bei „The Cure“ zum Beispiel. Da teile ich dann bei einem Konzert tiefste Szene-Emotionen zu „A Forest“ mit dem klatschenden Junggesellen-Abschied zwei Reihen weiter vorne und schwebe zu „Lullaby“ über die Tanzfläche, während Mr. Blue-Jeans mit seiner Flasche Bier in der Hand auf- und ab hüpft.
Und vielleicht schmeißt ihr auch den Neid über Bord, dass jemand mit dem, das er leidenschaftlich gerne macht, auch Geld verdient, die Kunst zum Beruf macht und ihm die Freude lasst „morgen meinem Sohn von diesem Geld ein paar neue Frühlingsschuhe kaufe, dem Obdachlosen einen 5er in die Hand drücke und keine Angst vor der nächsten Miete haben muss„, wie Chris Harms sein Statement fortführt.
Ich darf die Musik von „Lord Of The Lost“ auch NICHT mögen und trotzdem Respekt dafür zollen, was Chris Harms erreicht hat.