John Robb ist sicher einigen von Euch ein Begriff. Sei es als Sänger und Bassist der Band „Membranes„, als Musikjournalist, Autor diverser Bücher zur Musikgeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts oder als der Mann, der den Blog „Louder Than War“ betreibt.
Irgendwann im letzten Jahr letztes Jahr bekam ich mit, dass er ein Buch namens „The Art of Darkness: The History of Goth“ herausgebracht hatte. Das klang interessant, das wollte ich haben; ich bekam es aus England geschickt und machte mich (zunächst vergnügt) an die Lektüre. Anschließend bot ich das Buch Robert als Blogmaterial an; nach einer Weile stellte sich heraus, dass Robert in absehbarer Zeit keine Kapazitäten für die Lektüre und Rezension von 500-Seiten-Wälzern haben wird und deshalb lest Ihr jetzt meine Meinung zu „The Art of Darkness“.
John Robb und die Vorgeschichte von Goth
Das erste Kapitel nimmt uns mit in einen britischen Goth-Club der frühen 80er Jahre. Auch, wenn ich nie zu der Zeit an solchen Orten war, hat mich das spontan begeistert, denn: So war das damals. In Deutschland allerdings einige Jahre später und eigentlich ganz anders, aber die Atmosphäre, wie Robb sie beschreibt, wirkt sehr vertraut. Zwar fiel mir bereits hier auf, dass mir der Erzählstil nicht so liegt, aber das ist ja mein Problem.
„…gebleichte und gefärbte Haare, gelegentliche Tattoos, eine mit Make-up verschönerte weiße Haut und kunstvoll geschminkte dunkle Lippen, die mit lila oder schwarzem Lippenstift verschmiert waren. Es gab dicken Eyeliner und grelles Rouge, um die Wangenknochen hervorzuheben und zu betonen, Siouxsie/Cleopatra-Kajal-Augen und überall konnte man das Klappern von Kruzifixen, Perlen und Knochenketten hören. Es gab viele Variationen zu vielen Themen – Subgenres innerhalb von Genres, Stile innerhalb von Stilen. Es gab Punks, Gruftis und sogar ein paar von der Regenmantel-Brigade, die immer noch auf der Suche nach ihrer alternativen Lösung waren…“
Anschließend macht John Robb uns umfassend mit der Prehistory of Goth bekannt. Wirklich sehr umfassend. Natürlich kann man versuchen, die Wurzeln des Goth bis in die Antike zurückzuverfolgen und es gibt sicher an anderen Stellen im Internet verständige Diskussionen darüber, ob das sinnvoll ist oder nicht. Ich habe dem Abschnitt entnommen, dass John Robb sehr gebildet ist und ich vielleicht eine Kulturbanausin bin. Um es positiv zu betrachten: Man kann hier bestimmt Inspiration finden, sich alte Dinge anzuhören, anzusehen oder zu lesen, die man bis dato noch nicht kannte.
Veteranen erzählen John Robb von damals
Im weiteren Verlauf des Buches kommen allerhand Musiker zu Wort. John Robb hat mit beinahe allen gesprochen, die in der Szene einen Namen haben. Robert Smith, Marc Almond, Nick Cave, Andrew Eldritch, Adam Ant, Johnny Marr, die Liste ist lang, die prominenten Ausnahmen wenige.
Dieser Teil hat mir wirklich sehr gefallen. Oral History oder auch „Veteranen erzählen von damals“ – wie haben die Teilnehmenden ihre Geschichte erlebt, was haben sie für Anekdoten? Das liest sich unterhaltsam und interessant.
Das Format, so schön es auch ist, hat seine Tücken: 30, 40 und mehr Jahre später in der Retrospektive sehen Dinge anders aus als zum Zeitpunkt des Geschehens. Kurzes Blättern in „NME Originals: Goth“ bestätigt mich in dem Eindruck, dass zum Beispiel Andrew Eldritch und Ian Astbury früher mal anders über sich und ihr Tun gesprochen haben. Nun ja.
Die Musik wird nach Bands sortiert in ungefähr zeitlicher Reihenfolge behandelt, das letzte größere Kapitel ist Fields of the Nephilim gewidmet.
Danach wird es etwas hektisch; es werden zwei Kapitel lang sehr viele Musikernamen geradezu abgehaspelt, um bis in die Neuzeit vorzudringen. Dann sind annähernd 500 Seiten voll und es wurde ausschließlich über Musik gesprochen. Es sollte ja die „definitive history of Goth“ werden und Goth ist doch mehr als nur Musik – also schnell noch einige Seiten über kontemporäre Literatur, Film und … war noch was, äh, ach Mode und Moment, Menschen, ja Menschen.
Musik macht natürlich einen wesentlichen Teil unserer Subkultur aus. Aber die Dinge, die hier auf den allerletzten Seiten eilig angesprochen werden – über die, besonders über die (nichtprominenten, nicht-Musiker) Menschen, die die Szene bilden, hätte ich persönlich wirklich gerne mehr gelesen als über gruftikompatible Kulturelemente von ca. Aristophanes bis ins Hochmittelalter.
An einigen Stellen bin ich auch inhaltlich nicht recht mit Robb einverstanden, bitte um Entschuldigung, ich muss meine Steckenpferde ausreiten:
„Budgie spent time with Siouxsie and the Banshees“ – das ist zwar nicht falsch. Aber es redet seine Rolle in der Band klein, in der er „Zeit verbracht hat“, indem er 17 Jahre hauptberuflich ihr Schlagzeuger war. Gut, das ist eher ein Augenroller als ein Fehler.
Aber es gibt mehr.
Coils Version von „Tainted Love“ „with Marc Almond on vocals“? Nun. Vielleicht steckt Almond in den synthetisierten Backing Vocals ohne dass es auf dem Plattencover oder im Internet steht und John Robb hat da Geheimwissen. Vielleicht spielt ihm aber auch sein Gedächtnis einen Streich, weil Marc Almond im Musikvideo eine Rolle spielt und auch verschiedentlich für Coil gesungen hat.
Über Nina Hagen erfahren wir, sie sei in Ostberlin geboren und später „nach Hamburg umgezogen“. Das kann man zwar so ausdrücken. Ich kann das aber stark verkürzt finden. Um nicht zu sagen, sinnentstellend. Zwei Sätze mehr hätten es schon sein dürfen.
John Robb scheint zu glauben, Camerata Mediolanense seien in Fribourg von „der Antifa“ attackiert worden, weil ihre Art der Musik als faschistisch betrachtet würde. Ich will die Aktion wirklich nicht rechtfertigen, aber es lässt sich leicht herausfinden, dass nicht die Musik der Anlass war.
Ich hätte gerne einen verlässlichen Chronisten. Wenn ich mit meinem wahrlich nicht enzyklopädischen Wissen schon über gleich drei unzutreffende Behauptungen stolpere, was mag da noch alles verdreht oder falsch sein?
Lektorat? Fehlanzeige!
Apropos stören – die von mir genossene Erstauflage hat ganz offensichtlich kein Lektorat erfahren. Tippfehler en masse, Formatierungsfehler (zwei Seiten vergeigter Schriftsatz an ,einer Stelle) und unglaublich viele Wortwiederholungen, teilweise innerhalb eines Satzes und nicht als Stilelement. Der Vorname von Anja Huwe ist jedes Mal falsch geschrieben (und er kommt 7 oder 8x vor). Da stoße ich mir beim Lesen ständig sozusagen den großen Zeh. So würde man keine Hausaufgabe einreichen, John Robb hat „so“ ein Buch zum kommerziellen Verkauf angeboten. Nicht sehr respektvoll gegenüber der zahlenden Kundschaft.
„Their home city had its own post-war narrative and its own radical post-punk and DIY scene built around Ripood Records and Albert Hilsberg’s Zickzack label that had released Einsturzende Neubauten’s debut, Kollaps, which former singer Anje Huwe celebrates.“
Gehässigere Menschen als ich :) könnten glauben, John Robb habe während seiner Recherchen erfahren, dass auch Lol Tolhurst an einer History of Goth arbeitete und er hätte es danach eilig gehabt, noch dem Anspruch gerecht zu werden, die erste History geschrieben zu haben. Aber wer ist schon gehässig?
Fazit: Wir haben hier letztlich eine Oral History of Goth Music mit einer erweiterten Prähistorie des Goth und einigen angerissenen Teilen über sonstige szenerelevante Dinge. Und so wichtig Musik auch ist, hatte ich mir von einer „definitive history of Goth“ etwas anderes versprochen. Was vielleicht ein Missverständnis meinerseits war.
Nachdem die Neuauflage nun für unter 20€ zu haben ist, würde ich sagen: Für den Teil „in eigenen Worten“ finde ich das einen angemessenen Preis. Und vielleicht haben andere Menschen ja auch mehr Spaß als ich an der umfangreichen Vorgeschichte. Von den Dingen, die ich oben bemängele, sind hoffentlich auch einige hinwegbearbeitet worden.
„The Art of Darkness“, Manchester University Press, unter ISBN: 978-1-5261-7676-9 als Neuauflage erhältlich (zu erkennen am neuen Cover, einem alten Foto von Siouxsie und Robert Smith). Diese Ausgabe umfasst erstaunliche 200 Seiten mehr als die von mir gelesene erste; ich habe nicht herausfinden können, ob das an Überarbeitungen oder an Großdruck liegt.
Wer ungern auf Englisch liest, kann eine für September angekündigte deutsche Version mit dem Titel „Goth: Die dunkle Seite des Punk“ (Ventil-Verlag, ISBN 978-3-95575-208-8, 32€) abwarten.
Nicole
Sei gnädig mit dem Autor. Man kann die Geschichte nicht von allen Seiten her erzählen. Er tut es aus seiner englischen Sicht. Natürlich ist die Musik das Bindeglied und der Grund für eine Szene. Jugend-Szenen entstehen immer mit einem Musik-Genre und werden von diesem zusammengehalten. Eine allgemeine Aussage der Szene kann man nicht machen. Er könnte sicherlich über die englische Szene erzählen, aber die wird in London anders ausgesehen haben als in Birmingham oder Inverness. Und so ist es auch hier in Deutschland, Österreich und Schweiz. Überall war die Szene etwas anders. Das war nun mal eine bewegte Zeit, ohne Influenzer die einem vorgemacht haben wie ein „richtiger“ Goth auszusehen hat. Es war auch keine fertige Szene in die man hinein gestolpert ist, so wie heute. Es war eine Szene im Entstehen, im wachsen und in der Veränderung. Wo soll man da ansetzen diese zu beschreiben? Man muss Bücher über jede Szene schreiben um das zu beschreiben. Das kann ein einziger Wälzer gar nicht. Fragt doch einfach mal die alten Goth in eurem Umfeld, wie das damals war. In jeder größeren Stadt wird man andere Tendenzen hören. Nur die Musik war das verbindende Glied die jeder gehört hat. Schau Dir die Musiker von damals an, dann weißt Du wie das Volk ausgesehen hat und da wirst Du eine große Vielfalt sehen.
Was Black Alice sagt. Ein Musiker, Musikjournalist und Autor über Musikgeschichte schreibt über… Musik. Überraschung. ;-)
Plus: Es ist großartig, dass John sehr viel Platz den Proto-Goth-Helden aus den 60ern und 70ern widmet. Endlich mal nicht der typische Mythos, dass Goth-Musik Ende der 70er / Anfang der 80ern vom Himmel gefallen ist. :-)
Allgemein ist John Robb ein sehr netter Mensch vor dessen Wissensschatz über Musikhistorie ich nur daniederknie. Da verzeihe ich auch kleine Ungereimtheiten.
Goth ist natürlich nicht vom Himmel gefallen. Es ist aus der Gruft empor gestiegen. ;-)
Mein Lieblingsbuch ist von Simon Reynolds „Rip it up and start again – Post Punk 1978 bis 1984“.
Ich glaube, eine „History of Goth“ – jedenfalls, was die Leute angeht, die sie bekleiden – kann man sowieso nicht zusammenstellen. Vielleicht auf 1000 Seiten ;) Musik bleibt das verbindende Element und einer der roten Fäden, an denen die Szene hängt, allerdings musikalische Geschichtsstunden über die Entstehung des musikalischen Genres, in ihrer Tiefe ermüdend, jedenfalls für mich. Außerdem werden sie der Szene in ihrer heutigen Form überhaupt nicht mehr gerecht.
Ich warte ja noch auf die ultimative Gothic-Fan-Biographie eines begabten Szene-Mitglieds. „40 Years a Goth – And Still Counting“ sowas in der Art ;)