Kurzgeschichte: Eurydikes Rückkehr aus der Gruft

Orpheus, Ausnahmekünstler und Gesangstalent, der mit seiner dunklen, sanften Stimme selbst die finsteren Götter der Unterwelt zu herzzerreißendem Schluchzen zu rühren vermochte, saß voller Trauer und Verzweiflung auf einer Lichtung im Wald. Trauer fühlte er über den Tod seiner Liebsten, Eurydike, die ihm vorzeitig durch den Biss einer Giftschlange entrissen worden war, Verzweiflung über sein eigenes Versagen, als er die Chance vermasselt hatte, sie wieder ins Reich der Lebenden zurückzuholen.

Er war nicht imstande gewesen, die Bedingung, welche Hades, der Herrscher der Unterwelt, für ihre Rückkehr gestellt hatte, zu erfüllen: Er hätte sich auf dem Weg aus dem Reich der Schatten zurück ins Licht, nicht nach Eurydike umdrehen dürfen.

Orpheus, der eine Gitarre in der Hand hält, dreht sich zu Eurydike um

Nun, da er sie erneut verloren hatte, war der Schmerz noch gewaltiger und brach sich Bahn in einem Klagesong für seine Geliebte. So viel Trauer vereint mit so viel Schönheit drang bis in die Herzen der Bäume hinein und erschütterte selbst die Felsen bis ins Mark. Ach, wenn doch Hades zuließe, dass Eurydike dort unten bei den Schatten sein Lied hören könnte! Ach, wenn es ihr doch erlaubt wäre, ihm ein Zeichen zu senden, um ihm zu zeigen, wie sehr sie sein Lied rührte! Aber ein zweites Mal gewähren die Götter der Unterwelt den Sterblichen keine Gnade.

Erbarmen wurde dem Sänger aber dennoch zuteil, von einer alten, im Wald lebenden Seherin. Da Orpheus ihr leidtat, bot sie ihm ihre Hilfe an. Sie wüsste eine neue Möglichkeit, wie Eurydike sich ihm dennoch mitteilen könne. Orpheus müsse ihr nur ein Bildnis seiner Liebsten zukommen lassen und ihr verraten, wo sich beide oft aufgehalten hätten, damit sie dort das Echo von deren Stimme einfangen könne, um ihr wieder Sprache zu verleihen. Orpheus tat, was er geheißen worden war.

Nach einigen Tagen war die Begegnung mit der Seherin in Orpheus‘ Erinnerung nahezu verblasst, aber ein kleiner Funke Hoffnung glomm dennoch in seinem Herzen, und sein Gesang für Eurydike verstummte selten.

Daher bemerkte Orpheus am siebten Tag auch nicht, wie aus dem Schatten der Bäume plötzlich eine Frauengestalt hervortrat. Mit der Anmut einer Unsterblichen schritt sie über die Lichtung auf ihn zu. Als Orpheus ihrer gewahr wurde, zweifelte er an seinem Verstand und es verschlug ihm zunächst die Sprache: War dies wirklich seine über alles geliebte Eurydike, die da in vollendet strahlender Schönheit vor ihm stand?

Ihre Proportionen waren noch perfekter als vor ihrem Tod, ihr rabenschwarzes Haar wallte noch üppiger über ihre Schultern, ihre Gesichtszüge erschienen noch makelloser als je zuvor. Aber war das denn möglich?  Handelte es sich nicht vielmehr um die Ausgeburten eines vom Schmerz zerrütteten Geistes, der bereits halluzinierte?

Eurydike umgeben von Fledermäusen

Wie um ihn von der Richtigkeit seiner Wahrnehmung zu überzeugen, sprach sie ihn an:

Orpheus, Liebster!„, säuselte sie mit einer honigsüßen Stimme, die nicht von dieser Welt schien.

Unterlass dein katastrophal kakophonisches Geklampfe. Mich brauchst du nicht mehr von deiner Talentlosigkeit zu überzeugen, die bei den Musen Ohrenschmerzen auslöst. Die Götter der Unterwelt haben mich trotz deines Versagens schließlich doch nach oben geschickt, um dich zu beruhigen, damit du ihnen mit deinem grauenhaften Gejaule und Gejammer nicht länger auf die Nerven gehst. Man ist dort unten in der Finsternis einiges an schrägen Klängen gewöhnt, aber dein seichter Singsang, der sogar gräfliche Gruftschlager noch an Unerträglichkeit überbietet, hat dafür gesorgt, dass selbst der dreiköpfige Kerberos seinen Job als Gatekeeper der Unterwelt nicht mehr ausüben möchte. Er hat sein Kündigungsgesuch bei Hades eingereicht. Eigentlich wollte auch ich gar nicht zu dir in die Oberwelt zurückkehren, aber wer wagt schon, die Wünsche des Hades zu ignorieren?“

Orpheus Herz krampfte sich zu einem Eisklumpen zusammen, kälter als jedes Herz, das je von einem Splitter aus des Teufels geborstenem Spiegel getroffen worden war. Sein Gesichtsausdruck erstarrte und seine Wangen wurden aschfahl. Mit tonloser Stimme murmelte er:

Wenn du meine Musik und mich so sehr verachtest, warum bist du dann überhaupt zu mir zurückgekommen?

Eurydikes Stimme klang nun klar, kalt und schneidend:

Um dir zu übermitteln, dass du dein pseudo-waviges Gewinsel auch hier oben einstellen sollst! Das dringt nämlich bis zu uns nach unten in die Gruft und beleidigt dort noch immer unsere ästhetisch empfindsamen Gehörgänge. Es wäre in der Tat besser, du hättest keine Zunge mehr hinter den Zähnen und keine Finger mehr an der Hand. So könntest du weiteren Versuchungen, die Musen zu kränken, besser widerstehen!

Kaum waren diese Worte gesprochen, verschwand Eurydikes Gestalt ebenso plötzlich im Schatten, wie sie zuvor aus demselben hervorgetreten war. Orpheus Blick fiel auf einen alten, morschen Baumstumpf, der einen modrigen Verwesungsgeruch verströmte. In der Rinde desselben steckte ein stählernes Skalpell, das seine Aufmerksamkeit erregte. Sein Puls beschleunigte sich, seine Ohren wurden von einem dumpfen Pochen erfüllt. Durch sein Gehirn zuckten Blitze:

Kakophonisches Geklampfe„, „Talentlosigkeit„, „pseudo-waviges Gewinsel„, „In der Tat wäre es besser…“ Orpheus tat einen Schritt auf den Baumstumpf zu.

Der Ghostbot, von der mitleidsvollen Seherin generiert und mit dem Echo von Eurydikes Stimme gespeist, um Orpheus Schmerz zu lindern, hatte eine eigene Vorstellung davon entwickelt, wie man der Trauer des Sängers ein Ende setzen könnte.

Ein Baumstumpf, in dem ein Messer steckt

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Schwarzer Wildwuchs abseits jeglicher Szene-Hotspots. Wird von allem ästhetisch Dunklen und Morbiden seit jeher magisch angezogen. Genießt Dunkelheit gerne in der Wildnis. Einzelgängerin, aber offen. Spürt Zugehörigkeit zur Szene seit dem Kontakt zu Spontis. Das schwarze Herz schwingt am stärksten durch „The Doors“, „The Cure“ und „Deine Lakaien.

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Lola
Lola(@lola1997)
Vor 27 Tagen

Da mochte wohl jemand seine Gesangskünste nicht xD

John Doe
John Doe(@arno-siess)
Vor 27 Tagen

War das am Ende gar noch Rodney Orpheus? ????????

Gruftfledermaus
Gruftfledermaus (@guest_66565)
Vor 26 Tagen

Schlimmer als das Gräfliche Gothic Schlager gedudel wow das ist wirklich übel :D

Orphi
Orphi(@orphi)
Editor
Vor 26 Tagen

Ich glaube ja, dass Eurydike das alles nur aus Liebe gesagt hat, damit Orpheus endlich mit ihr abschließen kann. Es bringt doch nichts, ewig der Vergangenheit nachzutrauern. Kluge Eurydike. ????

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