Netflix-Doku über Gladbecker Geiseldrama. Warum ich Silke Bischoff nie vergessen werde

Am 18. August 1988 stirbt die 18-jährige Silke Bischoff nach einer bizarren 54-stündigen Geiselnahme auf dem Rücksitz des Fluchtwagens, mit dem die Täter in Richtung Süden unterwegs waren. Dieses Geiseldrama, in dessen Verlauf drei Menschen ums Leben kommen, fesselte Deutschland, weil nahezu jeder Schritt der Bankräuber von der Presse begleitet werden konnte. In einer neuen Netflix-Dokumentation, die NUR aus Originalaufnahmen von Presse und Polizei besteht, wird die Katastrophe nachgezeichnet. Das Bild zeigt schlechte Polizeiarbeit und vor allem völlig entfesselte Journalisten im Sensationswahn.

Wer kein Netflix hat, kann sich das Gladbecker Geiseldrama auch auf Youtube in frei verfügbare Dokumentationen vom Spiegel oder dem ZDF zusammenfassen lassen.

Silke Bischoff – Why me?

Auch ich habe die Bilder der Geiselnahme verfolgt. Ich war damals 14 Jahre alt und war völlig durcheinander, dass Dinge, die sich für mich nur in Filmen abspielten, plötzlich in den Nachrichten waren. Nicht als Bericht, dass etwas bereits passiert ist, sondern als Live-Reportage, was jetzt gerade passiert. Das Geiseldrama von Gladbeck endete für mich mit der Berichterstattung über die Inhaftierung der Täter. Interessanterweise war ich damals schon begeisterter Newbie-Gothic, habe mich für Klamotten und Musik interessiert, hatte aber mit den „Idealen“ der Szene überhaupt noch keine Berührungspunkte. Mein Weltbild war nicht vorhanden und eher noch kindlich geprägt.

Dann erschien allerdings die Band Silke Bischoff auf einer Tanzfläche irgendwann 1993 und begeistere mit ihrem Song „On the Other Side (I’ll See You Again)“ eine ganze Szene. 3 Schritte vor, 3 Schritte zurück im Totengräbertanz. Ich weiß gar nicht mehr wo ich das Stück zum ersten mal hörte, aber ich war begeistert. Als mir dann jemand die Kassette vom Debütalbum der Band überspielte und ich mich beim Hören damit beschäftigte, fiel der Groschen. Silke Bischoff war nicht die Sängerin, sondern eines der Opfer der Gladbecker Geiseldramas. In der weiteren Recherche stieß ich auch auf ein Interview in der Zeitschrift „Glasnost“ vom Januar/Februar 1991, in der Felix Flaucher, der Sänger der Band, erklärt:

Es ist ja heutzutage so, dass man ständig im Radio oder im TV von 375 Toten bei einem Flugzeugabsturz und von 500 Toten beim Bürgerkrieg hört und so weiter. Das war aber eine Geschichte um ein Einzelschicksal, das hat mich betroffener gemacht, als das, womit man sonst überflutet wird.

Dieser Hintergrund der Band, gepaart mit den Texten aus ihren Songs „On The Other Side“, „Why me?“ oder auch der absoluten Perle „Small And Tired“ definieren für mich den Dark Wave der frühen 90er und waren absolut Identitätsstiftend für mein weiteres Szeneleben. Erst mit Silke Bischoff – und im Alter von 19 Jahren – entwickelte ich einen Sinn für das, was der Szene als Inhalt ausgelegt wird. Weil der Weltschmerz nicht greifbar ist, hilft mikroskopische Trauer um einen einzelnen Tod, der weder natürlich noch vorhersehbar war, die Welt zu deuten. Die Welt ist nicht kaputt, der Mensch ist eine Bestie, der nicht nur die Natur, sondern auch sich selbst zerstört.

Auch die späteren Alben der Band habe ich verschlungen und trauere noch immer um Felix Flaucher, der am 23. August 2017 im Alter von 59 Jahren verstorben ist. Für mich ein wichtiger Meilenstein der Szenezugehörigkeit.

Im Laufe der Jahre habe ich mich immer wieder mit dem Fall Silke Bischoff und dem Gladbecker Geiseldrama beschäftigt und bin auch dieses mal wieder entsetzt, wie sehr die Berichterstattung um das Geiseldrama einen Wendepunkt im Sensations-Journalismus markiert. Wie völlig entfesselt prominenteste Medien und Nachrichtengrößen mit dem Thema umgegangen sind und wie sie die Geiselnahme und möglicherweise auch das Schicksal der Geiseln aktiv beeinflusst haben. ZAPP hat die Berichterstattung objektiv analysiert.

Ich kann weder die 18-jährige, noch die gleichnamige Band vergessen, die „Silke Bischoff“ für mich zu einem Sinnbild des dünnen Fades zwischen Leben und Tod gemacht haben. Das finale Zitat überlasse ich einer Strophe aus dem Song „Why me?“ den Felix Flaucher direkt Silke Bischoff gewidmet hat.

It’s your last journey in this world
It’s dark and cold, you’ll never return
They take some pictures of the panic in your eyes
No time to sleep for the rest of your life.

Ich wäre neugierig, ob es solche Verknüpfungen zwischen Songs oder Ereignissen auch bei Euch gibt und ob die in Zusammenhang mit Eurem „Szenegefühl“ stehen. Nutzt die Kommentare!

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Kommentare

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Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 2 Jahre

Eine sehr schöne Idee für eine Sammlung von besonderem Liedgut.
Mit Silke Bischoff konnte ich zwar nie so wirklich viel anfangen, aber einzelne Songs mag ich auch sehr und sie sind wirklich eines DER Szene-Aushängeschilder der 90er gewesen.
An das Geiseldrama kann ich mich auch noch gut erinnern – wir beide sind ja gleichaltrig – aber ich hab damals noch nicht so viel Nachrichten gesehen, dass ich damals so deutlich mitbekommen hätte, dass es so immens medial ausgeschlachtet wurde.

Für mich hat der Song „Sinking“ von The Cure eine besondere Szene-Bedeutung.
Zwar kann ich jetzt kein Einzel-Ereignis aus meinem Leben nennen, wo der Text 1:1 dazu passen würde, aber die melancholische Grundstimmung, Musik und Text – vor allem die mit mächtig Hall unterlegte und sich zunehmend in Verzweiflung steigernde und am Ende überschlagende Stimme von Robert Smith – haben mich während einer Bahnfahrt im Herbst 1989 so geflasht, dass ich die Kassette im Walkman immer wieder zurück gespult und das Lied etliche Male hintereinander gehört habe… Im Herbst 1989, während der Ferien, die mit dieser Bahnfahrt begannen, bin ich dann auch äußerlich zum Grufti geworden.

I am slowing down
As the years go by
I am sinking
So I trick myself
Like everybody else
The secrets I hide
Twist me inside
They make me weaker
So I trick myself
Like everybody else
I crouch in fear and wait
I’ll never feel again…
If only I could remember
Anything at all

Weitere Bedeutungen haben für mich „The same deep Water as you“, ebenfalls von The Cure (herrlich zum wohlig-melancholischen Schwelgen im Dunkeln), „Into the Dawn“ von Another Tale (der perfekte Herbst-Song) und „Second Skin“ von The Chameleons – welches seit weit über 20 Jahren mein absolutes Lieblingslied ist, einfach der perfekte Gitarrenwave-Song, der mir immer noch Gänsehaut verursacht. Noch zwei letzte Titel: „Below the Sound“ und „More“ von Black Swan Lake, auch hier spüre ich immer wieder Gänsehaut. Mit derart melodisch-melancholischen Gitarrenklängen kann man mich einfach völlig verzaubern und wegdriften lassen…

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Tanzfledermaus
Graphiel
Graphiel(@michael)
Vor 2 Jahre

Bewusst daran erinnern kann ich mich an das Drama von Gladbeck natürlich nicht mehr. Alles was ich über dieses tragische Ereignis kenne stammt aus späteren Dokumentationen. Ich war zu dem Zeitpunkt des Dramas gerade mal 5 Jahre jung und noch nicht einmal in der Grundschule. Vom Leben als Schwarzkittel war ich mit Ausnahme einiger kindlicher Tagträume die sich ab und zu auch schon mal um Monster, Friedhöfe, und Vampire drehten noch relativ weit entfernt. Ich gebe es zu: Ich war so ein 80er Jahre „Kleiner Vampir“ – Fanboy. ich fand irgendwie Jim Gray als Lumpi toll und mochte den Titelsong. Wenn man so will, dann war dies quasi meine allererste entfernte Berührung mit dem „gruftigen Zeugs“. Aber dann hörte es halt wirklich auch schon wieder auf. Mit gruftiger Musik hatte ich es darüber hinaus damals noch nicht so. Wobei… wenn man augenzwinkernd die EAV mit „Liebe, Tod und Teufel“, sowie „Der Tod“ dazu zählen darf, dann doch schon irgendwie. Den Sinn hinter den Texten habe ich damals zwar sicherlich nicht verstanden, aber die leicht düstere melodien dieser Songs klang in meinen Ohren halt irgendwie schön. Schwarze Kleidung habe ich damals aber wirklich noch nicht getragen. Ehrenwort! :D

Die Band Silke Bischoff lernte ich auch nicht gleich zu ihrem Debut kennen, sondern erst einige Jahre später. „On the other side“ ist dabei aber auch mein Favorit geworden. Eine Zeit lang hätte ich mir den Song sogar für meine eigene Beerdigung gewünscht. „Why me?“ finde ich ebenfalls großartig. Ansonsten finde ich auch „I dont love you anymore“ großartig. Wenn es mir gerade dreckig geht und ich heulen möchte: Der treibt bei mir jeden Schmerz an die Oberrfläche. Insgesamt kann ich also durchaus nachvollziehen, warum diese Band so ein riesiges Aushängeschild in den 90er Szenejahre war. Felix Flaucher hat da schon großartiges geleistet.

Umso bedauerlicher, wenn auch irgendwie verständlich, dass die Familie der verstorbenen Silke Bischoff die Widmungen Flauschers angeblich ganz und gar nicht dankbar entgegen genommen haben soll.

das H.Gen
das H.Gen(@hagen)
Vor 2 Jahre

Ein absoluter Tiefpunkt in der deutschen Presselandschaft. Bis heute hat es Nachwirkungen darauf wie man die Presse wahrnimmt. Selbst nach der langen Zeit macht es mich immer noch wütend und fassungslos.

John Doe
John Doe(@arno-siess)
Antwort an  das H.Gen
Vor 2 Jahre

Da kann ich dir nur zustimmen.
Ich war damals 22, erinnere mich aber noch relativ gut daran. Mein Bild, das ich bis dahin von Journalisten hatte, war danach auch ein anderes.

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von John Doe
Rico
Rico (@guest_61255)
Vor 2 Jahre

Die letzten drei Akustik Versionen auf der CD Ausgabe der ersten Platte kriegen mich jedes mal. Völlig reduziert, nackt. Nur Gitarre und Gesang aufgenommen in der Küche.

Markus
Markus (@guest_61256)
Vor 2 Jahre

Ich kann mich noch recht gut an dieses schreckliche und tragische Drama damals erinnern – es starb ja nicht nur die Geisel Silke Bischoff, sondern zuvor der 15jährige Emanuele de Giorgi durch eine nicht anders zu benennende kaltblütige Hinrichtung durch die Geiselnehmer – und kam nie so recht mit der anschließenden Bigotterie zurecht, die zwar den Medien Sensationsgeilheit und Einschalt/- Auflagenquote sowie den beteiligten Polizeikräften totale Überforderung und Untätigkeit vorwarf. Während kurz darauf sich eine Gruftiband der zweiten Generation mit dem Namen einer Toten schmücken durfte und sich damit bei manchem Schwarzkittel gar Szene-Kultstatus erwarb…

Margarine Tyrell
Margarine Tyrell (@guest_61258)
Antwort an  Markus
Vor 2 Jahre

Danke für die Erwähnung von Emanuele de Giorgi! Ich verstehe bis heute nicht, warum der Fokus mitunter ausschließlich auf Silke Bischoff liegt, wenn es um das Gladbecker Geiseldrama und seine Opfer geht. Der Tod von Emanuele de Giorgi ist nicht minder grausam. Ein 15-Jähriger Junge, der seine kleine Schwester beschützen wollte. Die Schwester leidet bis heute stark unter den Folgen (Der Artikel ist zwar über zehn Jahre alt, aber die Folgen für seine Familie nicht weniger relevant). Einfach nur tragisch. Ist der Fokus auf Silke Bischoff so stark, weil sie bildschön war? Oder weil Emanuele de Giorgi das Kind einer Einwandererfamilie aus Italien war? Damals, Ende der 1980er, mag die allgemeine Wahrnehmung bezüglich Herkunft noch eine andere gewesen sein als es heute der Fall ist. Und trotzdem liegt der Fokus immer noch auf Silke Bischoff, mitunter sogar ausschließlich. Ich erinnere mich noch daran, wie ich 2018 den ARD-Zweiteiler über die Geiselnahme von Gladbeck sah, verwirrt über die Szenen von Emanueles Tod und wie wenig ich davon / von ihm vorher wusste.

Margarine Tyrell
Margarine Tyrell (@guest_61260)
Antwort an  Robert
Vor 2 Jahre

Meine Kritik war auch gar nicht gegen diesen Artikel / Dich gerichtet. Ich verstehe schon, worum es hier geht. Alles gut. :) Ich spreche eher allgemein. Klar gibt es da dieses ganze Material, wo ihr zum Beispiel die Waffe an den Kopf gehalten wird und sie auch spricht. Und trotzdem ist da eben auch dieses Kind gestorben, von dem es auch Videomaterial im Bus gibt (wenn auch nicht soviel Material im Vergleich zu Silke Bischoff). Und diesen doch sehr grossen Unterschied bezüglich des Fokuses in der allgemeinen (!) Berichterstattung, den verstehe ich eben nicht. Der Tod von Emanuele de Giorgi hätte eventuell ebenfalls verhindert werden können, hätte die Polizei nicht vergessen, einen Notarztwagen hinter dem Bus herfahren zu lassen. So lag er dann aber 20 Minuten lang verblutend am Boden. Einfach nur schrecklich.

Markus
Markus (@guest_61263)
Antwort an  Robert
Vor 2 Jahre

Lieber Robert, niemand wirft dir vor, daß du irgendetwas schmälern möchtest. Mir war es lediglich wichtig, daran zu erinnern, daß nicht nur eine Geisel damals im Zuge dieser Tragödie ums Leben kam.

Ohne dir eine böse, gedankenlose oder naive Absicht unterstellen zu wollen: Dein Artikel bezieht sich nicht einzig und ausschließlich auf die Band Silke Bischof, wie du Margarine Tyrell antwortest. Im Gegenteil: Die Überschrift, grafische Gestaltung und der erste Absatz des Artikels handeln vielmehr ausschließlich vom Geiseldrama selbst sowie der dazu wohl kürzlich auf Netflix erschienenen Dokumentation. Daran ist nichts falsch oder unkorrekt, nur darfst du dich nicht wundern, wenn in Folge auch Kommentare zum Geschehnis selbst und weniger zur Band eingehen.

Wie ich in einem sehr alten Kommentar bereits einmal geschrieben habe, verabschiedete ich mich ab den frühen 90ern bis schließlich 1992 aus der damaligen schwarzen Szene. Mein Rückzug begründete sich damals nicht zuletzt durch das Auftauchen vieler neuer, nicht zuletzt deutscher Szenebands, wie eben Silke Bischoff, die mir (Achtung, subjektive Meinung!) einfach zu plakativ und zu banal waren. Promoted and hyped by Zillo und Co.

Flauchers/ Kretschmanns Verwendung des realen Namens einer auf unfassbar bestialische Weise Getöteten als publikumswirksamen Bandnamen empfand ich schon damals als 20 jähriger – bei allem Verständnis für Wunsch und Sehnsucht nach Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit in weiten Teilen der damaligen Szene – einfach nur geschmacklos und vor allem den am Boden zerstörten Hinterbliebenen gegenüber beinahe brutal respektlos, gedankenlos, pietätlos. Was aber die Band nicht daran hinderte, mit einem solchen Konzept auf bundesdeutscher Ebene erfolgreich zu sein. Das wiederum eröffnete mir, wohin die schwarze Szene sich in den beginnenden 90ern zu orientieren schien: Weniger die leisen, kaum zu deutenden, teils surrealen und sehr vielschichtigen (Unter)töne des frühen Post-Punk, des Wave und Darkwave der 80er Jahre. Aus meiner (immernoch subjektiven) Rück-Sicht wurde durch folgende Generationen ab den 1990ern plötzlich alles zur Groteske verzerrt, ausgeschlachtet, möglichst theatralisch vermarktet. Je wilder, je plakativer, je provokanter desto besser (verkäuflich) und akzeptierter in der zweiten Generation Schwarzer, dieser Eindruck drängte sich mir damals auf. Sämtliche bis dato verschlossenen Kisten, Mythen, Mysterien wurden ausgegraben, geplündert und vermarktet. Irgendwelche jungen und neuen Gesichter fühlten sich ungeachtet von vorhandenem Talent plötzlich zur Kunst berufen, wollten Band und Star spielen; ich unterstelle mal, daß dabei wohl nicht zuletzt kommerzielle Hoffnungen und Aussicht auf Popularität in einer seit den 80ern bereits gut gewachsenen schwarzen Szene eine Rolle spielten. Und gerade die Band Silke Bischoff ist/ war neben anderen Bands in dieser Zeit für mich ein Paradebeispiel dafür. Tabubruch läßt die Kasse klingeln. Man erinnere sich nur an Stefan Ackermanns heiser gerauntes „Gottes Tod“ aus gleicher Periode, das sich bei genauem Hinhören wahlweise auch als so wunderbar skandalöses „Gott ist tot“ interpretieren läßt und so ein bißchen Flirt mit Blasphemie und Auflehnung gegen das gesellschaftliche Konstrukt von Religion macht Interpret und Fan doch gleich noch non-konformistischer und damit interessanter. Eitelkeit? Banales Kalkül?

Die von mir so bezeichnete Bigotterie bestand für mich darin, daß damals nach dem Geiseldrama und auch jetzt wieder, mehr als 30 Jahre später, Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung von der Tragödie des Geiseldramas suggeriert wird. Schon damals, während der Geiselnahme ging es jedoch niemals um eine angebliche Information der Öffentlichkeit, sondern nur um eines: Quote und Auflage. Erst drängelte sich die gesamte inländische Journaille um das Entführerfahrzeug und stieß allen an der Geiselnahme unmittelbar Beteiligten sensationsgeil das Mikrofon ins Gesicht. Als die Show schließlich vorüber war, zerrte die Boulevardpresse – die Bild! vorneweg – die unmittelbar als Schuldige am Verlauf der Geiselnahme erhobene Exekutive in medialen Hexenprozessen zur Forderung von Rechenschaft auf die Titelseite des Käseblatts. Während parallel dazu auf anderer Ebene eine junge Nachwuchsband mit dem Namen einer damals real und praktisch live vor laufenden Kameras auf unfassbare Weise Getöteten trendy, chic und ein medial gehypter „Szeneklassiker“ werden konnte. Die ungefragte Verwendung des Namens einer Toten scheint salonfähig zu werden, wenn man ihr nur den richtigen intellektuellen Anstrich verpaßt. Vielleicht gibt es ja demnächst ein Projekt, das mit dumpfen Voodootrommeln und Beschwörungsgemurmel von sich reden macht und sich „Carla“ oder „Ratte“ nennt? So generiert man Kult und Profit. Auf anderer Leute Kosten.

Und auch Netflix unterstelle ich, nicht wirklich an Story, Hintergrund oder später Aufklärung interessiert zu sein oder gar Aufarbeitung dieser noch immer schrecklichen, kaum fassbaren Tragödie anbieten zu wollen – die brauchen nach dem Flop mit den chic gestylten Heroin-Kindern vom Zoo einfach einen neuen, möglichst gut verkäuflichen Aufmacher zur eigenen Existenzberechtigung. Am besten einen aus der 80er/ 90er-Mottenkiste. Denn Zeitgenossen, die die Gladbeck-Tragödie vor über 30 Jahre fast hautnah in den Medien miterlebt haben, sind heute potentiell zahlungskräftige Abo-Klientel, die sich gegen Entgelt vielleicht noch einmal in schön-schauriger Nostalgie aus dem Fernsehsessel heraus gruseln will. Über etwas, das brutal real war, tatsächlich so geschehen ist und nicht den Zeichnern oder Programmierern etwa von Disney Pixar entsprungen – echtes Blut, echte Tote, echte Tragödie – mehr Thrill geht doch kaum. Und das nun auch noch in HD und Breitbildformat.

Also, nichts für ungut. Niemand will oder wollte dir auf den nicht vorhandenen Schlips treten, Meister. ;o)
Lieber Robert, niemand wirft dir vor, daß du irgendetwas schmälern möchtest. Mir war es lediglich wichtig, daran zu erinnern, daß nicht nur eine Geisel damals im Zuge dieser Tragödie ums Leben kam.

Ohne dir eine böse, gedankenlose oder naive Absicht unterstellen zu wollen: Dein Artikel bezieht sich nicht einzig und ausschließlich auf die Band Silke Bischof, wie du Margarine Tyrell antwortest. Im Gegenteil: Die Überschrift, grafische Gestaltung und der erste Absatz des Artikels handeln vielmehr ausschließlich vom Geiseldrama selbst sowie der dazu wohl kürzlich auf Netflix erschienenen Dokumentation. Daran ist nichts falsch oder unkorrekt, nur darfst du dich nicht wundern, wenn in Folge auch Kommentare zum Geschehnis selbst und weniger zur Band eingehen.

Wie ich in einem sehr alten Kommentar bereits einmal geschrieben habe, verabschiedete ich mich ab den frühen 90ern bis schließlich 1992 aus der damaligen schwarzen Szene. Mein Rückzug begründete sich damals nicht zuletzt durch das Auftauchen vieler neuer, nicht zuletzt deutscher Szenebands, wie eben Silke Bischoff, die mir (Achtung, subjektive Meinung!) einfach zu plakativ und zu banal waren. Promoted and hyped by Zillo und Co.

Flauchers/ Kretschmanns Verwendung des realen Namens einer auf unfassbar bestialische Weise Getöteten als publikumswirksamen Bandnamen empfand ich schon damals als 20 jähriger – bei allem Verständnis für Wunsch und Sehnsucht nach Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit in weiten Teilen der damaligen Szene – einfach nur geschmacklos und vor allem den am Boden zerstörten Hinterbliebenen gegenüber beinahe brutal respektlos, gedankenlos, pietätlos. Was aber die Band nicht daran hinderte, mit einem solchen Konzept auf bundesdeutscher Ebene erfolgreich zu sein. Das wiederum eröffnete mir, wohin die schwarze Szene sich in den beginnenden 90ern zu orientieren schien: Weniger die leisen, kaum zu deutenden, teils surrealen und sehr vielschichtigen (Unter)töne des frühen Post-Punk, des Wave und Darkwave der 80er Jahre. Aus meiner (immernoch subjektiven) Rück-Sicht wurde durch folgende Generationen ab den 1990ern plötzlich alles zur Groteske verzerrt, ausgeschlachtet, möglichst theatralisch vermarktet. Je wilder, je plakativer, je provokanter desto besser (verkäuflich) und akzeptierter in der zweiten Generation Schwarzer, dieser Eindruck drängte sich mir damals auf. Sämtliche bis dato verschlossenen Kisten, Mythen, Mysterien wurden ausgegraben, geplündert und vermarktet. Irgendwelche jungen und neuen Gesichter fühlten sich ungeachtet von vorhandenem Talent plötzlich zur Kunst berufen, wollten Band und Star spielen; ich unterstelle mal, daß dabei wohl nicht zuletzt kommerzielle Hoffnungen und Aussicht auf Popularität in einer seit den 80ern bereits gut gewachsenen schwarzen Szene eine Rolle spielten. Und gerade die Band Silke Bischoff ist/ war neben anderen Bands in dieser Zeit für mich ein Paradebeispiel dafür. Tabubruch läßt die Kasse klingeln. Man erinnere sich nur an Stefan Ackermanns heiser gerauntes „Gottes Tod“ aus gleicher Periode, das sich bei genauem Hinhören wahlweise auch als so wunderbar skandalöses „Gott ist tot“ interpretieren läßt und so ein bißchen Flirt mit Blasphemie und Auflehnung gegen das gesellschaftliche Konstrukt von Religion macht Interpret und Fan doch gleich noch non-konformistischer und damit interessanter. Eitelkeit? Banales Kalkül?

Die von mir so bezeichnete Bigotterie bestand für mich darin, daß damals nach dem Geiseldrama und auch jetzt wieder, mehr als 30 Jahre später, Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit und von der Tragödie des Geiseldramas suggeriert wird. Schon damals, während der Geiselnahme ging es jedoch niemals um die vorgegebene Information der Öffentlichkeit, sondern nur um eines: Quote und Auflage. Erst drängelte sich die gesamte inländische Journaille um das Entführerfahrzeug und stieß allen an der Geiselnahme unmittelbar Beteiligten sensationsgeil das Mikrofon ins Gesicht. Als die Show schließlich vorüber war, zerrte die Boulevardpresse – die Bild! vorneweg – die unmittelbar als Schuldige am Verlauf der Geiselnahme erkorene Exekutive in medialen Hexenprozessen zur Forderung von Rechenschaft auf die Titelseite des Käseblatts. Und machte damit mächtig Scheinchen. Während parallel dazu auf anderer Ebene eine junge Nachwuchsband mit dem Namen einer damals real und praktisch live vor laufenden Kameras auf unfassbare Weise Getöteten trendy, chic und ein medial gehypter „Szeneklassiker“ werden konnte. Die ungefragte Verwendung des Namens einer Toten scheint salonfähig zu werden, wenn man ihr nur den richtigen intellektuellen Anstrich verpaßt. Vielleicht gibt es ja demnächst ein Projekt, das mit dumpfen Voodootrommeln und Beschwörungsgemurmel von sich reden macht und sich „Carla“ oder „Ratte“ nennt? So generiert man Kult und Profit. Auf anderer Leute Kosten.

Und auch Netflix unterstelle ich, nicht wirklich an Story, Hintergrund oder später Aufklärung interessiert zu sein oder gar Aufarbeitung dieser noch immer schrecklichen, kaum fassbaren Tragödie anbieten zu wollen – die brauchen nach dem Flop mit den chic gestylten Heroin-Kindern vom Zoo einfach einen neuen, möglichst gut verkäuflichen Aufmacher zur eigenen Existenzberechtigung. Am besten einen aus der 80er/ 90er-Mottenkiste. Denn Zeitgenossen, die die Gladbeck-Tragödie vor über 30 Jahre fast hautnah in den Medien miterlebt haben, sind heute potentiell zahlungskräftige Abo-Klientel, die sich gegen Entgelt vielleicht noch einmal in schön-schauriger Nostalgie aus dem Fernsehsessel heraus gruseln will. Über etwas, das brutal real war, tatsächlich so geschehen ist und nicht den Zeichen- oder Programmierarbeitsplätzen etwa von Disney Pixar entsprungen – mehr Thrill geht doch kaum. Und das nun auch noch in HD.

Also, nichts für ungut. Niemand will oder wollte dir auf den nicht vorhandenen Schlips treten, Meister. ;o)

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Markus
Durante
Durante(@durante)
Vor 2 Jahre

Vielen Dank für den Hinweis auf diese Doku Robert, als damals 4-jähriger habe ich das natürlich nicht live mitbekommen und sollte mir die Doku wsl. ansehen (auch wenn ich dabei dann vermutlich furchtbar wütend werde)…
Ironischerweise war die Reihenfolge bei mir folgende:
Irgendwann 2008/2009(?) zufällig auf Youtube über „On the side“ gestolpert, sofort in den Song verliebt (bin ich bis heute, leider nie live oder auf einer Tanzfläche erlebt, auch letzteres wird ja leider wsl. nicht mehr passieren)
-> Recherchiert warum diese Band so einen ungewöhnlichen Namen hat(te) (der spätere Name „18 Summers“ sagte mir dann schon was)
-> Dann diverse Artikel über das „Geiseldrama von Gladbeck“ gelesen und die Zusammenhänge begriffen… :(

Durante
Durante(@durante)
Antwort an  Robert
Vor 2 Jahre

Danke für die (Grab)Blumen… :)
Und du hast recht, wenn man das Ganze gedanklich in die Gegenwart versetzt wird es noch grusliger (ich empfinde die „Smartphone-Filmer“ bei irgendwelchen Unglücken usw. irgendwie als noch schlimmer als die Schaulustigen von früher, bei letzteren war es damals eine perverse Art von Neugier, ersteren geht es aber ja letztlich um Aufmerksamkeit, um Klicks, um ihre bescheuerten „5 Minuten Ruhm“ im Netz… :(

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