Musik auf Knochen – Röntgenschallplatten gegen Zensur

»Ich habe meinen Tod gesehen!«, meinte Anna Bertha Röntgen am 22. Dezember 1895 nachdem ihr Mann Wilhelm Conrad Röntgen an der Universität Würzburg eine der ersten Röntgenaufnahmen von ihrer Hand gemacht hatte. Damals haben die beiden sicher nicht damit gerechnet, welche vielschichtige Bedeutung Röntgenbilder nicht nur für die Medizin, sondern auch bei der Umgehung von Musikzensur in der Sowjetunion im Kalten Krieg haben würde.

”Hand mit Ringen”. Druck eines der ersten Röntgenaufnahmen von Wilhelm Röntgen (1845–1923) der linken Hand seiner Frau Anna Bertha. Gemeinfreies Bild.
”Hand mit Ringen”. Druck eines der ersten Röntgenaufnahmen von Wilhelm Röntgen (1845–1923) der linken Hand seiner Frau Anna Bertha. Gemeinfreies Bild.

Als der britische Musiker Stephen Coates 2012 ein Konzert in St. Petersburg spielte und danach einen Flohmarkt besuchte, entdeckte er einen seltsamen Gegenstand, bei dem er sich nicht sicher war, was es sein soll: Eine Schallplatte oder ein Röntgenbild? Es stellte sich heraus, dass es beides war – ein Röntgenbild, auf dem sich Musik befindet.

Darauf folgte die Gründung des X-Ray Audio Projektes, welches seither das Phänomen der Aufnahme von Musik auf Röntgenbildern erforscht.

Musik bzw. Audiospuren lassen sich in viele Arten von Plastik eingravieren und sicherlich haben einige Schellack, Vinyl oder Flexi Discs zuhause. Als Material eignen sich aber eben auch Röntgenbilder, wenngleich die Qualität der Aufnahmen doch oft eher schlecht ist und bei 78 rpm nur einseitig Platz für einen Song ist. Dennoch ist es total spannend, dass Röntgenaufnahmen, die meist Zeugnisse von Schmerzen, Tragödien, Unfällen oder Krankheiten sind, sich hier mit Musik, also mit Genuss und Leidenschaft, überlagern.

Bone Music – Erste Berührungspunkte mit „Musik auf Knochen“

Das hat auch mich direkt komplett begeistert, als ich zum ersten Mal vom sogenannten “Roentgenizdat”, der “Musik auf Knochen”, oder den “Ribs” gehört habe.

Bilder: X-Ray Audio Project, www.x-rayaudio.com.

Es ist wohl vor allem aus der Not entstanden, denn es gab nicht die Möglichkeit einfach so an Materialien zu kommen, um Schallplatten herzustellen. Ein bisschen Zufall war aber wohl auch dabei, denn zur selben Zeit wurden in vielen Ländern Röntgenreihenuntersuchungen (RRU) durchgeführt. Eine systematische Untersuchung der Bevölkerung mit Röntgengeräten zur Früherkennung von Lungentuberkulose und anderen Krankheiten des Brustkorbes. Und dabei fielen eben richtig viele Röntgenaufnahmen von Rümpfen an (daher auch die sogenannten “Ribs”).

Die Krankenhäuser wollten die Aufnahmen aber gar nicht behalten, weil sie entflammbar sind und eine Gefahr darstellen. Sie waren angehalten, die Röntgenbilder nach einem Jahr aus den Archiven zu entsorgen. Die große Verfügbarkeit von Röntgenbildern machten sich Musikliebhaber und Audiobastler im Untergrund zu nutze und dealten regelmäßig mit dem Krankenhauspersonal, um gegen eine Flasche Wodka an Röntgenbilder zu kommen, die sie für ihre obskure Produktion von Musiktonträgern brauchten.

Heute ist das anders: entweder liegen die Röntgenaufnahmen nur digital vor, oder sie dürfen aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht weitergegeben werden und müssen ordnungsgemäß entsorgt werden. Über ein Kleinanzeigen-Portal habe ich aber trotzdem anonymisierte Röntgenaufnahmen einiger Schädel und eines Rumpfes bekommen können und es ist ein unglaubliches Gefühl die Abbilder der Knochen dieser mir fremden Menschen zu besitzen. Wie sich wohl die Bootlegger von damals mit den Aufnahmen gefühlt haben, als sie Musik auf die Knochenbilder geritzt haben?

Bilder: gallowdancer. Privataufnahmen.

Das Gefühl und die besondere Ästhetik waren aber wohl nur zweitrangig, denn den “Bone Cutters” ging es vor allem um Zugang zu verbotener Musik, also westliche Musik wie Jazz oder Rock’n’Roll, aber vor allem eben auch die eigene russische Musik, die ideologisch nicht ins System gepasst hat. Wie zum Beispiel die Musik der Roma oder die der im Exil lebenden Russinnen und Russen, die aus der eigenen Kultur verbannt worden waren. Damals musste man wirklich einiges riskieren, um überhaupt an nicht-kontrollierte Musik außerhalb der staatlichen Plattenfirma Melodija zu kommen.

Da heute so gut wie jede Art von Musik über das Internet gestreamt werden kann, ist es eher weniger denkbar, dass erneut ganze Genres einer solchen Verbannung unterzogen werden könnten, aber auch heute erfahren Künstler*innen, die nach echter Freiheit und Selbstbestimmung streben, wieder Zensur. Robert berichtete dazu vor einiger Zeit zum Beispiel von der Band IC3PEAK aus Russland und bei Arte wirft die 100. Sendung des wirklich großartigen Formats “Tracks East” einen Blick auf Musik zwischen den Fronten.

Eine große Gruppe derer, die zu Sowjetzeiten Bone Music gekauft haben, waren die Stilyagi. Die “Stiljäger” waren eine Gegenkultur in der Sowjetunion, die gegen Anfang des Kalten Krieges aufkam und die man wohl auch als frühe “Hipster” bezeichnen könnte – auffällig und westlich im Kleidungsstil, aber nicht wirklich politisch. Den Namen bekamen sie durch einen Artikel im “Satire”-Magazin Krokodil (ein Sprachrohr der Sowjetideologie), der wohl ähnlich abfällig intendiert war, wie man im Westen zum Beispiel über Gruftis sprach. Valery Todorovsky brachte 2008 einen Musical-Film über die Stilyagis heraus.

Die Röntgenbild-Bootlegger waren hingegen wohl eher unauffällig gekleidet, auch um nicht erwischt zu werden, und hielten auch nicht unbedingt viel von den Stilyagis, die sie oft eher oberflächlich und unintelligent wahrgenommen hatten. Ab 1958 war der Handel mit Röntgenbild-Musik offiziell illegal. Vorher wurden Strafen wegen anti-sozialistischen Verhaltens, Kosmopolitismus oder dem Bewerben von westlichen Werten verhängt.
In den Interviews, die Stephen Coates mit den Bootleggers geführt hat, die teilweise mehrjährige Haftstrafen wegen der Musik auf den Röntgenbildern absitzen mussten, wird aber auch deutlich, dass die Bootlegger nicht hauptsächlich systemkritisch motiviert waren. Sie hatten einfach nur eine große Liebe für Musik und fanden, dass jede und jeder Zugang dazu haben sollte. Das Risiko, dafür verhaftet zu werden, war es ihnen wert.

Buch: Bone Music. Bild: X-Ray Audio Project, www.x-rayaudio.com.

Die Hauptakteure der X-Ray Vinyl Untergrundbewegung in der Sowjetunion und alles, was Stephen Coates seit 2012 darüber herausgefunden hat, stellt er in seinem Buch Bone Music vor, das kurz nach dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine Anfang 2022 in den Druck gegangen ist und an Aktualität nicht verloren hat. Große Leseempfehlung!
In dieser aktualisierten Version des Buches geht Coates auch auf neuere Erkenntnisse ein, die die Ursprünge der Idee zu X-Ray Records in Budapest vermuten. Im nicht-kommunistischen Ungarn der 1930er Jahre waren es Sophie Török (geboren Ilona Tanner) und István Makai, die zum ersten Mal die Techniken beschrieben hatten.

Eindrucksvoll erzählt gibt es das Roentgenizdat auch in einer 25-minütigen Film Dokumentation aus dem Jahr 2016, die Stephen Coates und Paul Heartfield nun seit März 2025 online zur Verfügung stellen: “Roentgenizdat – The Strange Story of Soviet Music on the Bone”.
Unter anderem kommen dort einige Bootleggers der Sowjetunion von damals zu Wort, wie auch Stephen Coates selbst und der Sänger Marc Almond:

Marc Almond (Soft Cell), der im Oktober 2004 bei einem Motorradunfall lebensgefährlich verletzt wurde und sich von seinen Verletzungen lange erholen musste, hat im Jahr 2016 die Röntgenaufnahme seines damaligen Unfalls live vor Publikum mit seiner Version des Songs “Druzhba” (Friendship) von Vadim Kozin gravieren lassen.
Vadim Kozin (1903-1994) war ein beliebter russischer Tenor und Komponist, der 1944 wegen Homosexualität ins Gulag geschickt worden war. Marc Almond widmete ihm auch das Album “Orpheus in Exile”, damit Kosin nicht in Vergessenheit gerät und seine Geschichte im Western überhaupt Sichtbarkeit bekommt.

Bone Music – Interview mit Stephen Coates vom X-Ray Audio Projekt

Musik auf Röntgenbildern zum Angucken und Anhören präsentierte Stephen Coates bereits in London, Moskau, Tel Aviv, Tokyo, und 2021 zuletzt auch in Berlin.
Ich selbst habe die BONE MUSIC Ausstellung leider bisher nicht gesehen und habe mich daher mal an Stephen Coates gewendet und ihn unter anderem gefragt, ob es die Ausstellung wieder zu sehen geben wird:

Bone Music - Stephen Coates
Stephen Coates

Was sind deine Pläne für das X-Ray Audio Projekt? Hat sich die Geschichte zu Ende erzählt oder bist du an neuer Forschung dran?

Ich denke, der Großteil der Geschichte wurde in den letzten acht, neun Jahren erzählt. Ich glaube, ich habe die wichtigsten Themen dazu ausgegraben, aber es gibt immer noch mehr zu lernen, und es melden sich auch immer mal wieder Leute bei mir, und ich erfahre mehr. Es geht also weiter, aber ich denke, der Großteil ist jetzt abgeschlossen. Ich bin dabei, parallele Geschichten und Themen zu untersuchen und hoffe, in ein paar Jahren in einem neuen Buch mehr darüber schreiben zu können.

Wird es neue Ausstellungen geben? Hast du schon darüber nachgedacht, die Ausstellung nach Leipzig zu bringen? Ich bin mir sicher, dass Gruftis, die sich zum jährlichen Wave Gotik Treffen versammeln, Bone Music lieben würden!

Ich hoffe es. Wir mussten, wie alle anderen, während COVID die Ausstellungen stoppen. Und dann kam natürlich der Krieg. Und obwohl diese Geschichte keine Geschichte zugunsten Russlands ist, ganz im Gegenteil sogar würde ich sagen, hatten viele Museen und Aussteller Angst davor, Ausstellungen zu zeigen, die mit Russland zu tun hatten. Verrückt! Es ist zudem auch nicht nur eine russische Geschichte, es ist eine ungarische Geschichte, es ist eine baltische Geschichte, und auch eine Geschichte über die Ukraine. Aber so ist es nun einmal. Deshalb würde ich die Ausstellung sehr gerne wieder zeigen. Und wir würden sie gerne nach Leipzig bringen. Wir haben sie vor ein paar Jahren nach Berlin gebracht, aber Leipzig ist natürlich das Zentrum der Coolness. Also würde ich sie gerne zurückbringen. Ja!

Dein Buch erschien unmittelbar nach Putins Krieg gegen die Ukraine. Hat sich deine Arbeit oder deine Forschung drei Jahre nach Kriegsbeginn verändert?

Nun, dieses Projekt handelt von Menschen, die gegen das Establishment und autoritäre Herrschaft waren. Es waren Individuen, und natürlich, ganz wichtig, einige von ihnen waren Ukrainer. Es war keine Geschichte, die sich auf ein einzelnes Land beschränkte. Als Putin in die Ukraine einmarschierte, war es natürlich ein seltsamer Zeitpunkt, ein Buch über die vorwiegend sowjetische Kultur zu veröffentlichen. Aber ich hatte das Gefühl, dass seine Handlungen und die Ereignisse seitdem nichts mit dem Thema des Buches zu tun haben. Aber klar, was wir heute in Russland erleben, ist leider Zensur. Und dies ist eine Geschichte über kulturelle Zensur. Und Musiker*innen werden in Russland wieder zensiert, wenn sie nicht mit Putin übereinstimmen. In gewisser Weise ist diese Geschichte also noch immer sehr aktuell.

Wie war es 2017 in Moskau auszustellen? Glaubst du, dass es heute möglich wäre, dort wieder auszustellen?

Es war einfach fantastisch! Es war einfach fantastisch, dabei zu sein! Wir hatten zwei große Ausstellungen in Russland, und natürlich war diese Geschichte damals für die meisten Russ*innen unbekannt. Nur alte, sehr alte Leute kannten sie. Viele der Besucher*innen der Ausstellung, insbesondere junge Leute, wussten also nichts davon. Es war großartig. Ich liebe die russischen Menschen und hoffe, dass wir eines Tages wieder dorthin zurückkehren können. Aber im Moment sieht es nicht sehr vielversprechend aus.

Siehst du in Russland oder anderen Staaten heute neue Formen des kreativen Widerstands gegen die Zensur von Musik? Zum Beispiel die Nutzung von VPN-Tunneln, um Chinas Große Firewall zu umgehen?

Ja, das ist ein sehr interessantes Thema, nicht wahr? Natürlich ist das mit dem Internet, der kulturellen Zensur, die insbesondere in den 40er, 50er und 60er Jahren herrschte, nicht wirklich möglich. Musik kann zwar nicht zensiert werden, Künstler*innen hingegen schon. So kann die Musik selbst über das Internet verbreitet werden. Es ist sehr schwierig, das zu verhindern, wie du sagst, zum Beispiel mit einem VPN-Tunnel. Musiker*innen hingegen können zensiert und unterdrückt werden. Und das nicht nur in Russland oder sogar in China, sondern leider auch an vielen anderen Orten der Welt.

Vielen Dank für deine außerordentliche Arbeit an diesem Thema, Stephen!

Danke, Florian!

Das Interview mit Stephen Coates habe ich am 05.05.2025 geführt und aus dem Englischen übersetzt.

Ab Mitte der 1960er Jahre haben dann nach und nach Tapes die Vinyls abgelöst (weitaus einfacher aufzunehmen und von deutlich höherer Qualität). Aus dem Röntgenbilduntergrund (Roentgenizdat) wurde der Magnetbanduntergrund (Magnetizdat), sodass es heute kaum noch Musik auf Röntgenbildern gibt. Es gibt keine großen Sammlungen, wie wir es von Vinyl-Enthusiasten kennen. Röntgenaufnahmen sind schließlich auch gar nicht für Langlebigkeit gemacht. Oft konnte die Musik nur wenige Male angehört werden, bevor die starken Nadeln der Grammophone die Aufnahmen beschädigten.

Stephen hat mich noch auf die Forschungsstelle Osteuropa aufmerksam gemacht, die in meiner Stadt Bremen ansässig ist. Und tatsächlich, hier gibt es die “Bones of Bremen” und ich werde mal sehen, dass ich mir dort demnächst einmal echte X-Ray Audios angucken kann. Oder ich habe irgendwann so ein Glück wie Stephen es 2012 hatte, und ich entdecke diese oder andere Kuriositäten aus der Vergangenheit auf einem Flohmarkt!

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Grufti aus Bremen.

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Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 1 Tag

Was es alles gibt! Davon hab ich noch nie zuvor gehört. Zum einen optisch natürlich sehr abgefahren, aber wenn man weiß, warum dieses Medieum verwendet wurde, bekommt es noch ein ganz anderes Geschmäckle. Sehr interessanter Artikel!

Maren
Maren(@milk)
Vor 1 Tag

Davon hatte ich auch noch nie etwas gehört: Musik auf den Bildern von Knochen anderer Menschen. Irgendwie öffnet mir der Artikel gerade noch einmal die Augen für die Faszination von Röntgenbildern an sich. Bisher empfand ich sie eher als unliebsamen Hinweis, was bei mir gerade kaputt ist. Und die Idee sie als Tonträger zu nutzen! Mein Respekt an die Menschen, die diese ungewöhnliche Idee hatten um sich staatlicher Zensur zu widersetzen. Danke für diesen interessanten Artikel!

Black Alice
Black Alice(@blackalice)
Vor 17 Stunden

Krass was für schräge Geschichten es so gibt. Musik auf Röntgenaufnahmen. Danke für die Story.

Ich habe übrigens auch noch so ein introvertiertes Portrait von mir. Lange Zeit habe ich mir überlegt das als Bild aufzuhängen…

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