Es erscheint doppelt absurd. Während auf manchen Friedhöfen die Toten der Pandemie begraben werden, feiert man auf anderen Friedhöfen während der Pandemie das Leben. Menschen entdecken während der vielen Lockdowns in der Vergangenheit den Gottesacker als Veranstaltungsort für ihre Freizeitaktivitäten. „Yoga auf Gräbern, aggressive Radfahrer, FKK-Sonnenbaden auf Friedhofswiesen: Immer häufiger würden während der Corona-Pandemie die Regeln auf Friedhöfen missachtet…“ Ist das ein Auswuchs gesellschaftlicher Verrohung oder Rückeroberung von Tabuzonen als Lebensraum?
In Berlin ist es schon 2020 zu einer Belebung der Friedhöfe gekommen, da öffentliche Einrichtungen im Lockdown geschlossen bleiben mussten. Tillmann Wagner, Geschäftsführer des Friedhofverbands, berichtet von Mutter-Kind-Partys, 150 Jahre alte Kapellentüren als Torersatz für Fußball spielende Kinder, Gymnastik auf Gräbern und Mountainbike-Fahrer, die den Friedhof als Parkour entdeckt haben. Mitarbeiter, die solche Menschen auf ihr Verhalten ansprachen, berichten von Pöbeleien und Aggressionen, auch gewalttätige Übergriffe soll es schon gegeben haben.
Neben diese Extremen sprechen allerdings auch viele von einer sehr angenehmen Öffnung der Friedhöfe als Kulturraum, so Stadtplaner Martin Venne gegenüber dem Deutschlandfunk: „Die Friedhöfe selber sind auf dem Weg, sich zu öffnen. Weil natürlich auch immer mehr Flächen frei werden. Und so öffnen sich auch Räume, in denen Freizeit und Erholungsnutzung wirklich stattfinden kann.“ Gruftis sehen sich schon seit Jahren in Konkurrenz mit „bunten“ Leuten, die den Friedhof als Rückszugsort nutzen. Lesen, spazieren, joggen oder auch picknicken, nicht erst seit 2020 nutzen immer Menschen die Einsamkeit uns Stille der weitläufigen Parkanlagen.
Im europäischen Ausland, wie beispielsweise in London, ist man da meiner Erfahrung nach schon einige Schritte weiter. Dort sind Friedhöfe längst im Leben der Stadt integriert und werden für allerlei Freizeitaktivitäten und kulturelle Veranstaltungen genutzt. Inklusive unerwünschter Randerscheinungen, wie Drogensucht, Vandalismus und Graffiti.
Friedhofssatzung bestimmt, was man auf einem Friedhof darf
Was auf einem Friedhof geht und nicht geht, regelt in Deutschland die jeweilige Friedhofssatzung, die höchst unterschiedlich ausfallen kann. Während an manchen Orten sportliche Aktivitäten, Picknicks oder Hundespaziergänge erlaubt sind, können sie gleich ein paar Straßen weiter streng verboten sein. Häufig spricht man in Satzungen und Regelwerken von der „Würde des Ortes“. Dabei sind viele Friedhöfe öffentliche Einrichtungen, die von jedem Bürger genutzt werden dürfen. Allein das dürfte wohl einige Regelungen zumindest fragwürdig erscheinen lassen.
Es bleibt also schwammig, was auf Friedhöfe erlaubt und was verboten werden sollte, wo die „Würde der Toten“ verletzt und wo der Friedhof als Freizeitort in das kulturelle Leben einer Stadt integriert ist. Tillmann Wagner sieht Versäumnisse in der Erziehung: „Das Problem ist: Eltern bringen ihren Kindern Friedhof nicht mehr bei. Mütter gehen mit Kindern über Friedhöfe und reißen Tulpenzwiebeln aus dem Boden und sagen, die pflanzen wir zuhause ein. Viele lernen nicht mehr, für was ein Friedhof eigentlich steht.“
Ja, aber wofür steht so ein Friedhof eigentlich? Totenruhe gehört für taz-autor Uli Hannemann sicher nicht dazu:
Die sogenannte Totenruhe ist ein weißer Schimmel, redundante Kackscheiße, reine Schikane. Aber gut, der Tod war auf seine drollige Art ja schon seit jeher so etwas wie der natürliche Gegenspieler des Lebens. Unter dem Gesichtspunkt war das verkniffene Theater immerhin fast konsequent.
Eine Sache der Erziehung?
Wir haben alle unterschiedliche Erziehungen genossen und haben ein sehr individuelles Bild, wofür ein Friedhof steht. Eine allgemeingültige Wahrheit kann es nicht geben. Für uns Gruftis war der Friedhof immer schon ein Ort der Inspiration und Ruhe, den wir liebend gerne dazu genutzt haben in der Vergangenheit zu baden, morbide Ästhetik zu genießen oder auch um möglichst ungestört zu picknicken. Das sorgte in der Vergangenheit noch für wilde Spekulationen von Grabschändungen und dunklen Ritualen, heute nur noch für ein müdes Lächeln. Wir mussten uns immer schon mit dem Rest der Friedhofsbesucher auf eine friedliche Koexistenz einigen.
Ein Rezept, was vielleicht auch heute noch anwendbar ist. Gegenseitiger Respekt. Nicht unbedingt gegenüber der Toten, sondern vielmehr gegenüber der Menschen, die einen Friedhof nutzen und den Gräbern, die sie als letzten Erinnerungsort eingerichtet haben. Es ist einfach höflich, nicht neben einer Gruppe trauernder Menschen, die gerade einen Angehörigen beerdigen, ausgelassen zu feiern. Es ist respektlos, an der Frau, die Blumen auf das Grab ihres verstorbenen Mannes legt, klingelnd vorbeizuradeln. Genauso wäre es schade, den Friedhof nicht als Lebensraum in die Freizeitaktivitäten einzubinden. Denn irgendwie fördert das doch auch einen natürlicheren Umgang mit dem Tod selbst, wenn Friedhöfe nicht mehr die gruseligen Orte der Toten sind, sondern Begegnungsstätten mit der Vergänglichkeit.
Wie seht ihr das? Verlieren wir unsere Rückzugsorte an die „Normalos“? Wann werden Friedhöfe entweiht? Welche Aktivitäten gehen für euch auf einem Friedhof gar nicht und welche findet ihr völlig okay?
Ich sehe es so: wenn jemand einen Friedhof aufsucht, um dort spazieren zu gehen, auf einer Bank eine Pause im Grünen oder ein paar Fotos von Statuen, Mausoleen etc zu machen, ist absolut nichts Verwerfliches dran, da wird niemand in seiner Pietät oder Trauer gestört, zmal es meist sehr alte Gräber sind und keine, wo frisch getrauert wird.
Was ich nicht okay finde ist, lautes Verhalten, Stören von Trauernden, Müll hinterlassen, auf Gräber treten, etwas entwenden.
Während Corona hab ich letztes Jahr selbst den Friedhof direkt vor meinem Haus dazu genutzt, um mir täglich eine Stunde flott die Beine zu vetreten, mit Musik im Ohr. Da war ich nicht die einzige, auch ein älterer Herr hat da seine Runden gedreht. Die Berliner Parks waren oft einfach zu überlaufen, voller Radfahrer und Jogger sowie Hunden und bei dieser Nutzung auch entsprechend vermüllt und zertrampelt. Da waren die Friedhöfe eine willkommene ruhige Abwechslung – bis auch diese massiv aufgesucht wurden. Es wurden langsam immer mehr Leute auf den Bänken, dann immer mehr Hinterlassenschaften jeder Art und auch leider zunehmend Drogenabhängige und Dealer, die ich auf dem Friedhof sah. Das hat mich massiv gestört und ich hatte dann auch irgendwann keine Freude mehr, mich dort aufzuhalten.
Auch auf einem anderen Friedhof, den ich mal wieder besuchen wollte, hat es mich gestört, dass er völlig überlaufen war. Da waren auch größere Gruppen, die offenbar so die begrenzten Kontaktmöglichkeiten umgehen wollten. Ich hab mich gefragt, wo kann man denn jetzt (vor allem als Grufti, aber auch als Normalo) in einer Stadt denn überhaupt noch hin, um mal seine Ruhe vor den Menschen zu haben und den Kopf frei zu bekommen, etwas Grün ohne Massenandrang zu erleben, wenn selbst die Friedhöfe keine Rückzugsorte mehr sind?
Und das, was jetzt da zunehmend passiert, dass sie auch noch völlig pietätlos genutzt werden und zu weiteren Müllhalden und lauten Spiel- und Partyplätzen verkommen, finde ich ganz furchtbar.
Der Friedhof, auf dem meine Mutter liegt, ist zum Glück so weit abgelegen, dass dort auch meist völlige ruhe herrscht. Wenn man ein Grab besucht, ist man in Gedanken, möchte sich auch mal der Trauer hingeben, ohne dass da ständig wer herumtobt/wuselt. Das muss für diejenigen schlimm sein, deren Verstorbene auf den nun stark frequentierten Friedhöfen liegen.
Sicher ist es nicht schlimm, wenn Friedhöfen das für viele Traurige, Ernste, bedrückende genommen wird, aber es sollte trotzdem auch genug Raum bleiben für diejenigen, die genau das darin sehen (wollen) und diese Orte daher gezielt aufsuchen, um das Innere zu spüren, ohne dass es von äußeren Einflüssen gestört wird.
https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/av12/video-berlin-friedhoefe-friedhofsruhe-partys-jogger-yoga.html