Video: Gruftis in Ungarn 1993

Am 27. Juni 1989 durchtrennte Gyula Horn, der damalige Außenminister von Ungarn, zusammen mit Alois Mock, seinem österreichischen Amtskollegen, in einem symbolischen Akt den Grenzzaun zwischen Ungarn und Österreich. DDR-Bürger, die im ebenfalls sozialistischen Ungarn Urlaub machten, hatten mit der Auflösung der Grenze die Möglichkeit, nach Westdeutschland zu gelangen. Tausende nutzen die Möglichkeit. Mit dem Fall des eisernen Vorhangs wird Ungarn ein Teil des westlichen Staatssystems, am 23. Oktober 1989 wurde die Republik ausgerufen. Das stellte Ungarn vor nie gekannte Probleme. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich immer weiter, es konnte nicht verhindert werden, dass ein großer Teil der ungarischen Gesellschaft infolge von Inflation und Firmenschließungen verarmte. Die ungarischen Jugendlichen fielen in ein nie dagewesenes Loch der Perspektivlosigkeit, dass sich in den Jugendkulturen dieser Zeit wiederfindet. Die ungarische Grufti-Szene besticht angeblich zu Beginn der 90er Jahre durch eine hohe Anzahl von Selbstmorden. Ein Reporter-Team macht sich zu dieser Zeit auf, ein kurzes Bild der ungarischen Jugend und insbesondere der Grufti-Szene zu zeichnen. Ein düsteres Bild, denn „ein echter Grufti“ – wie es in der Reportage heißt – „ist nur komplett mit Todeswunsch„.

ie Äußeren Umstände geben ihnen recht und während die Jugendlich in ihrer Discothek „Das Loch“ zu düsteren Klänge auf Nord-Süd-Kurs gehen, fruchten die Inhalte von Melancholie und Hoffnungslosigkeit auf einem ganz anderen Boden als beispielsweise in Deutschland. Während wir uns um unsere Existenz weniger Sorgen machten und anstatt dessen gegen Umweltzerstörung und Krieg rebellierten, ging es den Jugendlichen in Ungarn um ihr eigenes Dasein. Während wir gegen emotionale Kälte kämpfen, kämpfen die ungarischen Kids gegen eine reele Kälte. 2013 ist das Bild nicht wesentlich heller geworden. Die Wirtschaft hat sich zwar ein wenig erholt, doch das durchschnittliche Lohnniveau ist weit entfernt von dem, was wir gewohnt sind. So sind heute viele Jugendliche der Auffassung, das „anständige und ehrliche Arbeit“ nur zu einem bescheidenden Einkommen führt, mit dem man sich unmöglich einen „westlichen“ Lebensstandard aufbauen kann. Gothic ist zu einem weltweiten jugendkulturellen Phänomen geworden, doch die Beweggründe, schwarz zu tragen, sind unterschiedlicher denn je.

Dennoch bleibt Hoffnung, kämpft doch eine aktive Gothic-Szene in Ungarn weiterhin für ihren Platz in der Gesellschaft. Gellért Szelevényi, Betreiber der Internetseite Gothic.hu erzählt der Budapester Zeitung – einer deutschsprachigen Zeitung in Ungarn – : „Seit der Wen­de ist deutlich zu spüren, die Gesellschaft wird immer nachsichtiger und offener.“ Doch trotz dieser Offenheit und dem Fehlen der gedanklichen Verbindung zwischen Gothic und Satanismus sei das Umfeld bei weitem noch nicht so tolerant wie beispielsweise in Deutsch­land oder England.“ Die Ungarn sind skeptisch, aber offen, so heißt es in dem Artikel vom April 2012 weiter: „Schwarz ist keine Farbe – schwarz ist ein Lebensgefühl. Die selbst für das Budapester Stadtbild auffälligen, schwarz gewandeten Gestalten, die insbesondere am Wochenende in kleinen Gruppen zu sehen sind, zählen sich häufig selbst der Gothic-Szene zu. Zwar hat sich die Situation verbessert, aber immer noch begegnet man den Anhängern dieser Gruppe mit Skepsis.“ Immerhin. Keine Spur mehr von Selbstmord und Selbstverstümmelung, denn der Alltag ist traurig, aber nicht hoffnungslos.

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Death Disco
Death Disco (@guest_48052)
Vor 10 Jahre

Ich meine zwar, dass Sat 1 ein wenig nachgeholfen und dramatisiert haben (aus zwei Toten werden da ganz schnell vier), aber der Bericht erscheint durchaus realistisch. Und es war nicht nur in Ungarn so. In Deutschland redet man nur offenbar nicht so gern darüber oder bestreitet es heute sogar auf ähnliche Weise wie die Existenz des „drogenabhängigen Unterschichtsgruftis“. Aber wen wundert’s. Eine Szene voller Karnevalisten kann damit nichts anfangen.

Axel
Axel (@guest_48053)
Vor 10 Jahre

Also gerade Ungarn wird seit Monaten immer diktatorischer und Ressentiments nehmen dort in der Bevölkerung im Zuge der Wirtschaftskrise der letzten Jahre immer mehr zu. Gebessert hat sich dort nix, im Gegenteil.

Und ich kann Death Discos Beobachtungen Beobachtungen. Als ich 1997 in die Szene kam, da waren schon einige ziemlich depressive und kaputte Menschen unterwegs. Leute, wo ich wirklich nicht weiß, ob die heute noch leben – ie waren dann einach pber Nacht verschwunden manchmal. Von Karnevalisten waren uns in der Chemnitzer Ecke eher weniger zu sehen. Ich denke, dass da bei uns im Osten die Leute schon depressiver waren.

“drogenabhängigen Unterschichtsgruftis”

trad es da manchmal ziemlich gut.

Ian von Nierenstein
Ian von Nierenstein (@guest_48054)
Vor 10 Jahre

Och, Axel, diese kaputten Menschen gibt es in der Szene heutzutage ebenfalls. Ein gutes hat das ganze ja: Hier wird man wegen seiner Sorgen nicht bloß mit einem „Kopf hoch, deine Gedanken sind lapidar, Jungs weinen nicht“ abgespeist wie andernorts. Aber andersrum gefragt: Ist die „normale“ Gesellschaft nicht erst recht voller zerstörten Seelen, die von der Wirtschaft und der Gesellschaft klein gemacht und gemobbt werden und sich bloß nicht trauen, aus ihrer pseudo-fröhlichen Fassade auszubrechen? In der schwarzen Szene kann man wenigstens öffentlich zeigen, wie es einem geht, öffentlich wird man dann nur als Psycho, Heulsuse oder Emo beschimpft. Zumindest habe ich ich diese Erfahrung gemacht und ich muss sagen, ich weiß, wo ich mich zu Hause fühle. Zumindest nicht in der „normalen“ Gesellschaft. Da falle ich stets auf „nette“ Menschen herein, die einen nach einer gewissen Zeit doch nur ausweiden und benutzen. Mag sein, dass es in der Szene nicht anders ist, weil sie ja mittlerweile im absoluten Mainstream angekommen ist – aber hier habe ich die besten Freunde gefunden und das will ich nicht missen. Wie sagte mal jemand: „Ein Leben ohne schwarz ist möglich, aber sinnlos“.

Ian von Nierenstein
Ian von Nierenstein (@guest_48056)
Vor 10 Jahre
Oborotenj
Oborotenj (@guest_50916)
Vor 8 Jahre

Mich hat noch keiner Emo oder so genannt.
Aber ich denke, das liegt wohl an meiner eher kräftigen Erscheinung. Die denken wohl, wenn sie mich beleidigen, dann gibt’s was auf’s Maul…

Aber die blöden Normalos glotzen mich immer so komisch an. Mit einer Mischung aus Hass, Feindseeligkeit und beklopptheit.
Ich hab schon einen höflich gefragt, was glotzen sie so!?
Der hat was in seinen, nichtvorhandenen Bart gemurmelt und ist abgehauen.

Sagt mal, glotzen euch die Leute auch so blöd an, wie ’ne Kuh wenn’s donnert?!

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