Kommentar: Non-WGT 2021 etabliert Maskenverbot in Leipzig?

Am vergangenen Pfingstwochenende sollte das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig stattfinden, leider machte uns die Pandemie auch dieses Jahr einen Strich durch die Rechnung. Im Grunde genommen waren es auch diese blöden Regeln, Vorschriften, Notbremsen und Gesetze, die das Treffen unmöglich gemacht haben, nicht etwa das Virus. Oder? Immerhin habe es sich einige unerschrockene Anhänger und Fans der Szene nicht nehmen lassen, trotzdem nach Leipzig zu pilgern. Und so kehrte dann doch ein wenig „Normalität“ zu Pfingsten nach Leipzig zurück, wie die Leipziger Volkszeitung heute freudig berichtet.

Im Clara-Zetkin-Park versammelte man sich bereits am Freitag zum viktorianischen Picknick, um nach langer Zeit endlich wieder seine aufwendigen Kostüme zu präsentieren. Noch nicht in altbekannten Ausmaßen, aber es sollen immerhin 3 mal mehr Leute dagewesen sein, als im letzten Jahr. Auch in der Moritzbastei, am Südfriedhof und vor allem im heidnischen Dorf auf dem AGRA-Gelände sammelten sich die Menschen, um sich ein bisschen von der Freiheit zurückzuholen, auf die sie während der letzten Monate schmerzlich verzichten mussten. So jedenfalls der Tenor in den zahlreichen Kommentaren der sozialen Netzwerke.

Sowieso waren die sozialen Netzwerke voll von Bildern, die Leute in WGT-Stimmung zeigten, die jede kleinste musikalische oder künstlerische Darbietung gierig aufsaugten. Ich gönnte es ihnen allen, ja auch ein wenig Neid schlich sich ein. Ein wichtiges Detail fehlte doch in nahezu allen Aufnahmen. Die Mund-Nasen-Bedeckung, die gerne auch Maske genannt wird. Huch! Galt in Leipzig etwa Maskenverbot?

Tatsächlich hob die Stadt Leipzig die Maskenpflicht in der Innenstadt auf, doch der Wunsch des Bürgermeisters Jung nach Vernunft verpuffte im Rauch der zahlreichen Grills auf dem „Pest-Treffen“ im heidnischen Dorf. „Ich gehe davon aus, dass die Corona-Schutzverordnung eingehalten wird und sich Menschen, bei denen der Abstand von 1,50 Meter nicht eingehalten werden kann, dann die Maske tragen.“ Hat offensichtlich nicht geklappt.

Im Gegenteil, mir kam es so vor, als würde ein Maskenverbot herrschen, wie beispielsweise dieses Video, dass ich bei Facebook gefunden habe, suggeriert:

https://www.facebook.com/100001851187246/videos/5513616878709964/

Man mag an Karma glauben, wenn Lebanon Hanover im Hintergrund von „Catastrophe“ singt.

Möglicherweise wurde jede Regel der Corona-Verordnung befolgt, möglicherweise sind einige bereits geimpft oder genesen, möglicherweise hat auch jeder einen tagesaktuellen Corona-Test. Möglicherweise ist es aber auch allen einfach egal, oder man fand es möglicherweise auch doof, eine zu tragen, wenn alle anderen keine tragen. Immerhin gibt es wieder ein Gemeinschaftsgefühl. Irgendwie kommt es mir dennoch falsch vor.

Waren Gothics nicht Leute einer Szene, die für ihre Rücksicht, Mitgefühl und Höflichkeit bekannt waren? Mir kommt es bei diesen Bildern anders vor. Es fühlt sich an wie eine Miniaturrebellion gegen die Einschränkung der „Freiheitsrechte“ und wie die trotzige Entscheidung, jetzt lange genug gewartet zu haben. Man verstehe mich nicht falsch, mir reicht es auch. Ich will meine Freunde und Bekannten auch wieder treffen, bin sauer auf die Politik und auf Regeln und Verbote. Aber würde ich deswegen mich und andere in Gefahr bringen?

In den sozialen Netzwerken bilden sich die bekannten Muster. Die, die sich empören, wie gedankenlos die Leute seien und welche Regeln man verletzt hätte und die, die das Recht auf ihrer Seite wissen und sich genau an alles gehalten haben, was der Staat ihnen vorschreibt. Irgendwo dazwischen dann noch ein paar Leute, die die Hörigkeit gegen Politik verurteilen oder die sich vorher mit Tannennadelsaft selbst immunisiert haben.

Vom Virus und seinen Mutationen ist allerdings nie die Rede. Dass wir in Deutschland eine der weltweit niedrigsten Impfquoten haben, spielt auch keine Rolle. Auch nicht, dass auch bereits geimpfte das Virus weiterhin verbreiten können. Ich bin selbst kein Wissenschaftler, Arzt oder Virologe. Ich glaube aber denen, die es wissen sollten.

Für mich ist die Maske auch ein Symbol dafür, Rücksicht zu nehmen. Sie zeigt: „Hey! Wir können uns draußen endlich wieder mal treffen, passen aber auf, dass meinen Mitmenschen und mir nichts passiert, weil wir wissen, wie wichtig es ist, dass alle bei dabei mitmachen, eine weitere Verbreitung zu verhindern!

Eine Botschaft, die ich in einem Video aus Alameda (USA) gefunden habe. Die haben das so eine Art Mini-Festival anlässlich des jüngsten World Goth Days (22. Mai) veranstaltet. Vielleicht wäre es ratsamer gewesen, ähnlich wie Kalifornien, eine generelle Maskenpflicht zu erlassen.

Irgendwie schade, wenn man Menschen immer zwingen muss. Ich hätte es einfach schön gefunden, die feiernden Gruftis in Leipzig wären mit gutem Beispiel für ein höflichere und rücksichtsvollere Gesellschaft vorangegangen.

https://youtu.be/1UPlRLljVUY

Titelbild mit freundlicher Genehmigung von: KulturHallle

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Tanzfledermaus
Tanzfledermaus (@guest_60119)
Vor 3 Jahre

Du sprichst mir mal wieder aus der Seele, Robert! Ich hab mich auch gefragt, ob es wirklich sein muss, sich da trotzdem zu mehreren einzufinden. Natürlich bleibt man bei der Wiedersehensfreude oder angeregten Unterhaltungen schwer auf Abstand. Natürlich erhofft man sich ein wenig Gefühl von Normalität. Aber das kann so trügerisch sein. Und ein solches Treffen, bei dem ich im Hinterkopf immer wieder die Sorge habe, anderen zu nahe zu kommen und sich gegenseitig zu gefährden, ist für mich keine Option. Das ist unentspannt und krampfig.

Letzte Bearbeitung Vor 3 Jahre von Tanzfledermaus
Gabrielle
Gabrielle (@guest_60122)
Antwort an  Tanzfledermaus
Vor 3 Jahre

Ich kann als Beobachterin sagen, dass sowohl Leute die achtsam mit der Situation umgehen, als auch Leute, die eher unachtsam sind, dort waren und beide Gruppierungen unmaskiert waren. Da die Achtsamen auch unmaskiert waren, denke ich, dass sie davon ausgingen regelkonform zu sein. Woher könnte dieses Denken gerührt haben? Wir werden es nie erfahren.

Insgesamt lehne ich die pauschale Verurteilerei ab. Es gibt die unterschiedlichsten Thesen zu allen denkbaren Alltagssituationen. Ich maße mir nicht an zu beurteilen, wofür andere jahrelang studiert haben und forschen. Selbst die Politiker sind sich über das Vorgehen in der Pandemie uneins.

Und ja, es musste sein, dass man sich dort einfindet.

Gabrielle
Gabrielle (@guest_60128)
Antwort an  Robert
Vor 3 Jahre

„Gibt es nicht genug Rücksichtslosigkeit und Egoismus in der Welt?“

Ganz genau. Ich kann dir versichern, was ich Freitag und Samstag sah, war nicht annähernd das, was hier während des harten Lockdowns am Karl-Heine-Kanal los war. Oder was man momentan in der Außengastronomie zu sehen bekommt.
Anhand meiner Erlebnisse teile ich deine Bedenken nicht, unser Treffen könnte ein schlechtes Licht auf unsere Szene werfen.

Fledermama
Fledermama (@guest_60126)
Vor 3 Jahre

Eigentlich wollten wir am Montag auch zum Torhaus runter. Nachdem ich die Bilder gesehen habe, haben wir den Plan verworfen und einfach mit den Kindern alleine im Rosental gepicknickt.

Passte für mich leider dazu, dass die Veranstalter noch vor kurzem dieses unsägliche Video unter anderem mit dem Tatort-Typen geteilt haben, das ja aus Quarkdenker-Kreisen heraus kam und jede Menge Quergeschwurbel reproduziert hat… 

Das Picknick im Clara Zetkin Park war okayish. Nachdem einer der Organisatoren der Führungen, die dann abends wohl mehr oder weniger in die blaue Stunde übergingen, mir ohne Maske zu nahe kam und darüber „diskutieren“ wollte, dass die Impfung ja total gefährlich sei etc pp, waren für uns dann diese Veranstaltungen auch verbrannt…

Sehr gut fand ich einzig das Konzept der MoBa, die sich ja auch in der Vergangenheit schon gegen schwurbel und für Solidarität ausgesprochen hatte.

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus (@guest_60127)
Antwort an  Fledermama
Vor 3 Jahre

Leider ist auch der Ableger der „Blauen Stunde“ im Sommer in Berlin für mich jetzt gestorben, weil der Veranstalter (der macht auch immer Führungen davor, war vermutlich in Leipzig sogar derselbe Typ) im letzten Jahr wirklich hanebüchenen Querdenker-Quark von sich gegeben hat… Ein guter Freund von mir hat sich das mal angehört, um zu sehen, was da so die Runde macht an Theorien. Kaum zu glauben, was da für ein Käse behauptet wurde. Sowas gehört nicht in die Blaue Stunde, die sollte nicht mit Verschwörungstheorien und politischen Statements unterwandert werden.

Kerstin
Kerstin (@guest_60130)
Vor 3 Jahre

Ich habe lange überlegt ob ich was schreibe und vorallem was
Robert ,du spricht mir aus dem Herzen .Betroffen an allen Fronten
( Labor MTA, lebhaft auf Sylt,mit einem Risikopatienten zu Hause) sehe auch ich jeden Tag wieder wie rücksichtslos Menschen mit Menschen umgehen.,Das Verhalten der Menschen hier fast schon surreal.Will ich mal wieder runter von der Insel ..ja !Will ich auf Konzerte unter Menschen….Ja!!! Aber muss das auf Biegen nd Brechen sein…Neinllllll Leider ist es nach wie vor nicht möglich sich impfen zu lassen ,für alle die daran Interesse haben.
Und ja Robert..der Virus einschließlich seiner Mutationen scheint für niemanden mehr von Interesse zu sein .Ich gebe dir da vollkommen Recht .Als die Virologem sagten ,das wird zwei Jahre dauern ,wollte es keiner hören oder glauben.un sind 1,5 Jahre fast um
Ich habe von Anfang an nicht verstanden ,warum Menschen so vehement schlecht darin sind einfache Regel einzuhalten um Leben zu schützen. Leben wir wirklich in einer solchen Gesellschaft,wo jeder sich selbst der nächste ist? Wir trennen unseren Müll um die Umwelt zu schützen, sparen Energie,fahren E Autos ,gehen in Abfüll Läden,achten auf Bio ,aber schaffen es nicht Abstand zu halten und Masken zu tragen???? Sich die Hände zu waschen ??
Ich empfinde darüber einen Mischung von Scham ,Wut und Traurigkeit
PS Wenn ich auf eine Veranstaltung gehe ,in eine andere Stadt fahre ,oder anderes Land ,dann ist es an MIR mich über die Regeln zu informieren und nicht das zutun was alle tun und zu glauben das ist richtig!!!

Letzte Bearbeitung Vor 3 Jahre von Kerstin
Tanzfledermaus
Tanzfledermaus (@guest_60131)
Antwort an  Kerstin
Vor 3 Jahre

Hallo Kerstin, ich habe auch einige Jahre auf Sylt gelebt, ist aber schon länger her (1987-92). Ich bin auch schon in der Zeit dort „schwarz“ rumgelaufen, damals gab es aber kaum Gruftis dort. Bist Du von der Insel oder zugezogen? Ist ja witzig, dass hier noch jemand von dort bei Spontis unterwegs ist… Ich finde es gut, dass Du Deine Gedanken gepostet hast, ich stimme Dir da auch zu – viele Menschen sind leider viel zu selbstbezogen geworden und denken nicht weiter als bis zum eigenen Tellerrand…
Gruß von Caro

P.S. Hier hab ich bei Spontis von der damaligen Zeit berichtet:
https://www.spontis.de/schwarze-szene/dunkle-vergangenheit/gothic-berlin-teil-1-sylt-ist-doch-nur-eine-ferieninsel/

Letzte Bearbeitung Vor 3 Jahre von Tanzfledermaus
Creature
Creature(@creature)
Vor 3 Jahre

Ich möchte wie schon beim letzten Mal zu diesem Thema mit der Bemerkung einsteigen, dass ich die hier regelmäßig Schreibenden allesamt sehr schätze, woran auch meine radikal andere Haltung in dieser Frage nichts ändert. Mir ist das gerade in einer Zeit, in der es nur noch edle Weltretter oder unmoralische Ignoranten zu geben scheint, besonders wichtig. Ich möchte also inhaltlich vehement widersprechen, ohne hier jemandem persönlich an den Karren fahren zu wollen, falls so etwas noch möglich ist.

Zunächst: Dort, wo es darauf ankommt – also überall, wo man auf engem Raum auf Menschen trifft, die möglicherweise gerade nicht zu ihrem Privatvergnügen in der Öffentlichkeit sind – in der Tram, in Geschäften etc. – habe ich in Leipzig niemanden ohne Maske ausmachen können. Das halte ich übrigens tatsächlich auch unabhängig etwaiger gesetzlicher Regelungen für ein absolutes Gebot der Höflichkeit: Dort, wo ich unmittelbar Menschen gefährden könnte, die nicht wegkönnen, sollte ich zumutbare Schutzmaßnahmen in Kauf nehmen. Ich würde mich sogar freuen, wenn sich der Appell, mit Erkältungssymptomen zu Hause zu bleiben oder wenigstens Maske zu tragen, auch nach Corona zur Vermeidung unnötiger auch harmloser Atemwegsinfektionen erhalten würde.

Ich halte es hingegen für eine nicht hinnehmbare Zumutung, wenn die Gemeinschaft vom Einzelnen fordert, sich schon zur Vermeidung einer mittelbaren Gefährdung einzuschränken; mich also verpflichtet, schon das Risiko meiner eigenen Infektion und das anderer freiwillig Risikobereiter zu vermeiden, weil wir in der Folge potentiell gefährlicher für andere sein könnten. Wie gesagt: Wo wir unmittelbar auf Unbeteiligte treffen, muss unmittelbar Rücksicht genommen werden; aber prophylaktische Rücksicht geht zu weit, auch wenn der Verzicht darauf zu einem erhöhten Gesamtrisiko führt. Jemandem seine Lebensinhalte zu nehmen, nur um das eigene Überleben zu sichern, ist nicht weniger egoistisch als auf seinen Lebensinhalten zu beharren und damit potentiell andere Leute zu gefährden. Nur dass der negative Effekt von ersterem definitiv, der von letzterem nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintritt.

An den Veranstaltungsorten wurde nun niemand gezwungen, sich in unmittelbarer Nähe zu Unmaskierten aufzuhalten. Die Flächen waren stets groß genug, um für sich komfortable Sicherheitsabstände einzuhalten, wenn man das wollte. Zudem bieten FFP2-Masken bei korrekter Trageweise auch einen recht guten Eigenschutz, so dass man auf Fremdschutz nicht mehr in erheblichem Maße angewiesen ist. Bei den geschlosseneren Veranstaltungen war Testung oder Impfung zudem Zugangsvoraussetzung, so dass selbst diejenigen Veranstaltungsteilnehmer, die sich öffentlich glaubhaft gegen zu große Sorglosigkeit im Umgang mit dem Virus positionieren, sich offenkundig dort maskenlos wohlfühlten. Natürlich schafft nichts davon eine absolute Sicherheit; aber das Bedürfnis danach scheint mir auch eine der Verfehlungen dieser Krisenreaktion zu sein. Es gibt sie niemals, gab sie vorher nicht, und will man sie anstreben erreicht man nur die Abwesenheit alles Lebendigen.

Und damit zum Grundsätzlichen in Bezug auf die schwarze Szene, weil auch das im Beitrag angesprochen wurde: Der Kernwert der Szene war immer Toleranz und gerade nicht Rücksicht. Diese beiden Werte scheinen zwar immer hübsch im Zweiklang, aber sind tatsächlich Gegenspieler, wie sich gerade in der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre immer stärker zeigt. Rücksicht ist Konformismus, Toleranz ist Individualismus. Rücksicht forderten die Konservativen, die unbehelligt bleiben wollten von den ästhetischen Zumutungen der Schwarzen und von den für sie unbehaglichen Themen, die wir letzteren durch unseren Totenkopf-Mummenschanz in die Öffentlichkeit trugen. Toleranz war unsere Hoffnung auf eine Gesellschaft, in der man irgendwann auch mit Iro und Pentagrammkette am Sparkassenschalter Kunden würde bedienen können. Damit verbunden ist auch der Wert der Rebellion, der keineswegs nur trotzigen Teenagern vorbehalten bleiben sollte. Sicher, wir wollten dabei nicht so stillos sein, wie die Punks, aber deren Haltung, die Gesellschaft habe jetzt unser individuelles Sein hinzunehmen, auch wenn es sie störe – und nicht etwa, man habe sich einzufügen in diese Gesellschaft – hat sich bei aller Manierlichkeit des gemeinen Goten doch herübergerettet.

Kurz: Immer dort, wo die Gesellschaft ein gemeinschaftliches Ziel einfordert, dem sich alle Individuen zu unterwerfen haben, sollten dem individualistisch-toleranten Grufti die Alarmglocken schrillen. Sobald sich jemand einmischt in die individuellen Lebensentwürfe, ist das übergriffig.

Warum ist das jetzt für die Corona-Krise relevant? Weil eben nicht das Virus von selbst bestimmt, wie wir ganz selbstverständlich darauf zu reagieren haben. Die Natur mag uns Handlungsmöglichkeiten nehmen, aber sie kann uns niemals zu einer direkten Reaktion unmittelbar zwingen. Wie man auf das erhöhte Lebensrisiko durch ein zirkulierendes, gefährliches Virus reagiert, ist wesentlich abhängig von tieferliegenden Wertmaßstäben, die sich oft genug individuell unterscheiden. Deswegen ist der Hinweis auf das Individualismusverständnis der Szene wichtig. Dort, wo Werte gesellschaftlich erwartet wurden, die man individuell nicht teilte, wurde rebelliert. Und weil man dieses Recht für sich selbst in Anspruch nahm, gestand man immer auch anderen zu, radikal andere Lebensentwürfe für sich in Anspruch zu nehmen. Genau aus dieser Haltung heraus, erscheint der erzwungene Gesundheitsschutz zweiter Ordnung wie oben beschrieben übergriffig, negiert er doch notwendig alle Lebenshaltungen, die das bloße Am-Leben-Sein nicht schon als werthaltig empfinden.

Und damit sind wir bei einem zweiten Kernthema der Szene: Memento mori, ergo carpe diem. Wer sollte das besser wissen als wir? Der Tod kommt ohnehin und wir zelebrieren das Bewusstsein davon, indem wir uns mit Totensymbolik behängen, nicht nur als ob, sondern weil es kein Morgen gibt. Desto wichtiger sind die Inhalte, mit denen man sein Leben füllt. Ähnlich wie bei der Rebellion führt die typische Haltung von Schwarzen zum Hedonismus nur zu einem Naserümpfen gegenüber der Stillosigkeit, mit der dieser Wert gemeinhin gelebt wird; nicht aber zu einer Ablehnung des Hedonismus selbst. Man mag das bei all den Trauerkloß-Klischees auf den ersten Blick nicht vermuten, aber die schwarze Szene ist im großen und ganzen eine hedonistische Kultur. In schönster Dialektik ist das Trauerideal vielmehr eine indirekte Klage über den Mangel an Möglichkeiten, einen informierten, intelligenten, die Ambivalenz der Welt einschließenden Hedonismus leben zu können.

In diesem Sinne können gar nicht so viele Menschenleben durch Coronamaßnahmen gerettet werden – obwohl ich sicher bin, dass es sich um eine durchaus erhebliche Summe handelt – dass damit aufgewogen wäre, wieviel Lebensqualität dadurch gleichzeitig verloren gegangen ist.

Bedauerlich ist aber in der Tat, dass – wie hier in den Kommentaren beklagt wurde – eine maßnahmenkritische Haltung fast ausschließlich bei Menschen mit absurdem Verhältnis zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu finden ist. Auf die szeneinterne Auseinandersetzung auch der nächsten Jahre mit Menschen, die glauben, der Gedankenkontrollchip komme mit der Impfung und die ganze Krise sei nur Propaganda der jüdischen Weltverschwörung zur Unterjochung des gemeinen Volkes, blicke ich mit mäßigster Vorfreude.

Bleibt zu hoffen, dass wir bald alle geimpft sind und der Spuk dann auch wirklich ein Ende hat – über anderthalb Jahre eingehegte Freiheit kann gerade angesichts noch größerer Krisen, die auf uns warten, auch einen gefährlichen Gewöhnungseffekt hervorgerufen haben, und ich mag mir kaum ausmalen, welch Kollektivismus uns da noch erwarten mag.

(Disclaimer: Wir wollten eigentlich nicht zum Heidnischen-Dorf-Ersatz, sind explizit erst dann heruntergefahren, als Bilder von tanzenden Menschen die Runde machten und hatten damit einen wundervollen Abend. Wir schämen uns nicht. Ich hoffe, ich habe einigermaßen darlegen können, warum. Nochmals viel Wertschätzung an alle auch mit konträren Meinungen, und – nichtsdestotrotz – Gesundheit.)

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus (@guest_60138)
Antwort an  Robert
Vor 3 Jahre

Ich kann mich Robert nur anschließen. Auch mir ist es wichtiger, mich und mein Umfeld (nicht nur Familie, Freunde und Kollegen, sondern auch völlig Fremde) zu schützen und auch von jenen dieselbe Rücksicht zu erfahren.

Es geht hier ja nicht um eine Rebellion gegen (unsinnige/veraltete) Kleidervorschriften, deren Missachtung niemandem schaden kann, sondern um einen Schutz von Gesundheit und Leben. Es ist eigentlich traurig, dass dafür überhaupt Regeln erlassen und Verstöße geahndet werden müssen, weil vieles eigentlich selbstverständlich sein sollte.

Es ist furchtbar, Luftnot zu erleiden und es ist erst recht kein schöner Tod, zu ersticken (meine Mutter starb unter schwerer Luftnot). Und außer der Impfung und Abstandhalten haben wir noch keine wirksamen Mittel gegen das Virus. Selbst diejenigen, die nur leicht erkranken, können das Pech haben, noch Monate später nicht mehr die gleiche Kondition zu haben wie zuvor, und was Langzeitschäden betrifft, gibt es natürlich noch keine Studien (Corona kann sehr unterschiedliche Organe befallen). Allein das sind Gründe, Vorsicht walten zu lassen.

Kann man wirklich Party machen, Konzerte genießen und lustvoll in der Menge „baden“, wenn man nicht weiß, ob durch diese Aktivitäten nicht doch irgendjemand zu Schaden kommen kann? Und bitte jetzt nicht mit dem Vergleich kommen, dass Autofahren auch gefährlich ist. Im Gegensatz zu Freizeitvergnügen ist eine Fortbewegung immer noch notwendig und vieles an Risiken durch Achtsamkeit aller Verkehrsteilnehmer vermeidbar.

Aber genau daran hapert es vielen: das Umfeld im Blick haben, nicht nur die eigenen Bedürfnisse und Gewohnheiten. Es dürfte kaum jemanden geben, der nicht das Ende des Maskentragen, Abstandhaltens und Partyverbots herbei sehnt. Aber es kommt auch nicht schneller, indem man meint, es selbst zu entscheiden, wann man sich welchem Risiko aussetzt.
Es gibt immer Menschen, denen man im Anschluss begegnet und die dann ebenfalls betroffen sein können, wenn eine Infektion stattfand. Kann man mit dem Wissen leben, wenn man jemanden infiziert hat und diese Person dann Schäden oder gar den Tod davon trägt? Ist eine Party, ein sorgloses Treffen ohne Maske (sofern man nicht bereits voll geimpft ist) das Risiko wert?
Ich warte lieber ab bis alles soweit im Griff ist, dass ich wieder unbeschwert auf Veranstaltungen gehen kann. Bis dahin bin ich ja nicht kontaktlos, es gibt genug andere Aktivitäten, die ich nach wie vor ausüben kann, ich definiere mein Szenedasein auch nicht allein durch meine Präsenz auf Veranstaltungen.

Kleine Notiz am Rande:
Dass die Schwarze Szene es mit der Rücksicht nicht so genau nimmt, erlebte ich bei etlichen Veranstaltungen in Berlin innerhalb der letzten Jahre: fast keine „dunkle“ Party blieb rauchfrei, obwohl es seit über 10 Jahren verboten ist, auf öffentlichen Veranstaltungen in Innenräumen zu rauchen. Es interessiert einfach kaum jemanden, der Egoismus siegt, und Bitten um Rücksichtnahme werden ignoriert – oder man wird dafür sogar noch angepöbelt. Bei Konzerten stellen sich sehr häufig die größten und breitschultrigsten Kerle nach vorne, auch gerne vor deutlich kleinere Leute – egal, ob die dann noch was sehen können oder nicht. Da hilft es oft auch nicht, mal freundlich anzusprechen. Auf den Tanzflächen werden die Bereiche der bereits Tanzenden sehr oft im Laufe eines Songs von anderen „gekapert“ anstatt dass später Hinzukommende schauen, wo sie niemandem in die Quere kommen.

Ich halte die Szene keineswegs für rücksichtsvoll – nicht mehr und nicht weniger als den Rest der Gesellschaft.

Letzte Bearbeitung Vor 3 Jahre von Tanzfledermaus

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