Neulich brach in unserem Bundesland die fünfte Jahreszeit an. Karneval ist das Fest der Närrinnen und Narren, die sich bis zum Aschermittwoch immer wieder verkleiden und in andere Rollen schlüpfen. Krankenschwestern, Piraten, Elfen oder Zahnpastatuben. Auch Hessen möchte dem in nichts nachstehen, denn in der schönen Universitätsstadt Gießen hat der ortsansässige Anzeiger bereits einige Tage zuvor einen närrischen Artikel verfasst, der im Nachfolgenden „Büttenrede“ genannt wird. Der Autor der Büttenrede, Stephan Scholz, hatte sich offenbar als Journalist verkleidet und sein Interviewpartner Johannes Sundermeier trat als Szene-Kenner in Erscheinung. Die witzige Idee: Der Gothic-Maskenball im Scarabée, einer Studentenkneipe, ist der Aufhänger um „…über die Gothic-Szene und ‚düstere‘ Ausgehmöglichkeiten in Gießen“ zu sinnieren und die schwarze Szene zu erklären. Wirklich originell! Versteckte Kalauer in aufklärenden Zeilen sind Programm, so wie in diesem Satz: „Auch in Sachen Bekleidung ließen sich die Stile unterscheiden: „Batcave“ prägten etwa Schlaghosen sowie Rüschen und Neonfarben „Industrial“.“
Ich lege die Ironie, die in diesen Zeilen schwebt, für einen Augenblick weg. Es geht nicht nur darum, dass sich jeder Hinz und Kunz Journalist nennen darf, sondern um den Niedergang des Journalismus als Institution. Auch der Gießener Anzeiger, der seit 1750 versucht, sich als regionale Tageszeitung zu behaupten, hat höchstwahrscheinlich Absatzprobleme und muss Geld sparen. Vielleicht enstehen so schlecht recherchierte Artikel mit merkwürdigen Experten und eigenwilligen Ansichten, die dann den interessierten Leser eher verwirren als ihn zu informieren. Zurück zur Ironie.
Die beiden Bilder zum Artikel sind stilprägend für den erwähnten Karneval. Szene-Hybriden mit Geschenkbändern im Haar, Schweißerbrillen auf dem Kopf und bunten Ringelstrümpfen, die in schweren Stiefeln enden. Cyber. Ganz klar. Von hinten aus dem Leben geschossen. Wie unhöflich. Das andere Bild zeigt den Experten Sundermeier, mit Blue-Jeans, Laptop und Wasserpfeife. So gewinnt der jedenfalls keinen Kostümwettbewerb und äußerlich weit von Szene-Kenner entfernt. Jedenfalls nach meinen Vorstellungen. Die Büttenrede beginnt:
„GIESSEN – Morgen wird es finster – ganz sicher aber in einem feuchtfröhlichen Sinn.“ Wie meinen? Finster im feuchtfröhlichen Sinn? Schon jetzt stehe ich fragend am Gießener Bahnhof. Mit anderen Worten: Ich verstehe nicht, was mir der Autor damit zu sagen versucht. Morgen betrinken sich alle bis ihnen schwarz vor Augen wird? Immerhin erfahren wir, dass irgendwo in der Stadt ein „Maskenball“ stattfindet, dass es „Gothic“ noch gibt und es nur noch für wenige eine Lebenseinstellung ist. „Der Großteil der Szene bezieht sich heute nur noch auf die Musik“, berichtet der Fotograf. Anfang der 1980er Jahre sei das anders gewesen: „Gothic ist durch die Ostpunk-Szene entstanden. Zumindest in der Entstehungszeit war man auch immer politisch relativ engagiert.““
So sagt es der blutjunge Informatikstudent, der laut seinem XING-Profil seit Oktober als Fotograf unterwegs ist. Gothic ist also durch die Ostpunk-Szene entstanden. Gothic kommt aus der DDR? Interessant. Für mich kam Gothic immer aus England und ist untrennbar mit der damals dort aufkommenden New-Wave-Szene verbunden. Die DDR und auch die damalige BRD waren im Grunde doch nur „Nachmacher“, die dann Stil und Musik übernahmen und weiterführten. Wäre Johannes Sundermeier dabei gewesen – wovon ich nicht ausgehe – wäre das vielleicht eine persönliche Erfahrung gewesen. Da ich das aber ausschließe, frage ich mich: Woher in aller Welt kommen solche Informationen? Vielleicht war es beim Interview auch so laut, dass man sein eigenes Wort nicht verstanden hat. Das wäre dann zu mindestens eine Erklärung.
Jetzt ein Rätsel. Sogar ein kniffliges! Was hat Edgar Allen Poe mit schwarzen Kerzen zu tun? Wisst ihr nicht? Hier die Lösung aus dem Artikel: „Gemeint ist die sogenannte schwarzromantische Tradition um Dichter wie Lord Byron oder Edgar Allan Poe, die mit ihren düsteren und teils gruseligen Werken Inspiration für die Gothics und ihre Subkultur wurden. „Dazu zählen etwa auch schwarze Kerzen, doch das alles hat bei uns in der Gegend sehr stark nachgelassen““ Schwarze Kerzen als Inspiration für die Szene? Byron und Poe kann ich ja noch gelten lassen, aber wie kommt man von der Spätromantik und Horrorliteratur auf schwarze Kerzen? Und überhaupt: Wären Grablichter nicht viel passender gewesen?
Mir schießen die Tränen in die Augen. Sucht euch aus, ob es Tränen der Freude oder des Schmerzes sind. Ich beruhige mich erst wieder, als ich erfahre, dass man in Gießen als Mann mit langen Haaren komisch angesehen wird. Glücklicherweise habe ich kaum noch welche und könnte mich also so unbehelligt durch die Stadt bewegen! Und was hat das überhaupt mit der Szene zu tun?
Im nächsten Absatz gibt es noch die überfällige Exkursion in Sachen Musikstile: „Auch musikalisch gibt es Überschneidungen und Unterschiede, die grob in vier Stile eingeteilt werden können. Den Ursprung bildet „Batcave“ im 80er-Stil, zu dem etwa „The Cure“ zu zählen sind. Strömung Numero zwei ist „Industrial“, während Gruppen wie die „Krupps“ zum „EBM“ gerechnet werden. „Das sind die drei großen Richtungen, zu denen noch Mittelalter kommt.““ Abgesehen von der Tatsache, dass es sich bei „Batcave“ lediglich um eine ehemalige Discothek in England handelt und nicht um einen Musikstil, würde ich „The Cure“ auch sicherlich nicht dazuzählen. Robert Smith, der Sänger dieser Band, streitet sogar ab „Gothic“ zu sein und deshalb lassen wir „The Cure“ in den Schubladen, in die sie gehören (die wechselten mal) Darkwave, Post-Punk, New Wave oder einfach nur Pop-Musik. Die „Batcaver“ ist dann doch eine eher neuzeitliche Spezies, die man als äußerliche Patchwork-Kultur aus Punk und Gothic betrachten könnte. Mit „Industrial“ meint er wohl eher Cyber-Elektro-Gedöns, denn Bands wie Throbbing Gristle finden sich äußerst selten auf schwarzen Playlisten. Irgendwie fehlen da auch noch gefühlte 1000 Musikrichtungen. Ich kann mich aber auch irren.
Nach der Musik kommt logischerweise (?) der Style. Und auch hier fühle ich mich weiter von der Realität entfernt als die Erde vom Sternennebel Andromeda: „Auch in Sachen Bekleidung ließen sich die Stile unterscheiden: „Batcave“ prägten etwa Schlaghosen sowie Rüschen und Neonfarben „Industrial“. Grundsätzlich ist Schwarz schon noch in, nur „Industrial“ falle mit seinen Farben heraus, auch weil „es Überlappungen mit der Technoszene und anderen Szenen gibt““
Ja, genau. Wenn Batcave zwei Dinge nicht hat, dann Schlaghosen und Rüschen. Und sowieso, wie um alles auf der Welt kommt man auf Schlaghosen? Ich sehe in der Szene Cargo-Hosen, Strumpfhosen, Lederhosen, Samthosen, geschnürte Hosen, geschlitzte Hosen oder einfache schwarze Jeanshosen! Meintwegen sehe ich auch Lackhosen, Gummileggings oder auch völlig nackte Beine. Aber SCHLAGHOSEN? (An dieser Stelle atmet der Verfasser dieser Zeile durch.) Na immerhin erkennen wir an der Verknüpfung mit „Neonfarben“ hier, dass der Verfasser Industrial nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung begriffen hat, denn gemeint sind ganz klar die Cyber-Knicklicht-Szene, was ja auch das Bild zum Artikel verdeutlicht. Und die haben nichts mit Gothic zu tun sondern sind tatsächlich Einflüsse der Techno-Bewegung die auf irgendwelchen dubiosen Kanäle in die SCHWARZE SZENE (Das große Ganze) gelangt sind.
Mit ein paar Fakten, einem vermeintlichen Experten und viel Phantasie mischt der Autor Scholz hier einen für mich schwer bekömmlichen Cocktail. Der Artikel lässt jede Recherche vermissen, denn selbst einem Nicht-Szene-Kenner würden 10 Minuten Wikipedia reichen, den Großteil des Artikels als hanebüchenden Unsinn zu entlarven. Die ausgewählten Bilder verstärken für mich den Eindruck, dass hier an Qualität gespart wurde. Ich weiß, dass viele Journalisten trotz schlechter Bezahlung und ständigem Zeitdruck engagiert und sogar leidenschaftlich sind und es besser können. Solche Artikel generieren möglicherweise Traffic, sollten aber eher unter der Kategorie „Humor“ oder „Erdachte Geschichten“ einsortiert werden als den Anschein zu erwecken, Hintergrundinformationen zu vermitteln. Ich glaube, gepaart mit dem richtigen Rüschen- und Schlaghosenoutfit wäre dieser Artikel jedenfalls die Lachnummer auf jeder Karnevalssitzung. Helau, Alaaf und Halt Pohl!
Großartig geschrieben!
Das klingt, als hätte meine Mutter den Artikel geschrieben!
Aber die lustigen Auszüge plus deine dezent ironischen Kommentare dazu haben mich doch das ein oder andere Mal herzlich lachen lassen. Ich hab mich halt einfach mal dazu entschieden, das eher lustig zu finden.
Hier, ich trage Schlaghosen! Aber ich denke mal, als „Dark Hippie“ bin ich wohl eher ein Einzelfall. ;)
Sehr amüsanter Artikel.
Klasse Robert Super geschrieben.
Sehr schön geschrieben :)
Eine Idee zu den Schlaghosen:
Der Szenekenner, den man in der Tat nicht einmal als Insider erkennt, sieht vielleicht immer mal ein Grüppchen Zimmermänner und ordnet sie den Gruftis zu ;)
Ostpunk als Entstehungsgeschichte ist klasse! Endlich mal eine ganz neue Idee im Raum *lol*
Vll. ist das ja jetzt der richtige Zeitpunkt um amüsiert dass ich den Interviewpartner noch flüchtig kenne, aus der Zeit in der ich oft im Scara war um zu vier, fünf guten Songs zu tanzen und mich den Rest der Zeit über die örtliche Szene zu ärgern.
Für einen Gruftologen hätte ich ihn nie gehalten, und das zeigt sich natürlich auch in seinem Mischmasch schlechter Onlinerecherche und Observation der nicht repräsentativen lokalen Szene, in der die zwei, drei „Batcaver“ die man zu kennen meint tatsächlich dann und wann Xtrax-Schlaghosen tragen.
Reichlich peinlich und zeugt von nichts weiter, als dass man hier in seiner kleinen Welt feststeckt und ich nix verpasse, wenn ich nur nocj ins Rhein-Main-Gebiet runterfahre…
Ach du dickes Ei – na das ist ja wirklich ein haarsträubender Käse, den der angebliche „Szenekenner“ da von sich gab. Tatsachenverdrehungen sind wir ja leider seitens der Medien gewohnt… aber das hier ist eine neue Erfahrung. Wenigstens keine „asoziale Satanisten-Sado Maso-Schublade“, das ist der einzige Trost.
Ach du meine Güte, was ist das denn für ein haarsträubender Unsinn?! O.o Da schreibt die Bild ja fast bessere „Artikel“. Dennoch finde ich die Verknüpfung von „Batcave“ mit Schlaghosen und Rüschen (Disco-Goth? ^^) so skurril und absurd, dass es eigentlich schon wieder lustig ist.
Jetzt habe ich auch Tränen in den Augen. Bei mir aber eindeutig vom Lachen! :) Danke für diese Büttenrede! ;)
Jedenfalls gute Recherche beim Auffinden dieses widerspenstigen Artikels!
Ist so schlecht geschrieben man könnte wirklich meinen es wäre eine Büttenrede zu Beginn der Karnevalsaison.
Die von dir erdachte Kategorie: „Erdachte Geschichten“ sollte es wirklich mal in der Zeitung geben um Wahrheit und Lüge voneinander besser zu unterscheiden zu lernen. Naja zumindest gibt es Karikaturen!
Vielen Dank für die zahlreichen lobenden Worte. Es war in der Tat eine schwere Geburt, dieser Artikel, auch wenn die Zeilen locker und luftig erscheinen. Umso froher bin ich natürlich, dass es euch so gut gefällt. Das beschert mir schon seit Tagen ein wohlig-warmes Gefühl ;)
@Robin: Eine Lüge will ich dem Autor noch nicht mal unterstellen. Ich nehme einfach er wusste es nicht besser und hatte keine Lust auch nur 5 Minuten zu recherchieren. Content um jeden Preis. So wirkt es auf mich und ich denken, dass genau das nach hinten losgeht. Ich stelle mir jetzt mal vor, die würden über ein Thema schreiben, von dem ich absolut keine Ahnung habe, dann lese ich den Gießener Anzeiger, gehe zu den Ortsansässigen Angelfreunden und will mit meinem Wissen prahlen. Klappt natürlich nicht. Ich mache mich lächerlich oder niedergetrampelt. Ob ich mir dann nochmal diese Zeitung kaufen würde? Ich weiß es nicht.
What the fuck …
Da hat also ein Provinz-Wurstblatt Käse über die Szene geschrieben. In den Redaktionsstuben dieser Blätter sitzen meist völlig überarbeitete Redaktionsmenschen, die sich von Dubstep über Abwasserzweckverbandssatzungen bis zur lokalen Wirtschaft, Fußball und Theater überall auskennen sollen. Was sie natürlich nicht können. Ja, Recherche: Das setzt Zeit voraus, die dort längst niemand mehr hat. Da fallen dann vor allem Randthemen inhaltlich hinten runter. Und, glaubt es oder nicht: Gothic IST dort ein Randthema ;-)
Wenn man mal locker bleibt, stellt man schnell fest, dass der Text zwar lachhaft falsch, aber eben auch lachhaft und keineswegs bösartig ist. Was man ja durchaus auch erlebt.
Ehrlich: Da ärgere ich mich über Mist, der in der Szene selbst verzapft wird, wesentlich mehr. Zum Beispiel: http://www.dark-news.de/belzebub-gothic-meets-rap-im-interview/65394
(Ich meine ausdrücklich NICHT die Musik, kann man finden wie man will. Ich meine die „journalistische Leistung“)
@((tim)): Ich verstehe die Überforderung des Journalismus in Zeiten von „Kostenlos-Mentalität“ und ständiger Verfügbarkeit. Ich kann sie sogar nachvollziehen! Die Botschaft kann deswegen auch nicht nur lauten: Recherchiert besser! Sondern vielmehr: Schreibt über das, was Relevanz hat und über das, was ich recherchiert habt. Im konkreten Fall ist es ja völlig legitim über die Eröffnung einer neuen Party für schwarze Gestalten zu berichten, man hätte lediglich den Erklär-Bär-Teil weglassen sollen. Denn wenn ich was erkläre, dann darf ich nicht irgendeinen Kram verzapfen.
Ein Ärger meinerseits ist auch nicht vorhanden, eher eine Belustigung und einer schöner Anlass wieder mal etwas zynischer in die Tasten zu hauen. Insgesamt gibt der Journalismus ja ein gutes Bild ab, jedenfalls findet man in den meisten Artikel über die schwarze Szene, Festivals oder sonstige Veranstaltungen kaum noch Gegendarstellungsbedarf. Das ist gut und irgendwie und insgeheim auch ein bisschen schade ;-) So wird man von der falsch verstandenen Randgruppe schnell zu eine akzeptierten Lebenserscheinung. Rebellion ade. Eigentlich schade, oder?
Und das Belzebub „Interview“ ist dann doch wieder mal das Fundstück der Woche! Vielen Dank dafür, dann habe ich mal wieder was zum verschreiben ;)
Zum Thema: Eine journalistische Leistung kann ich da nicht erkennen. Vielleicht eher das Bestreben über alles und jeden berichten zu müssen. Content auf Teufel komm raus. Ich frage mich gerade wie ich mir als ambitionierter Künstler vorkommen würde, wenn dem Ganzen auf diese Art und Weise eine Plattform geboten wird?
Grade über den blog gestolpert…
Es war kein Interview sondern ein Gespräch indem ich dem reporter ein paar fragen beantwortet habe.
Leider wurden viele Dinge durcheinander geworfen und falsch wiedergegeben.
Ebenso habe ich nie von ostpunk gesprochen (welch grausige Idee)…
Ich kann verstehen, dass der Artikel vielen übel auf stößt – das ist er mir auch.
Es wurden Teile weggelassen dann fragte er mich nach grablichtern und und warf meine Antwort mit Poe und Byron in einen Satz… Traurig aber leider nicht zu ändern
@JoSund: Schön, dass du dann Spontis nutzt, um das ganze wieder in ein etwas anderes Licht zu rücken. Ich habe mir auch schon gedacht, dass es immer eine andere Seite der Münze gibt, die möglicherweise ein anderes Bild zeigt, deshalb bin ich sehr froh, dass du die Möglichkeiten genutzt hast.
Lieber Leser, aufgepasst: Wenn die Presse nach einem Interview, einer Stellungnahme oder einem sonstigen O-Ton fragt, seid Euch darüber im klaren, dass die dann oft damit machen, was sie wollen. Die Erfahrungen, die „JoSund“ hier gemacht hat, haben sicherlich auch schon einige andere gemacht. Gute Redakteure und Autoren schicken ihren Protagonisten und Interviewpartner vorher eine Voransicht, die erst freizugeben ist, bevor man etwas veröffentlichen darf. Wenn Euch das nicht angeboten wird, fordert es ein!