Von den Hinterzimmern der Pubs in Camden bis auf das Dach des Buckingham Palace beim Thronjubiläum der Queen: Die Londoner Band Madness bereicherte die britische Geschichte und die ganze Welt wie kaum eine andere mit ihrem einzigartigen Sound. In der ARTE-Dokumentation blicken Bandmitglieder und Weggefährten auf die Ska-Welle ihrer Anfangsjahre und die Verwandlung in eine Hitmaschine in den 1980ern zurück.
Wie ich Madness fand – oder fanden sie mich?
Ich komme musikalisch ja aus einer ganz anderen Ecke. Mitte der 1980er war es bei mir The Cure, Siouxsie, Depeche Mode – alles, was schwärzer, düsterer und trauriger klang. Madness? War da eher das Gegenteil. Bunt, laut, schräg, albern. Und doch… irgendwann war da diese irritierende Faszination. Vielleicht war es „Our House“, das in einem ansonsten sehr dunklen Mixtape auftauchte. Vielleicht lag es an diesem Tanz, dieser absurden, synchronen Bewegung der Typen in Anzügen, die man damals in aufkeimenden Musikfernsehen sehen konnte. Jedenfalls blieb etwas hängen. Und mit der Zeit habe ich gemerkt: Diese Band hat mehr Tiefe, als es auf den ersten Blick scheint.
Die Dokumentation über Madness, die jetzt erschienen ist, bestätigt dieses Gefühl auf eindrucksvolle Weise. Sie lässt die Bandmitglieder – allen voran Sänger Suggs (bürgerlich Graham McPherson) und Bassist Mark Bedford – zurückblicken auf eine Karriere, die im Londoner Stadtteil Camden begann, in verrauchten Hinterzimmern von Pubs. 1979 war das. Damals waren sie sieben Jungs aus der Arbeiterklasse, laut, direkt, witzig, aber nicht ohne Haltung. Es war der Beginn einer Musik, die Großbritannien verändern sollte – und weit darüber hinaus wirkte.
Madness verbanden jamaikanischen Ska mit britischem Punk und brachten so einen Sound auf die Bühne, der nicht nur tanzbar war, sondern auch politisch. Nicht im Sinne von Parolen, sondern durch das, was sie waren: Teil der 2-Tone-Bewegung, die sich dem wachsenden Rassismus und der sozialen Spaltung im England der Thatcher-Jahre entgegenstellte. Bands wie The Specials, The Selecter und eben auch Madness vereinten schwarze und weiße Musiker. Das Label „2 Tone Records“, gegründet von Specials-Mastermind Jerry Dammers, wurde zum musikalischen Zufluchtsort für eine Generation, die sich mit der konservativen Politik der Zeit nicht abfinden wollte.
Auch wenn Madness sich später stilistisch vom engen Korsett des 2-Tone lösten und sich eher in Richtung britischer Pop-Traditionen bewegten – mit einem deutlichen Hang zu The Kinks –, blieben sie in ihrer Haltung klar. Sie nahmen ihre Herkunft nicht als Bürde, sondern als Identität mit. Und das merkt man bis heute: Sie sind nicht glattgebügelt, nicht retro, nicht ironisch – sie sind Madness. Punkt.
Was mich an Ska der Marke „Madness“ besonders fasziniert: diese Mischung aus Energie und sozialem Bewusstsein, dieses direkte Körpergefühl und gleichzeitig die Reibung, die in der Musik steckt. Ska ist rhythmisch, pulsierend, aber nie gefällig. Und Madness waren nie bloß Partyband, auch wenn ihre Musik zum Tanzen einlädt. Wer genau hinhört, findet immer wieder gesellschaftliche Beobachtungen, Kritik, Melancholie – verpackt in einem Lächeln.
Ein Gänsehautmoment der Doku ist das Comeback-Konzert 1992 im Finsbury Park. Madness waren sechs Jahre weg vom Fenster, und als sie die ersten Takte von „One Step Beyond“ anstimmten, sprang die Menge – wortwörtlich – im Takt. So sehr, dass sogar die Seismographen in London ausschlugen. Es ist ein Bild, das hängen bleibt. Nicht wegen der Anekdote, sondern weil es zeigt, wie tief diese Band bei ihren Fans verankert ist. Das ist keine Retro-Nostalgie – das ist echte Verbindung.
Madness bleibt – und wächst weiter
Neben Suggs und Bedford kommen in der Doku auch wichtige Wegbegleiter zu Wort: Produzent Clive Langer, Dave Robinson von Stiff Records, Specials-Gitarrist Lynval Golding und Rhoda Dakar von den Bodysnatchers. Sie geben dem Bild Tiefe, setzen die Geschichte der Band in den größeren Kontext der britischen Popgeschichte und zeigen, dass Madness nicht zufällig so lange überlebt haben. Während andere Bands der 2-Tone-Welle an ihrer Eindeutigkeit zerbrachen, blieben Madness beweglich. Sie wollten nicht Teil eines Systems sein – sie wollten Geschichten erzählen. Und das konnten sie wie kaum eine andere Band.
Heute, Jahrzehnte später, höre ich „Baggy Trousers“ oder „My Girl“ und denke: Das ist mehr als nur Musik meiner Jugend. Das ist ein Stück britischer Kulturgeschichte. Madness haben nicht nur Hits produziert – sie haben ein Lebensgefühl geprägt. Und auch wenn mein musikalisches Herz immer auch für das Düstere schlägt – für diese Band hat es einen festen Platz freigeräumt. Ganz ohne Kontrastprogramm funktioniert eben auch ein dunkler Soundtrack nicht.
Die ARTE-Doku ist vom 18.06.2025 bis zum 22.09.2025 online verfügbar und ist am 25.06.2025 um 21.45 Uhr im TV zu sehen.
Wizard of Goth – sanft, diplomatisch, optimistisch! Der perfekte Moderator. Außerdem großer “Depeche Mode”-Fan und überzeugter Pikes-Träger. Beschäftigt sich eigentlich mit allen Facetten der schwarzen Szene, mögen sie auch noch so absurd erscheinen. Er interessiert sich für allen Formen von Jugend- und Subkultur. Heiße Eisen sind seine Leidenschaft und als Ideen-Finder hat er immer neue Sachen im Kopf.