Zwischen Gothic-Kitsch und Gänsehaut: Blutengel live erlebt!

Blutengel und ich – das war lange eine eher unterkühlte Beziehung. Nach einem enttäuschenden Konzertbesuch im Jahr 2007 hatte ich die Band weitgehend aus meinen Hörgewohnheiten verbannt. Doch dann spielte der YouTube-Algorithmus Schicksal, und plötzlich war wieder ein Interesse da. Ein neues Album, eine neue Tour – und ich mittendrin beim Auftakt in der Frankfurter Batschkapp. Wie es dazu kam? Eine Geschichte voller Nostalgie, Staus und Büroschuhen.

„Totes Fleisch“ – Oder: Wie ich Chris Pohl musikalisch begegnete

Chris Pohl machte in den 90er-Jahren allein schon durch die schiere Anzahl seiner Projekte auf sich aufmerksam. Terminal Choice, Tumor und Seelenkrank, um nur eine Auswahl zu nennen, waren auf den Tanzflächen der schwarzen Clubs ständige Vertreter. Meine erste Berührung mit dem Schaffen von Herrn Pohl war der Track „Totes Fleisch“ von Terminal Choice. Heute noch gerne gehört – am liebsten in der Tages-Version, die auf der MCD „Totes-Fleisch-Remixe“ enthalten ist (limitiert auf – natürlich – 666 Exemplare).

Mein erstes Terminal-Choice-Konzert erlebte ich 1998 oder 1999 in der Disco Flash in Simmern. Es gab seinerzeit wohl technische Probleme. Wir mussten ewig auf den Beginn des Konzerts warten – und haben nach drei Songs die Location verlassen. Da war nach der langen Wartezeit leider die Luft raus.

1999 durften Terminal Choice auf der Hauptbühne des Zillo-Festivals ein etwas größeres Publikum bespielen. Damals hat mich der Auftritt überzeugt, und ich habe mich in der Folge näher mit der Band beschäftigt. Bei einer kürzlichen Neusichtung des Konzerts musste ich dann doch ein wenig schmunzeln. Diese Zeit war recht speziell – aber ich liebe ja diesen ganzen 90er-Jahre-Grufti-Kitsch. Daher passt das für mich auch heute noch ganz gut.

Terminal Choice hat mich bis spät in die 2000er hinein begleitet. Bei dieser Vorgeschichte war es unumgänglich, dass ich mich auch mit Blutengel, dem inoffiziellen Nachfolger des inzwischen ad acta gelegten Projekts Seelenkrank, auseinandersetzen musste. Das Debütalbum „Child of Glass“ erschien 1999. Rückblickend würde ich sagen, dass Blutengel mit ihrem zweiten Album „Seelenschmerz“ flächendeckend in der Szene angekommen sind. Der Erscheinungszeitpunkt war geradezu perfekt – hatte sich doch meine damalige Freundin von mir getrennt. Alles ganz großes Drama. Zumindest für mich. Mehr kitschy könnte es kaum sein, aber es war halt, wie es war. Zumindest haben sich die Songs dieses Albums deshalb geradezu in mein Gehirn eingebrannt.

2007 – Ich mache Schluss mit Blutengel!

Ein paar Jahre später – es müsste am 16.10.2007 gewesen sein – haben Blutengel ein Konzert im KUZ in Mainz gespielt. Eine Freundin hatte Karten über eine lokale Zeitung gewonnen, und da die Tickets sonst niemand haben wollte, habe ich mich mit meiner damaligen Lebensgefährtin auf den Weg gemacht. Was soll ich sagen? Ich war total enttäuscht. Das war mit Abstand das schlechteste Konzert, das ich bis dahin gesehen hatte. Woran es lag? Das ist nach all den Jahren schwer nachzuvollziehen. Was bleibt, ist nur das Gefühl. Im Anschluss habe ich mich lange Zeit nicht mehr mit dem Thema Blutengel beschäftigt. Die alten Lieder sind immer mal wieder in die Playlist gewandert. Das war’s dann aber auch.

Irgendwann gegen Ende des letzten Jahres war YouTube der Meinung, ich müsste mir unbedingt ein Video von „Seelenschmerz“ ansehen. Es handelte sich um einen Live-Mitschnitt mit dem unheilvollen Untertitel „Gothic meets Klassik“. Es sei allen gegönnt, aber in der Regel werde ich mit diesen Klassiknummern nicht warm – gerade bei Projekten, deren Sound grundlegend elektronisch geprägt ist. Trotzdem fand ich das Gezeigte doch irgendwie … anziehend. Also habe ich mir im Anschluss das zugehörige Studioalbum „Black Symphonies“ gekauft. Ich selbst bin ja äußerst empfänglich für deutsche Texte mit leicht pathetischem Überzug. Diese sind auf der Veröffentlichung zahlreich vertreten. Hier passt für mich auch die klassische Instrumentierung.

Doch recht angetan von den „Black Symphonies“ habe ich mir noch einige Konzertaufzeichnungen angesehen – und siehe da: Inzwischen treten Blutengel mit einer richtigen Band samt Gitarre und Schlagzeug auf. Und da habe ich mir gedacht, vielleicht gehe ich doch nochmal auf ein Konzert. Ein kurzer Blick ins Internet verriet, 2025 wird es eine Tour zum neuen Album „Dämonen:Sturm“ geben. Tourstart sollte am 03.04.2025 in der Batschkapp in Frankfurt sein. Und hier sind wir nun.

Blutengel in Büroschuhen genießen, halte ich durch?

Nach Arbeitsschluss zügig Hemd und Stoffhose gegen schwarze Klamotten getauscht und pünktlich um 18:30 Uhr losgefahren. Das Konzert sollte erst um 20:00 Uhr losgehen, und das Navi rechnete mit maximal einer Stunde Fahrtzeit. Aber man weiß ja nie. Natürlich gab es aufgrund eines Unfalls einen Stau. Und natürlich bin ich in Frankfurt kurz falsch abgebogen und habe so die Fahrzeit künstlich um weitere zehn Minuten erhöht. Dafür gab es einen freien Parkplatz direkt vor der Location. So war ich trotz allen Unwägbarkeiten rechtzeitig vor Ort. Jetzt noch schnell total unfähig beim Einparken angestellt. Zumindest den Eingang zur Batschkapp habe ich schnell gefunden.

Es ging relativ pünktlich um kurz nach 20 Uhr los. Wer da auf die Bühne kam und das Mikrofon ergriff, schien aber nicht Chris Pohl zu sein. Das war der Augenblick, in dem mir bedeutungsschwanger klar wurde, dass es eine Vorband geben und ich nicht wie geplant gegen 23 Uhr zu Hause sein werde. Da ich seit kurz vor fünf Uhr wach war, stellte sich mir die Frage, ob ich bis zum Ende durchhalte. Was mir beim anschließenden Blick auf meine Füße ebenfalls klar wurde: Ich hatte vergessen, beim Umziehen die Büroschuhe gegen meine Chucks zu tauschen. Ist aber nicht weiter aufgefallen – sind ja ebenfalls schwarz.

Die Vorband hört auf den Namen Dunkelsucht, stammt aus der Schweiz und hat die Anwesenden mit rund 45 Minuten Spielzeit erfreut. Die Band selbst beschreibt ihren Sound passenderweise als eine Mischung aus Electropop, Industrial und EBM. Trotz der für mich mit dem Auftritt verbundenen Verzögerung hat mir die Performance gut gefallen, und die beiden haben das Publikum schön auf das folgende Konzert eingestimmt.

Die anschließende Umbauphase hat sich dann doch etwas gezogen. Das umstehende Publikum wurde mit der Zeit ein wenig unruhig. Nach ungefähr 30 Minuten betraten drei Tänzerinnen im Dämonengewand die Bühne – dabei grüne Laserstrahlen ins Publikum schleudernd. Nach der Showeinlage betrat die Band die Bühne. Die beiden Frontleute wurden durch Keyboard, Gitarre und Schlagzeug ergänzt.

Nachdem sich alle sortiert hatten, wurde das Konzert mit den beiden Songs „Remembrance“ und „The War Between Us“ eröffnet. Gerade die zweite Nummer ging ordentlich nach vorne. Die Show wurde durch die Tanzeinlagen der drei Damen sowie die amüsanten Wortwechsel der Bandmitglieder untereinander aufgelockert. Amüsant auch der Hinweis, dass trotz umfangreicher Konzerterfahrung der Stresslevel 15 Minuten vor Beginn des Auftritts immer noch ungeahnte Höhen erreicht.

Viele der Stücke wurden in Form von Duetten gesungen. Ich bin ein großer Fan dieser Art der Gesangsdarbietung – die aus meiner Sicht im Grufti-Bereich gerne öfter eingesetzt werden dürfte. Zur Abwechslung wurden einzelne Stücke auch immer von Herrn Pohl oder Ulrike solo gesungen. Hierfür hat der stille Part jeweils die Bühne verlassen – eine nette Geste.

Auf die stimmliche Leistung von Ulrike war ich besonders gespannt. Ihre Art zu singen mag ich sehr. Meine Erwartungen wurden erfüllt – manchmal hatte ich sogar ein wenig Gänsehaut. Leider war die Stimme streckenweise etwas leise abgemischt.

Innerhalb der folgenden zwei Stunden hat sich die Band durch ihre gesamte Diskografie gespielt – Bandcamp notiert 61 Veröffentlichungen. Der Zugabenblock startete mit dem allseits bekannten „Seelenschmerz“ und endete nach insgesamt vier Stücken mit „The Right Path“. Ich hatte mich bei der vermeintlich letzten Zugabe nahe am Ausgang positioniert. Daher konnte ich direkt nach Konzertende auf den Parkplatz eilen. Beim Durchsehen eines anderen Konzertberichts musste ich jedoch feststellen, dass es eben nicht die letzte Zugabe war. Es gab danach noch zwei weitere Stücke: „Black“ und „Walk Away“. Diese habe ich somit verpasst. War aber auch nicht wirklich schlimm – ich war eh erledigt und bin kurz vor 0:00 Uhr zu Hause angekommen.

Fazit: Chris Pohl bleibt sympathisch

Die Band hat in Summe eine solide Show abgeliefert. Wer die Lieder der Band generell nicht mag, wird durch den Live-Auftritt wahrscheinlich nicht zum Fan. Alle anderen könnten einen Besuch riskieren. Mit Blick auf das Konzert 2007 ist der Blutengel-Konzert-Redemption-Arc für mich vervollständigt. Herr Pohl musste über die Jahre viel Kritik einstecken. Mir stellt sich öfter die Frage, wie sich jemand, für den die Szene seit so vielen Jahren ein Zuhause ist, dabei fühlt. Wer seinen Geburtstag lieber mit Tieren als Menschen verbringt, ist – ohne ihn persönlich zu kennen – zumindest mir sympathisch.

Ich denke, man kann keinen Bericht über Chris Pohl ohne zumindest ein kleines Augenzwinkern schreiben. In diesem Sinne: Alles nicht zu ernst nehmen. Ich habe viele seiner Sachen immer gerne gehört – daher: Vielen Dank!

Alle Bilder mit freundlicher Unterstützung vom Sandra Fredersdorf, Blutengel Clan.

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1998 in die Szene eingestiegen. Die folgenden Jahre habe ich intensiv Veranstaltungen und Konzerte besucht. Von 2009 bis 2013 beschränkte ich mich dann auf Musik, bevor ich dann wieder aktiver wurde. 2017 habe ich eine Familie gegründet - keine Musik, keine Veranstaltungen, keine Konzerte, keine Festivals, keine eigenen Gedanken. Jetzt kehre ich endlich wieder zurück vor die Bühne.

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Timper
Timper (@guest_66707)
Vor 8 Stunden

Ich habe in Berlin am letzten Freitag das Konzert im Huxley gesehen. Ich fand’s auch gut. Letztlich ist Musik immer Geschmackssache.
Am darauf folgenden Samstag dann noch im Lido Pink Turns Blue. Auch toll. Da gabs dann keine Show aber dafür tolle Musik von der Band.
Es war ausverkauft und das Publikum begeistert.

graveyardqueen
graveyardqueen(@graveyardqueen)
Vor 8 Stunden

Blutengel…eine meiner damaligen Babybat Bands. Für mich war das Seelenschmerz Album der Einstieg und ich weiß noch heute, dass es Nachts, wenn ich als Teenie Heim kam, meine Einschlafmusik war. Ich glaube bis Oxidiying Angel oder so, habe ich die Band musikalisch begleitet. Danach war mir das alles zu viel Einheitsbrei. Alles klang gleich und die Thematiken wiederholten sich ständig. Ich war der Musik entwachsen. Aber gerade zur Angel Dust Zeit als ich planlos, allein und schlecht drauf, in den Seilen hing, war es die Musik von Blutengel, die mir aus der Seele sprach…in der ich mich wiederfand. Das Lied Seelenschmerz lieb ich bis heute, muss ich gestehen. Und auch wenn ich ebenfalls jemand bin, der mit Ende 30 aus Nostalgie seinen Teeniebands, wie L ‚Ame Immortelle, Umbra et Imago oder The 69 Eyes auf dem WGT einen Besuch abstattet, so wird Blutengel wohl nie darunter fallen. Ich kann nicht genau sagen warum. Ob es diese Art von Chris Pohl ist, der nach außen arrogant wirkt oder es ist, weil er und seine Musik mich tatsächlich nicht Mal ansatzweise mehr berührt. Ich habe keine Ahnung.

Graphiel
Graphiel(@michael)
Vor 5 Stunden

Von Blutengel habe ich als Babybat eigentlich auch nur den Song Seelenschmerz gehört, denn ansonsten hat mich die Band schon immer ziemlich kalt gelassen.

So richtig geblutet haben mir die Ohren jedoch bei meinem ersten Amphibesuch 2019. Ich weiß noch wie ich mit meiner damaligen Freundin an einem der Futterbuden, nahe der Mainstage stand und mir von hinten ein Song an die Ohren hämmerte, den ich in Ermangelung besserer Worte zunächst nur als eine Mischung aus Bass und Genuschel hätte bezeichnen konnte. Irgendwann schoben sich dann unter dem ganzen Wumm Wumm Wumm und Nuschel Nuschel dann aber doch ein paar vertraute Klänge von Seelenschmerz durch und ich entschied für mich, dass ich es nicht bereut habe inzwischen einen anderen Musikgeschmack entwickelt zu haben.

Von meiner damaligen Schwägerin hatte ich zwar gehört, dass Herr Pohl bisweilen die Angewohnheit hat sich gern auch mal unglaublich schlecht abmischen zu lassen, aber ich hatte nicht gedacht wie Recht sie damit hatte.

Den Fleiß von ihm in allen Ehren, aber mich spricht seine Musik definitiv nicht (mehr) an. Dennoch freue ich mich natürlich für jeden Menschen, der in Blutengel seine Offenbarung gefunden hat oder noch finden wird. Es sei euch von Herzen gegönnt. 🦇 🖤 🦇

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 2 Stunden

Mit Blutengel und den anderen musikalischen Projekten vom Herrn Pohl konnte ich noch nie was anfangen, war mir immer viel zu seicht, zu klischeehaft oder zu plakativ. Er hat ja auch eine Zeitlang in Berlin als DJ aufgelegt und da hab ich ihn mal als extrem arrogant erlebt (außerdem hat mir die Musik nicht sonderlich gefallen, die er aufgelegt hat). Aber es scheinen ja einige Leute seine Musik zu mögen… Erstaunt hat mich ein Cover von „forever young“ von Alphaville, das er mal mit normaler Stimmer gesungen hat. Da klang er gar nicht mal schlecht.
https://www.youtube.com/watch?v=7sqyw_oyWFE

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