1991 – Die Gruftis – Liebe, Frieden und Harmonie? Vielleicht in der nächsten Welt

Nach dem letzten Negativbeispiel „Die Gruftis nahmen mir meine Tochter“ ein Aushängeschild für schlechte Presse darstellt, habe ich heute ein Beispiel, das es tatsächlich besser macht und zeigt, das man sich auch anders mit der Materie auseinandersetzen kann. Und noch bevor irgendwelche Unken rufen: Nein, die Junge Welt, aus der dieser Artikel stammt, hat nicht das geringste mit braunen Ideologien und rechten Randerscheinungen zu tun, auch wenn der Titel einer gleichnamigen Zeitschrift der Hitler-Jugend, die von der NSDAP herausgegeben wurde, gleicht. Der Titel der Zeitschrift oder seine Gesinnung hat im übrigen auch nichts mit dem Artikel selbst zu tun, den sollte man einfach mal lesen und seine vermeintlichen ideologischen Bedenken beiseitelegen.

Schwarzgewandet, augenumschattet und Haare, die zu Berge stehen – so wandeln sie durch die Nacht. Die „Schwarzen“ – düster, schön und bleich. Ihre Klamotten sind tot-schick. Schwarze wallende Gewänder. Sie tanzen. Sisters of Mercy, The Cure, Siouxsie & The Banshees. Zeitlupenartige Bewegungen bei den langsam-meditativen Stücken. Traumwandlerische Körperarabesken. Oder einfach nur: drei Schritte vor, drei zurück. Laszives Schlenkern mit den Armen. Vor vier, fünf Jahren tauchten die schwarz-gewandeten Gestalten mit den umschatteten Augen und den durchgestylten Haaren in einigen Jugendclubs in Berlin-Hohenschönhausen auf. Natürlich nicht aus dem Nichts, sondern wie so manches – von England inspiriert.

Irgend jemand fühlte sich bei ihrem Tanzen unbedingt an das Schaufeln von Totengräbern erinnert. „Tanzen hat unheimlich viel mit meinen Stimmungen zu tun“, sagt mir Nora (20) im „Life-Club“, dem Wochenendtreff der Gruftis in Berlin-Friedrichshain. „Du denkst, wir stehen nur so da. Aber da ist vielleicht gerade so ein Gefühl, eine Erinnerung. Die genieße ich. Das Gefühl trägt mich, leitet meine Bewegungen.“ Sie sind Individualisten in der Bewegung und Kleidung. Ihre Empfindungen unterstreichen sie: ob Umhang mit Vampirkragen oder ohne, Mönchskutte mit Kordel oder Grabschleife, ob Pumphosen oder seidene, spitzenbesetzte Blusen. Wie überall wird auch hier viel abgeguckt und selbst gemacht. Wichtigste Regel: schwarz muss es sein. Die Schnallenstiefel sind natürlich auch schwarz und spitz. Ihre Länge variiert. Schwere silberne Ketten und Ringe mit Symbolen wie Kruzifixe (auch umgedreht getragen), Fledermäuse, Schlangen, Totenschädel, Dämonenmasken bilden das Beiwerk.

Früher sind sie nach Potsdam gepilgert, ins Belvedere, ein Schloß, dem Verfall preisgegeben 1. Lange schwarze Vorhänge, der Staub vieler Jahre. Abgeschieden gelegen, ging von dem verlassenen Gebäude eine besondere Imagination aus. Der Park – einer feierlich stille Kulisse. Eine andere Welt – bis die Polizei dahinterkam. Die Nacht als Zuflucht, der Mond mit seinen fantastischen Schatten, das Zwielicht auf den stillen Pfaden der Friedhöfe üben eine ähnliche Anziehungskraft aus. Für Nora ist der Ort zum Nachdenken, Erinnern. Andere Gruftis nennen den Friedhof „Spielplatz“, Georg (19) meint: „Es tut gut, allein hier zu sitzen. Da spüre ich die Ruhe, die Mystik, die Todesnähe, wenn ich manchmal mit ’ner Kerze an der Gruft hier bin.“ In lange, weite Kutten oder Umhänge gehüllt, denken sie zusammenkauernd sitzend über Tod und Trauer nach. Endzeitstimmung, romantische Sehnsucht nach dem Jenseits, Verlorenheit. Oft verstecken vor der Realität, Resignieren. Georg: 

„Ich kann nichts dafür, daß ich geboren wurde. Ich hätte ’nein‘ gesagt! Nichts hat Sinn. Irgendeiner drückt mal auf den roten Knopf, oder eine Naturkatastrophe kommt. Die machen alles zur Sau.“ Angst und Ohnmacht sind zwei bestimmende Gefühle. Eine Art feste Gruppenstruktur, einen Zusammenhalt haben die Gruftis nicht. Sie sind Einzelgänger, passiv und verteidigen sich kaum bei den gewalttätigen Fascho-Attacken. Manches Gruft-Mädchen hat dadurch schon seine Haarpracht eingebüßt. Die „doitschen Friseure“ fackeln nicht lange.

Zu schaffen macht ihnen die gesellschaftliche Ablehnung, das Unverständnis, das ihnen entgegenschlägt, oft allein durch ihr Outfit. Kleidung – Spiegel ihrer Seele. Das Gesicht bleich, die Augen schwarz geschminkt, Leichenblässe und Todesschatten. Kunstvolle Brauenverlängerung. Im Alltag wird weiterhin dunkle Kleidung bevorzugt. Die Haare runtergekämmt, den Stino raushängen lassen für die Spießer. Sie ringen (wie andere Jugendliche auch) mit elterlicher Bevormundung, mit Schwierigkeiten in der Schule oder der Ausbildung. Negative Erfahrungen summieren sich. Die Gruftis fühlen sich abgewiesen, reagieren Übersensibel auf rohen Umgang, versagte Anerkennung. Alleingelassen mit ihren Bedrängnissen, Wünschen, befinden sich die Gruftis auf dem Rückzug aus der Gesellschaft. Hatten vorher Staat und Partei der Jugend weitesgehend Entscheidungen abgenommen, verstärkt sich nun die Perspektivlosigkeit mit der neuen gesellschaftlichen Situation.

Die Unfähigkeit, auf reale Lebenssituationen einzugehen, nimmt zu. Der Ausweg – Flucht vor der Wirklichkeit. Sie nimmt auch extreme Formen an. Nora: „Über zwei Jahre bin ich in Berlin rumgezogen, hab oft im „Tender“ (Bahnhof Lichtenberg) gepennt. Hab Tabletten geschluckt, viel Alkohol. Wenn’s mir mal nicht gut ging, hab ich Assi gemacht, blieb im Bett. Einmal zwei Wochen.“ Abschalten im Rausch. Mitunter Tablettenvergiftung, Selbstmordgedanken und -versuche. Nicht nur destruktive Sprüche. Okkulte Techniken werden ausprobiert: Pendeln, Tisch- und Gläserrücken. Von geheimen Ritualen, Teufelsbeschwörungen, Urnendiebstählen hört man. Doch was davon ist Koketterie, Legende oder Tatsache? Die Annäherung war schwierig.

„Wir sind nicht aus Spaß so geworden. Sondern als Reaktion darauf, was mit uns passiert ist, und wie wir damit nicht fertiggeworden sind“, sagt Nora. „Meine Welt will ich dir nicht beschreiben. Du kriegst von mir aber ein Zeichen.“ Nora schreibt: ?

Junge Welt 1990 - Seite 2
Text: Ralf Thürsam, Bilder Merit Pietzker, Andreas Taubert. Aus: Junge Welt Nr. 227, Freitag, 28. September 1990, Vorlage mit freundlicher Genehmigung von www.mupfelofen.de

Fazit: Wirklich kein schlechter Bericht der Jungen Welt, mit Nora und Georg hat man tatsächlich zwei interessante Menschen befragt, die hier einen Ausschnitt von dem geben, was 1990 mal gewesen ist. Vor allem aus modischer Hinsicht kommt hier viel Wahrheit rüber, Selbermachen ist die Devise, sei es nun aus Mangel an Angeboten oder der Lust etwas selbst zu machen. Damals war man eben noch kreativer, oder musste es sein – je nachdem. Die pessimistische Grundhaltung der beiden passt zwar nicht mehr ganz zur damaligen Situation, denn die war meiner Meinung nach etwas früher, nach dem Fall der Mauer machte sich bei mir jedenfalls sowas wie eine Aufbruchstimmung breit und mit der Lehre begann für mich ein neuer Lebensabschnitt.

Dass es keinen Zusammenhalt und keine Gruppenstrukturen für die beiden gab, dürfte an den beiden selbst nicht am Grufti-Sein gelegen haben. In der Szene sind zwar mehr Sozial isolierte Menschen zu finden als in anderen Szenen, aber das es grundsätzlich keine entsprechenden soziokulturellen Verbindungen gibt, halte ich für ein Gerücht.

Interessanter wird es da nochmal im letzten Teil, denn gehen wir davon aus, das Georg und Nora „von drüben“ sind, kann ich eine gewissen Perspektivlosigkeit nachvollziehen, denn nach jahrelanger staatlicher Führung oder auch Bevormundung fühlt man sich eben fallengelassen. Es ist keiner mehr da, der einem sagt was es tun oder lassen soll. Aus diesem Grund möchte ich die Argumente der beiden für die Grufti-Szene nicht gelten lassen. Das war vielleicht bei den Beiden so, kann aber nicht stellvertretend für den Rest der Republik stehen. Ja, über Tod und Trauer haben wir auch nachgedacht, Resignation vor den Katastrophen der Gesellschaft war auch da, der Wunsch nach Ruhe und Einsamkeit war stark, die Ablehnung in Schule, Beruf und Umfeld haben wir auch durchlebt.

Geheime Rituale, Teufelsbeschwörungen und okkulte Techniken? Ja, die Faszination, die das ganz ausübte, fand ich damals klasse. Wir haben viel ausprobiert und viel Unsinn gemacht. Urnendiebstähle? Grabschändungen? Nein, das wäre auch unlogisch – wir haben die Gräber gemocht, so wie sie waren – wieso hätten wir unsere Refugien zerstören sollen?

Der Bericht lässt viele Fragen zurück, die nichts mit dem Grufti-Sein zu tun haben. Die Szene als Lifestyle hat man schon ganz gut erfasst, die Probleme von Nora und Gregor haben damit aber nichts zu tun.

Einzelnachweise

  1. Das Schloss Belvedere wurde inzwischen wieder restauriert und für Besucher geöffnet, vgl. Artikel bei Wikipedia[]
Ähnliche Artikel

Kommentare

Kommentare abonnieren?
Benachrichtigung
guest
2 Kommentare
älteste
neuste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Manuela
Manuela (@guest_9177)
Vor 13 Jahre

Wie kann ich meinen Mann besser verstehen ?
Er rutscht in die Szene immer weiter rein und gibt mir zuverstehen , das er da Ruhe findet. Ich hab Angst in zuverlieren. Er meint aber auch, das er kein Mitglied wird. In wie weit kann und darf ich ihm vertrauen, da wir auch Kinder haben und sie nicht mit reingezogen werden sollen. Wate auf eine Antwort. Vielleicht kannst du mir helfen.
Manu

Diskussion

Entdecken

Friedhöfe

Umfangreiche Galerien historischer Ruhestätten aus aller Welt

Dunkeltanz

Schwarze Clubs und Gothic-Partys nach Postleitzahlen sortiert

Gothic Friday

Leser schrieben 2011 und 2016 in jedem Monat zu einem anderen Thema