Amphi-Festival 2014 – Zwischen Familienfreundlichkeit und Kinderschutz

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Die Szene wird älter. Seit in den frühen 80ern die Jugendlichen auf die Idee gekommen sind, sich schwarz anzuziehen und merkwürdige Musik zu hören, ist viel passiert. Einige haben die Szene wieder verlassen, andere sind ihr bis heute treu geblieben. Mittlerweile ist sie ein Querschnitt durch die Gesellschaft und durch alle Altersschichten, aus einer Jugendkultur ist eine Subkultur geworden. Es gibt viele Grufties mit eigenen Kinder jeden Alters, die immer noch einen Lebensstil pflegen, der Festival-Besuche mit der ganzen „schwarzen“ Familie einschließt. Das Online-Magazin Gothic-Family.net erfreut sich steigender Beliebtheit und ist mittlerweile auch Partner vieler schwarzer Festivals, auf denen es auch oftmals mit einem eigenen Stand vertreten ist.

Die großen Festivals der schwarzen Szene in Köln, Gelsenkirchen, Hildesheim oder Leipzig müssen sich zwangsläufig mit Fragen des Kinder- und Jugendschutzes auseinandersetzen und Regeln formulieren, um die herrschenden Gesetzesauflagen zu erfüllen. Manche Veranstalter gehen jedoch noch einen Schritt weiter und versuchen, Kinder auch über die Bestimmungen hinaus zu schützen. So kündigte die Amphi-Festival GmbH für 2014 an, keine Kinder unter 6 Jahren mehr auf das Festivalgelände in Köln zu lassen, um diese vor den großen Belastungen durch ein solches Großereignis zu schützen. In der Pressemitteilung vom 31. Juli 2013 heißt es: „Ein Open-Air Festival ist für Kinder stets eine große physische und mentale Belastung, der man vor allem kleine Kinder nur in absoluten Ausnahmefällen aussetzen sollte. Leider häufen sich in letzter Zeit Fälle, in denen auch Kleinstkinder und Säuglinge im Kinderwagenalter auf das Festival mitgenommen werden. Viele Eltern schützen Ihre Kinder zwar mit Gehörschutz oder halten sich nur im hinteren Bereich des Geländes auf, aber leider nicht alle.

Unausweichlich finden es die Einen, denn der Nachwuchs muss geschützt werden. Sie finden das Verhalten der Eltern, die ihre Kinder ungeschützt einer solchen Beschallung ausliefern, verantwortungslos. Bevormundend, finden es die Anderen, denn die möchten sich nicht vorschreiben lassen, was gut und was schlecht für ihre Kinder ist und wie sich zu verhalten haben.

Familie in Schwarz
Gehören solche oder ähnliche Bilder vom Amphi-Festival bald der Vergangenheit an?

Der Blogger und leidenschaftliche Amphi-Besucher Tobikult, der selber Vater eines 2-jährigen Sohnes ist, schrieb dazu in seinem Blog: „[…] heute erreicht mich die Nachricht, dass Eltern mit Kindern unter 6 Jahren nicht mehr mit ihrem Nachwuchs auf das Amphi-Festival in Köln gehen dürfen. Zum Wohle des Gehörs der Kleinen sehen sich die Veranstalter als Anwälte der Kinderohren gegen verantwortungslose Eltern zu dieser Regelung gezwungen. Das klingt alles so bestechend nachvollziehbar und vernünftig! Warum sind wir da nicht schon vor Jahren drauf gekommen? […] Wo kämen wir denn hin, wenn jeder so leben würde wie es ihm passt? Wäre es mit einem elitären Bildungsnachweis, einem Gesundheitszeugnis und einem “True/Untrue”-Test als Bedingung zum Erwerb einer Eintrittskarte nicht viel schöner am Tanzbrunnen? Die Amphi-Veranstalter toppen noch die feuchten Träume der ambitioniertesten Verhaltensnazis!

Für Tobikult scheint es unausweichlich, dass er 2014 nicht mehr nach Köln kommen wird, weil die neue Regelung es ihm unmöglich macht, das Festival als Familie zu besuchen. Sicherlich werden es ihm einige gleichtun, während die, die das Amphi-Festival trotzdem besuchen wollen, sich nun bemühen müssen, eine entsprechende Betreuung für ihr Kind zu besorgen. Auch das Mera Luna Festival in Hildesheim müsste er streichen, denn hier gilt die gleiche Beschränkung. Lediglich zwei größere Festivals der schwarzen Szene, die im nächsten Jahr stattfinden, sind für Familien mit Kindern unter 6 Jahren geeignet. Das Blackfield-Festival lockt im nächsten Jahr erstmals mit freiem Eintritt für Kinder unter 8 Jahren, womöglich profitiert man von der frisch eingeführten Beschränkung in Köln. Das WGT wird wohl auch 2014 wieder mit einem eigens eingerichteten Kindergarten, bei dem man seine Kinder für maximal 3 Stunden in betreute Hände geben kann, zahlreiche Familien anlocken.

Natürlich trifft man mit dieser Regelung alle Familien, auch die, die im Sinne der Veranstalter und ihrer Kinder gehandelt haben. Doch wer legt die Maßstäbe fest? Und vor allem, warum gibt es erst jetzt eine Änderung der Regeln, obwohl das Amphi bereits zum 10. mal stattfindet? Werden Eltern immer rücksichtloser? Spontis nahm Kontakt mit Kai Lotze, einem der Geschäftsführer der Amphi Festival Gmbh auf und sendete auch Stefan Mörkens-Köller, dem Betreiber von die-schwarze-familie.net ein paar Fragen um die Sichtweisen und Hintergründe zu beleuchten.

Der Veranstalter

Mama und Papa
Die Familie pflegt sich und ihren Lebensstil.

Wir können die hitzigen Diskussionen zu diesem Thema daher nicht ganz nachvollziehen„, eröffnet Kai Lotze von der Amphi Festival GmbH sein Antwortschreiben und nennt mit Rock am Ring, Summer Breeze, Melt Festival und dem Chiemsee Reggae viele Beispiele von Festivals, bei denen Kinder unter 6 Jahren keinen Zutritt haben. „Eine Altersbeschränkung für Kinder ist bei Festival-Veranstaltungen seit jeher die Regel – und nicht die Ausnahme. Vergleichbare Einschränkungen sind bei vielen Festivals – egal welcher Ausrichtung – zu finden.“ Seiner Ansicht nach hat sich der negative Trend, dass Eltern ihre Kinder ungeschützt und direkt vor die Bühne mitnehmen, fortgeführt und sogar gesteigert, „…sonst hätten wir die Beschränkung nicht erst im zehnten Jahr eingeführt.“ Als Veranstalter des Festivals sieht er sich in der Pflicht, für das Wohl aller Kinder zu sorgen. „Viele Eltern schützen Ihre Kinder zwar mit Gehörschutz oder halten sich nur im hinteren Bereich des Geländes auf, aber leider nicht alle.  Um dem vorzubeugen haben wir uns entschlossen ab 2014 nur noch Kindern ab einem Mindestalter von 6 Jahren Zutritt zum Festivalgelände zu gewähren.  Im Sinne der Kinder bitten wir alle betreffenden Eltern um Verständnis.

Eine Entscheidung, die natürlich auch die Eltern wie Tobi trifft, obwohl er sich immer ganz selbstverständlich um das Wohl seines Kindes gesorgt hat. Lotze sieht hier nicht das Problem: „Man trifft lediglich die Eltern, die bisher überhaupt Kinder unter 6 Jahren mitgebracht haben, und die innerhalb eines Jahres keine Möglichkeit für eine alternative Betreuung finden können. Nach unserer Einschätzung sprechen wir hier von ca. 10 (von 16.000) Besuchern.“  Tobi ist mit seiner Familie einer dieser Besucher. Offensichtlich geht man bei der Amphi-Festival GmbH auch nicht von der Möglichkeit aus, dass Eltern ihre Kinder mitnehmen wollen und sie nicht nur bei sich haben, weil sie keine Betreuungsmöglichkeiten organisieren konnten. Von einer Bevormundung der Eltern, die nicht in der Lage sind ihre Kinder ausreichend zu schützen, würde Kai Lotze trotzdem nicht sprechen: „Nicht mehr oder weniger [Bevormundung] als bei anderen Regeln und Einschränkungen. Jede Veranstaltung erfordert eine Vielzahl von Regeln und Einschränkungen – zum Schutze der Besucher.“ Man muss sich an dieser Stelle fragen, ob ein Musikfestival überhaupt der richtige Ort ist, um mit seinen Kindern dorthin zu gehen und ob Festivals überhaupt Familienereignisse sein können.

Die Gothic-Familie 

Spielplatz
Der Spielplatz auf dem Amphi-Gelände ist der perfekte Tummelplatz auf dem Festival-Gelände.

Seit 10 Jahren arbeitet die Amphi-Festival GmbH auch mit dem Onlinemagazin „Gothic-Family.net“ zusammen. Die Betreiber des Festivals erkannten damals, dass die Szene auch für immer mehr Familien ein zu Hause geworden ist und fragten an, ob das Magazin nicht an einer Partnerschaft interessiert sei. Stefan Mörkens-Köller, einer der Mitbegründer des Online-Magazins, beantwortete mir stellvertretend ein paar Fragen zu geplanten Verbot 2014.

Er sieht die getroffene Regelung durchaus zwiespältig: „Ich finde nach wie vor, dass der Tanzbrunnen eine der besten Locations ist, die man als Komplettfamilie bei einem Festival besuchen kann. Durch unseren Gothic-Family.Net Stand direkt am Spielplatz, mit dem Ausgang zum Rheinufer mit Spielmöglichkeiten, dem Park direkt dran, durch den „natürliche“ Schallschutz durch den XtraX Stand in der Mitte liegen wir gut geschützt für die Kinderohren […]  Neben den verschiedenen Bastel und Spielmöglichkeiten bei uns am Stand, haben wir ein Stillzelt mit Wickelecke und bieten neben unserem normalen Gehörschutz sogar Peltor Kids-Gehörschutz zum guten Familienpreis an und verleihen ihn sogar stundenweise kostenlos. Dies wurde auch 2013 wieder stark genutzt. Somit bieten wir in Kooperation mit dem Amphi einen guten Rundum-Schutz für alle Kinder. Weswegen etwas verbieten?

Doch auch Stefan sieht ein Problem mit uneinsichtigen Eltern, „weiße Schafe“, wie er sich scherzhaft nennt, beobachtet er auch auf vielen anderen Festivals.  Einen negativen und zunehmenden Trend kann Stefan jedoch nicht wahrnehmen: „Ich muss aber sagen, dass ich in den letzten Jahren immer weniger [Kinder] ohne Gehörschutz sehe […] Die Ordner, die wir teilweise schon von anderen Festivals kennen, schicken die Eltern ohne Gehörschutz direkt zu unserem Stand oder es gibt „was auf die Ohren“ von unseren Eltern, wenn sie eine Familie ohne Schutz sehen. Leider sind ein paar Eltern resistent gegen gute Worte.“

Die einfachste Alternative gegen ein Verbot sieht er darin, dass Kinder und Eltern ohne Gehörschutz einfach nicht auf das Festivalgelände gelassen werden, auch seine anderen Ideen würden das Problem minimieren: „Die Ordner, im Graben achten weiterhin gut darauf und ziehen sonst die Kinder raus, sodass die Eltern sie an der Seite abholen müssen. Konzerte, die ab 18 sind könnten im Staatenhaus gezeigt werden, dass kann man auch gut kontrollieren.

Für Stefan gehören Kinder einfach dazu. Er findet, dass das Amphi genug Möglichkeiten bieten würde, auch Kleinstkinder ausreichend zu schützen. Verbote sind für ihn kein adäquates Mittel gegen das Fehlverhalten einiger Weniger. Auf die Frage, ob man von einer Bevormundung der Eltern sprechen könnte antwortet Stefan:

Wo willst du anfangen die Kinder zu schützen? Wie gesagt, was ist mit TV? Was ist mit Werbeplakate, mit Radio-Stöhnwerbung? Internet? Ich denke, Verbote sind nicht immer der beste Weg. Unter sechs Jahren ist die magische Phase der Kinder so stark, dass sie alles als Kostüm ansehen, wenn sie sich überhaupt für mehr als Mama und Papa interessieren. Viele unserer GFN-Kinder haben mit OOMPH! „Augen auf“ das Zählen gelernt. Dann ab sechs kommen die Fragen „Ist der Frau nicht kalt? Warum leuchten die da vorne?“  Ab 12 versteht man die Texte und hat schon Sexualkunde in der Schule. Da fragt man sich, was manches Gebären bzw. Texte auf der Bühne sollen.  Also wo fange ich an zu schützen? Und wo leidet die größere Menge, weil ein paar wenige sich falsch benehmen? Ich sag ja auch nicht, dass Knicklichter verboten sein müssten oder Rumschmieren mit roter Farbe (haben meine im KiGa auch gemacht), aber es sollte begrenzte Bereiche geben für bestimmte Angebote, wie auf anderen Messen. Auch dies ist auf dem Amphi am besten machbar.

Räumlich stark beschränkte Gelände ohne entsprechenden Platz sind sicherlich nicht der richtige Ort für Kleinstkinder. Die zweite Reihe bei einem Konzert der Broilers ist sicherlich nicht der richtige Ort für Kinder, auch nicht mit bunten Ohrschützern. Das Amphi bietet neben den schwarzen Festivals in Gelsenkirchen und Leipzig ausreichend Platz. Bleibt die Frage im Raum, ob ein Festival überhaupt der richtige Platz ist um für die ganze Familie aus Ausflugsort zu dienen. Bedeuten Kinder nicht zwangsläufig einen Wechsel des Lebensstils? Die Gothic-Szene ist im Familienalter, mittlerweile versammeln sich auch die Kinder und Jugendlichen der Gruftie-Eltern unter dem 30-jährigen schwarzen Schirm.

Zwischen Kinderschutz und Familienfreundlichkeit

Kinder
Familienleben am Amphi-Eigenen Strand in Köln

Nur damit das mal geklärt ist. Kinderohren sind generell nicht empfindlicher als die der Erwachsenen. Macht ja auch keinen Sinn, denn wer den Lärm einer schreienden Kindergartengruppe erlebt hat, empfindet ein Konzert von KMFDM als Erholung. Es ist die Dauer der Beschallung, die das Gehört schädigt. Quellen? Bitte: Baby und Familie: Wie viel Lärm vertragen Kinder? – Wer mehr ins Detail gehen möchte, dem sei ein Dossier mit dem Titel „Lärm- und Gehörschutz ist (k)ein Buch mit sieben Siegeln“ der Musikwoche ans Herz gelegt und wissenschaftlich geht es mit Wolfang Babisch vom Umweltbundesamt weiter: „Lärmwirkung bei Kindern und Erwachsenen“ Und ja, ich habe sie mir alle durchgelesen.

Es ist die Dauer der Beschallung, die ein Gehör schädigt. Die fehlende Möglichkeit dem Lärm auszuweichen und die oftmals viel zu lauten Konzerte, die die vorgeschriebenen Grenzwerte überschreiten. Kinder und Eltern sollten sich gemeinsam schützen, die Vorbildfunktion erfüllt immer seinen Zweck.

Vielleicht sollten die Veranstalter des Amphi ihre Entscheidung überdenken und für ein gesundes Miteinander sorgen. Das Wave-Gotik-Treffen, das Blackfield-Festival und die „Spectaculum„-Reihe von Gisbert Hillert scheinen die letzten Bastionen familienfreundlicher Veranstaltungen zu sein, die etwas für alle Mitglieder der Familie bietet. Es gibt ausreichend praktikable Vorschläge dem Problem Einhalt zu gebieten. Verbote können und sollte keine Lösung sein.

Stefan Mörkens-Köller fasst treffend zusammen: „Schließlich wollen wir ja alle, dass die Szene weiterlebt und sich auch erneuert. Wo wären wir ohne Nachwuchs, ohne neue Hörer der Musik, ohne heranwachsende Besucher und somit Ticketkäufer? Ist aber im Endeffekt eine Entscheidung der Veranstalter, die haben das Hausrecht. Nur der Passus „familienfreundlich“ bekommt dann einen faden Beigeschmack und bei uns haben sich schon einige Familien gemeldet, die ab 2014 andere Festivals aufsuchen werden. So verliert man zahlende Besucher und potentielle zukünftige Konsumenten.

Weil wir es wissen wollen – Das zweite Leben der Christiane F.

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Die Zutaten sind raffiniert ausgewählt: Man nehme die Antiheldin der 80er Jahre, Deutschlands bekanntesten Junkie, Christiane Felscherinow und mische sie mit der Autorin und Gewinnerin eines Grimme-Online-Award für crossmediale Konzepte, Sonja Vukovic. Man koche die ganze Geschichte zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Das Ergebnis erscheint schmackhaft und passt zum Zeitgeist wie die Faust aufs Auge: „Christiane F. – Mein zweites Leben“ – Was passierte in den letzten 35 Jahren? Verfeinert mit vielen Anglizismen wie Social Media, Marketing und Charity findet das „Second Life“ der Christian F. auch im Internet statt. Sie betreibt einen eigenen Blog, hat eine Stiftung ins Leben gerufen und ist in vielen Medien präsent.

Eine ganze Generation ist mit der Geschichte „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ aufgewachsen und gereift. Für Einige wurde Christiane zur Kultfigur, zu einer Ikone des Underground und für Andere ein Mahnmal gegen den Drogenkonsum. Viele, die das Buch lasen und in den 80er den Film sahen, sind nun erwachsen und immer noch neugierig, was aus Christiane geworden ist. Als berühmter Junkie wird sie in den 80ern in Künstlerkreisen zur Muse, nach dem gleichnamigen Film von Bernd Eichinger reist sie nach Los Angeles, lernt David Bowie kennen und kommt schließlich bei einer Schweizer Verleger-Familie unter. Sie geht zurück nach Berlin, bekommt einen Sohn und kämpft immer wieder mit Entzügen und Rückfällen. 2008 verlor sie das Sorgerecht für ihren Sohn, das Jugendamt brachte ihn zu einer Pflegefamilie nach Brandburg. Zwei Jahre später erhielt sie das Sorgerecht zurück, entschloss sich aber dazu, ihren Sohn in der Pflegefamilie zu lassen.

Christiane Felscherinow lebt heute davon, Geschichten zu erzählen und Geschichte zu sein. Tantiemen aus Buch und Film finanzieren immer noch ihr Leben. Sie lebt von ihrer Offenheit, ihrer Naivität und dem Rest Natürlichkeit, den sie sich nach all den Jahren immer noch bewahrt hat. Sie lebt, weil sie Glück hatte. Ihren Körper zerstörte sie mehrfach, sie leidet unter eine irreparablen Leberschädigung und ist immer noch auf Methadon angewiesen.

Natürlich habe ich mir das Buch bestellt. Ich bin einfach zu neugierig, um nicht zu erfahren, was aus dem Mädchen geworden ist, das mir damals so lebhaft vermittelte, die Finger von den Drogen zu lassen. Als ich diesen Satz gerade geschrieben habe, fiel mir auf, dass sie mich auch heute noch davon abhält. Ihr Leben ist immer noch ein Mahnmal. Im Internet und bei Facebook lese ich viele Respektsbekundungen und warmherzige Worte. In einem Blog-Artikel hat sie einige davon zitiert: „Möge es dir gelingen, dein Leben weiterhin so gut zu meistern, wie du es bisher gemacht hast.“ – „Ich hoffe, du bekommst vielen, lieben Zuspruch und kannst deinen Weg so weitergehen.

Ich bin verwirrt. Ihr Leben gemeistert? Ihren Weg so weitergehen? Ich finde Christiane ist ein Glückskind. Ihr ganzes Leben wurde von anderen Menschen zusammengehalten. Sie hat Glück gehabt, dass sich zwei Autoren um ihre Geschichte bemühten, sie hat Glück gehabt, heute 51 Jahre alt zu sein. Für mich ist sie immer noch ein abschreckendes Beispiel für ein Leben mit vielen unglücklichen Entscheidungen. Aber welches Recht habe ich schon, darüber zu urteilen was ein gutes und was ein schlechtes Leben ist?

Ja, ich werde dieses Buch lesen. Es interessiert mich einfach, was sie zu erzählen hat. Vielleicht steigert es auch meine Selbstzufriedenheit, wenn ich davon lese, wie es ihr ergangen ist. Für andere Leute ist das vielleicht eine Steigerung der Sehnsucht nach einem alternativen Leben, in dem man nicht an morgen denkt. Vorbild für eine Drogenkarriere? Mir persönlich ist das schleierhaft, doch offensichtlich gab es viele, die Christiane nacheiferten. In einem Blog-Artikel appelliert sie an ihre Leser:

Vielfach lese ich von euch auch, dass ihr ebenfalls abhängig gewesen oder immer noch seid – manchen machte meine Geschichte offenbar Mut oder bestärkte sie in dem Wunsch, nicht auf die Schiefe Bahn zu geraten, so wie es in den Posts oben beschrieben wird. Doch leider lese ich auch immer wieder, dass Leser von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ so etwas wie Neid auf mich verspürten, Ehrfurcht, Faszination – und dass sie mir nacheiferten und viele Jahre ihres Lebens an die Opiatsucht verloren. […] Es ist sehr schwer, mit dieser Verantwortung zu leben. Ich weiß, dass ich nicht schuld bin. Aber ich fühle mich verantwortlich. Darum möchte ich schon jetzt, so früh wie möglich, und immer wieder sagen: Nehmt euch kein falsches Beispiel!

Um den viralen Kreis zu schließen, hat man sogar ein Video inszeniert. Darin beschreibt sie die eigene Intention, ein Buch über ihr Leben zu veröffentlichen kurz und prägnant: „...dann müssen wir das einfach nochmal kurz erzählen, was passiert ist seitdem, weil die Leute das wissen wollen, scheint mir.“

 

Rückblick: Young & Cold Festival 2013

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Jung fühlte ich mich am Sonntagmorgen überhaupt nicht mehr und von „kalt“ kann auch keine Rede sein. Ziel verfehlt? Eins nach dem anderen. Der persönliche Auftakt zum ersten Young & Cold Festival in Augsburg war alles andere als reibungslos. Die kleinen Symbole auf dem Navigationssystem hätten mich stutzig machen sollen. Das konnten doch nicht alles Baustellen auf dem Weg nach Augsburg sein! So begann meine Reise um 11:00 in Mönchengladbach und endete 7,5 Stunden später unweit des Augsburger Doms. Was für eine Tortur. In meinem bei airbnb gebuchten Zimmer hatte ich noch kurz Zeit, einen Kaffee zu trinken, mit den Gastgebern zu sprechen und mich für das anstehende Abendprogramm frisch zu machen. Mitten in einem Augsburger Industriegebiet liegt die Ballonfabrik, in der tatsächlich einmal Ballone gefertigt wurden, bevor sie 2010 als Kulturzentrum reanimiert wurde. Auguste Piccard, so verrät mir Wikipedia, startete von hier am 27. Mai 1931 einen Stratosphärenballon, der die Weltrekordhöhe von 15.785 Metern erreicht.

82 Jahre später versammeln sich vor dem Gebäude merkwürdige Gestalten, die vom Lichterschein eines brennenden Fasses in eine schaurig undergroundige Atmosphäre getaucht werden. Jawohl, hier bin ich richtig. Ich werde freundlich von Marcel begrüßt, den ich vom Interview zum Festival kannte, bekomme ein Bändchen, einen hübschen Button in Fledermausform und einige Flyer in die Hand gedrückt. Weiter geht`s. Innen ist die Ballonfabrik überschaubar, eine kleine Bühne, eine Bar und ein paar Sitzgelegenheiten machen einen durchaus passenden Eindruck. Reichlich Schwarzlicht verzeiht keine Schuppen, lediglich der obligatorische Nebel, in dem Grufties bekanntlich am liebsten tanzen, fehlt. Das ist, so erfahre ich später, ein Tribut an die Sicherheit. Nebelmaschinen bleiben für das Wochenende tabu. Vielleicht aber auch gar nicht schlecht, denn so genieße ich gleich die klare Sicht auf die erste Band des Abends, The Moonlets.

The Moonlets | CC by-nc-sa von Ray Montag
The Moonlets: Introvertierter und tiefgründiger Auftakt | CC by-nc-sa von Ray Montag

Ich spare mir Einordnungsversuche und komme zum Wesentlichen. Obwohl die Band mit Barbara am Schlagzeug und Kris an der Gitarre und am Mikrophon etwas unfertig wirkt, ist es erstaunlich, welches Flair die zwei mit ihrer Performance versprühen. Die durch zahlreiche Effektgeräte verzerrte Gitarre erinnert gelegentlich an Joy Division und auch vom Stil her lassen sich Verwandschaften entdecken. Der Sound wirkt rau und ungeschliffen, kantig und doch eingängig. Vermutlich ist es die Introvertiertheit der Protagonisten, die das Publikum trotz Aufforderung davon abhält, sich zu bewegen, vielleicht aber auch, weil es die erste Band immer schwerer hat gegen die anfängliche Steifheit anzukämpfen.  Anspieltipp: Assassins on the Sidewalk

Paradox Sequence - Augsburg 2013
Paradox Sequence: Charismatischer Sänger sorgt für Überraschung | CC by-nc-sa von Ray Montag

Während die Helfer ein mit Elektronik vollbepacktes Brett auf die Bühne tragen, wird es lockerer und etwas voller in der Ballonfabrik. Offensichtlich hat die Ein-Mann-Band Paradox Sequenz gleich einen eigenen Fanclub mitgebracht. Nicht weiter verwunderlich, denn Fantasi Wagner, der „Ein-Mann“ hinter der Band, bedient auch bei der Band „Nachtanalyse“ die Regler und ist zudem noch ein fester Bestandteil der Augsburg-Connection (dazu später mehr). Schon mit den ersten Tönen ist klar, dass hier ein Waver mit Herzblut bei der Sache ist. Es ist sowieso sehr erstaunlich, wie der anfangs nervöse Fantasi mit seiner Musik an Selbstsicherheit gewinnt und schon nach dem ersten Song auftaut wie ein Eiswürfel im Kaffee. Virtuos bedient er die unzähligen Regler, singt ins Mikrophon und bewegt sich zu seinem Minimalwave. Eine großartige Ausstrahlung. Das Publikum folgt der Energie auf der Bühne und tanzt zu Stücken wie dem Anspieltipp: Digitale Astronauten.

Tiefenstadt - Augsburg 2013
Tiefenstadt: Gelungene Bereicherung der Festival-Bandbreite | CC by-nc-sa von Ray Montag

Mit der Band Tiefenstadt ändert sich das musikalische Klima schlagartig. Die Zuhörer werden durch Gitarre, Bass, Schlagzeug und Keyboard und von einem tiefen Gesang  in das Genre „Goth Rock“ entführt. Martin Harlov, Robert Tale, Robert Herold und Michael Schlössinger nehmen die Zuhörer nahtlos vom Wave zum Gothic mit und können mit solidem Handwerk mehr als überzeugen. Hier beherrscht jeder sein Instrument, ohne sich diesem selbstverliebt  hinzugeben. Das die punkige Attitüde ein wenig verloren geht, ist eine willkommene Abwechslung und sorgt für einen Publikumswechsel vor der Bühne. Objektiv eine Bereicherung für das Festival und seine Bandbreite. Ich persönlich befinde mich aber in einer anderen Stimmung und suche nach ein paar Songs das Gespräch mit einige angereisten Freunden außerhalb der Ballonfabrik. Anpsieltipp: Menschlichkeit

Pünktlich zum Auftritt von Eycromon finde ich mich wieder vor der Bühne ein, zugegebenermaßen, weil es mir auch wegen zu luftiger Kleidung ein wenig fröstelt. Die sechs-köpfige Band füllt die Bühne vollständig aus und präsentiert sich äußerst professionell. Die Songs des Sets sitzen perfekt und die musikalische Mischung aus Synth-Pop, Elektro und Rock vermittelt Eingängigkeit. Hier stimmt jede Bewegung, diese Band ist bereit für größere Bühnen!

Eycromon - Augsburg 2013
Eycromon: Professionell und solide, leider nicht mein Geschmack | CC by-nc-sa von Ray Montag

Ich bin positiv überrascht, dass sie das Young & Cold Festival mit ihrem Auftritt erweitern und so das musikalische Spektrum ausdehnen. Für mich wirkt das Ganze etwas zu perfekt, die Band vermittelt wenig Spielfreude und Natürlichkeit. Für mich ist die Musik zu Schlager-lastig, wirkt austauschbar und aufgesetzt. Ich würde mir wünschen, dass man sich weniger am Mainstream orientiert, sondern einen eigenen Stil zum Individualismus entwickelt. Anspieltipp: Spiel mit mir

Der Freitag geht nahtlos in eine Tanznacht über. Ich unterhalte mich noch blendend mit Katharina und Parm vom Schemenkabinett und folge meinem Bewegungsdrang, um bei einigen Songs noch meine letzte Energie zu verschleudern. Ein Song, den ich währenddessen höre, bleibt mir in Erinnerung: „Scan mich ein“. Ich nehme mir fest vor herauszufinden, von wem der ist.

Zunächst fordern aber 7 Stunden Autobahn-Stress ihren Tribut, Müdigkeit übermannt mich und ich streiche die Segel und lasse mich totmüde ins Bett fallen. Morgen locken Augsburg mit eine Sightseeing-Tour und natürlich eine lange musikalische Nacht mit dem zweiten Tag des Young & Cold Festivals 2013, der diesmal schon um 17:00 beginnt.

Samstag

Ich komme natürlich viel zu spät, weil mich meine Friedhofstour in einem Teil von Augsburg zurückgelassen hat, den ich ohne Navi offensichtlich nicht verlassen kann. Letzteres hat natürlich seinen Geist aufgegeben, mit anderen Worten: Es will nicht mehr. Erst nach zahlreichen Flüchen, einem Neustart per Akku-Entfernung und dem Befahren einer Bus-Spur ließ sich das Gerät davon überzeugen, mich an den richtigen Ort – oder besser auf den rechten Pfad zu führen, denn in der Umgebung der Ballonfabrik kannte ich mich ja schon ein bisschen aus. Glücklicherweise verzögerte sich auch der Auftritt von Corps Noir, so dass ich noch in den Genuss einiger Lieder kam.

MassendefeCt - Augsburg 2013
MassendefeCt: Spielfreude pur | CC by-nc-sa von Ray Montag

Spährisch – ein Wort, das mich den ganzen Auftritt lang begleitet, denn man tauscht  wavige Rythmus-Orgien gegen schwere Synthie-Teppiche. Wenn man sich darauf einlässt, werden daraus fliegende Teppiche und das wohlige undergroundige Gefühl, das am Vorabend durch die Moonlets eröffnet wurde, stellt sich wieder ein und sollte mich den ganzen Abend nicht mehr verlassen. Charles, Dav und Phil sind mittlerweile schon auf alle Underground-Festivals aufgetreten, darunter auch auf dem „Gothic Pogo Festival“ in Leipzig und dem „Drop Dead Festival“ in Berlin und haben sich dabei in die Herzen der Zuhörer gespielt.  Anspieltipp: Loneliness

Eine Überraschung war dann die Band MassendefeCt, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen die „ausgefeilte“ Bühnentechnik, bei der auch später ein guter alter Gameboy den Ton angab, sondern vor allem diese unglaubliche Spielfreude, die der Sänger der Band vermittelte und die durch die Perfomance des „Soundgespanns“ nur noch abgerundet wurde. Ich meine, da kommt dieser mitt-dreißiger Brillenträger mit 3-Tage-Bart auf die Bühne, dem ich bei einer flüchtigen Begegnung nicht zugetraut hätte, „cool“ zu sein und macht MassendefeCt zu einem der spielfreudigsten Auftritte des Abends. Flankiert durch die diabolisch lächelnde „Pause-Taste“ und einem kühl professionellen „Vorspul-Taste“ entwickelte sich die Band schnell zu eine Überraschung. Der Sound im minimalwavigen 8bit-Gewand kommt demnach so erfrischend Retro rüber, dass es einfach ansteckt und man einem gewissen Bewegungsdrang nachgeben muss. Anspieltipp: Plastik

Nachtanalyse
Nachtanalyse: „Scan mich ein“ wurde mein persönlicher Ohrwurm | CC by-nc-sa von Ray Montag

Die zweite Überraschung folgte gleich im Anschluss, denn mit NachtAnalyse wurde das Geheimnis des Vorabends gelüftet. „Scan mich ein“, das mir DJane Sheatle am Vorabend zum tanzen servierte, stammt nämlich von NachtAnalyse und bewegten mich in der Live-Version erneut. Und da hätten wir sie wieder, ein Teil der Augsburg-Connection. „Babsi per Du“ am Mirkrophon, „Daniel Düseltrieb“ und „Fantasi Wagner“ an den elektronischen Geräten. Die haben nicht nur beim Young & Cold Festival ihre Finger im Spiel, wie ich in einem Artikel bereits erwähnt habe, sondern sind auch Teil einer rund 30 Personen starken Augsburg-Connection, wie mir der „Kopf“ Marcel bei einem Lagerfeuer-Gespräch erzählte. Irgendwie faszinierend, wie viel kreative und organisatorische Energie dieser Freundeskreis hat. Ich habe ihn kurzerhand „Augsburg-Connection“ getauft, weil auch die regelmäßig stattfindenden Deca Dance Partys in der Augsburger Ballonfabrik stattfinden.

Zurück zu NachtAnalyse. Die Band vereinigt 3 talentiert Individuen zu einem delikaten Stücke Wave, das die 80er ohne Pause in die Neuzeit überführt und den Wave mit Sahne und Kirsche garniert. Der Gesang ist ausgezeichnet, die Musik ist eingehend-tanzbeinaktivierend und auch die Texte sind trotz ihrer Einfachheit hintergründig komplex. Doch was es ausmacht, ist diese Punk-Attitüde, dieses Selbermachen-Gen, diese Natürlichkeit. Der Auftritt war mit einigen technischen Patzern garniert, die meinen Eindruck nur noch bekräftigten, am richtigen Ort der passenden Band zu lauschen.

Ben Bloodygrave - Augsburg 2013
Bloodygrave: Sympathischer Dachschaden | CC by-nc-sa von Ray Montag

Stichwort Punk-Attitüde. Bloodygrave aus Berlin sieht nicht nur aus wie ein Punk und benimmt sich wie einer, seine Musik ist ebenfalls Punk. Elektro-Punk. Nie habe ich jemand mit einem größeren Dachschaden auf der Bühne stehen sehen und nie einen charmanteren. Während die Energie vorangegangener Auftritte langsam ins Publikum kippte, schüttete Ben von Bloodygrave das Ganze Eimerweise in die Menge. So dauerte es auch nicht lange, bis sich das Publikum anstecken ließ und wild bis ausgelassen tanzte, während Ben auf der Bühne mit der Technik und seinem Ego kämpfte. Als besonderen Bonus habe ich in seinem YouTube Channel auch noch ein Video gefunden, das das Festival nochmal aus seiner Sicht Revue passieren lässt und am Ende auch einige Auftritte einfängt. Anspieltipp: Minimal

 

 

Kinder aus Asbest
Kinder aus Asbest: Nicht nur das T-Shirt erinnert mich an Joy Division | CC by-nc-sa von Ray Montag

Zeit, die erhitzten Gemüter abzukühlen. Wie gut, dass die „Kinder aus Asbest“ die Bühne für sich beanspruchen. Der sympathische und introvertierte Schwede erinnert mich – und das liegt nicht an seinem Joy Division T-Shirt – an Ian Curtis, wie er da so völlig verloren hinter seinem Synthesizer steht und die Klangteppiche produziert, die bei manchen Besucher die Augen schließen und den Körper in sanfte Wellenbewegungen versetzt. Es ist Musik, um sich darauf einzulassen, nicht um sie lapidar beim Staubsaugen zu hören. Ich glaube, wenn man nach einer Quersumme aus allen Musikstilen und Strömungen der schwarzen Szene sucht, sollte man sich mal schwedisch einkuscheln und den Oldschool-Minimalsynthwave auf sich wirken lassen. Übrigens hat er das gesamte Set auf dem Young & Cold Festival zum kostenlosen (oder für eine Spende) Download zur Verfügung gestellt. Man kann beim Hören wohl am besten nachvollziehen, was ich meine. Anspieltipp: The Young & Cold Tracks

Lebanon Hanover - Augsburg 2013
Lebanon Hanover: Nicht nur auf der Bühne ein tolles Paar

Nun ist die Ballonfabrik randvoll, als Larissa Iceglass und William Maybelline die Bühne betreten und mit Lebanon Hanover den ersten Headliner des Festivals markieren. Ich mag zwar keine Genre-Reiterei, doch wenn ich Cold Wave irgendwie in Szene setzen müsste, dann so. Schon mit den ersten Klängen und vor allem mit ihrem unterkühlten und doch visuell starken Auftritt fangen die Beiden ihr Publikum ein. Ihre Gesichtszüge lassen dabei nicht erkennen, ob sie sich gerade freuen, traurig sind oder sich langweilen. Irgendwie gruftig. Es rundet die Sache nur noch ab, dass ich sehe und erfahre, dass die Beiden auch im privaten Leben ein Paar sind. Wusste ich noch nicht und es ist irgendwie wunderschön anzusehen, wie sie ihr Leben in solch einer kreativen Zweisamkeit verbringen. Aber durchaus auch anstrengend. Leider hat der Sound nicht mehr so wirklich mitgespielt und so sorgten ein paar unangenehme Rückkopplungen für gelegentliche störende Effekte, die am positven Gesamteindruck jedoch nichts änderten. Tolle Band, tolle Musik. Anspieltipp: Gallowdance

Noch Bevor Velvet Condom den Abend abschließen, betritt das Organisations-Team des Young & Cold Festivals die Bühne, um sich vorzustellen, das nächste Jahr anzukündigen und um einfach nur sympathisch zu sein. Denn das sind sie. Selten haben sich Veranstalter so engagiert und offen gegeben wie hier und haben allen Widrigkeiten zum Trotz ein tolles Festival auf die Beine gestellt. Dass der Essensstand nicht auftauchte, weil er Besseres vorhatte und nicht vertraglich gebunden war, sorgte außer für gelegentlich knurrende Mägen für nichts weiter. Keine bösen Stimmen, keine enttäuschten Gesichter und kein Gemecker. Die Getränkeversorgung blieb gesichert und ein lokaler Pizzadienst freute sich über die spontanen Mehr-Einnahmen.

Velvet Condom - Augsburg 2013
Velvet Condom: Krönender Abschluss | CC by-nc-sa von Ray Montag

Bei den vielen und guten Gesprächen am Rande des Festivals waren wir uns einig, dass es ohne Headliner wie Lebanon Hanover und Velvet Condom schwer geworden wäre, Publikum außerhalb der „Augsburg-Connection“ anzusprechen. Und Velvet Condom bewiesen – genau wie Lebanon Hanover -warum das so ist. Die Franzosen bilden die neue Speerspitze der aktuellen Wave-Bewegung. Treffenderweise möchte ich ihre eigene Einschätzung von ihrer Internetseite aber den Vorzug lassen: „They consider their music as dirty-pop or weird-wave played by dead mannequins. As if Synth PoP would meet dark noisy guitars and teenage angst lyrics.“ Die Band ist visuell unspektakulär, dafür handwerklich solide und interpretationsfähig. So machten die ersten vertrauten Klänge aus dem sowieso gut gelaunten Publikum einen Hexenkessel. Auf Schminke und Hairstyling achtete nun niemand mehr. Schnell zeigte die Band, warum sie Headliner ist. Ihre Musik ist abwechslungs- und facettenreich und wechselte zwischen Tanzbarkeit und melancholischem Dahinschweben. Ein würdiger Abschluss! Anspieltipp: Samt und Stein

Mehr über das Young & Cold Festival?

Auf der Facebook-Seite des Festivals werdet Ihr auf dem Laufenden gehalten, was das 2. Young & Cold Festival in Augsburg anbelangt. Diesmal soll es an zwei Standorten stattfinden und es werden mehr Karten verfügbar sein. Die tollen Bilder zu diesem Artikel wurden netterweise von Ray Montag von Gothsick unter eine CC-Lizenz gestellt, so dass ich sie hier veröffentlichen kann. In seiner Galerie finden sich unzählige Schnappschüsse von vielen Besuchern! Vielen Dank auf für den Schnappschuss mit Katharina und Parm vom Schemenkabinett.

Jugendkultur der 80er: Zwischen Protest und Pessimismus

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Schon wieder die 80er. Vieles von dem, was damals passierte, wird heute erst aufgearbeitet, wiederholt sich oder wurde immer noch nicht verstanden. Die nukleare Gefahr ist immer noch im Tagesgeschehen zu finden, Kriege in Schwellenländern sind allgegenwärtig und in manchen Städten gibt es kaum noch bezahlbaren Wohnraum. Die Jugend steht immer mehr unter Leistungsdruck, Burn-Out ist zur Volkskrankheit mutiert. Doch es ist nicht alles schlecht geblieben, die Mauer ist gefallen und Deutschland ist wieder vereinigt. Gestern erinnerte ein Feiertag an diesen historischen Moment. Erinnerungen. Und genau wie Ronny vom wiederauferstandenen Kraftfuttermischwerk gebe ich mich dem Schwelgen in Erinnerungen und dem Radiofeature „Zwischen Protest und Pessimismus“ des Deutschlandradios hin, der auch mich dazu anstiftete, einen Beitrag zu schreiben.

Wie war das denn damals, als wir die Jugendlichen waren und zu einer Zeit groß wurden, der man heute mit so vielen Stimmen nachtrauert? Die Welt war viel kleiner. Es gab kein mediales Dauerfeuer, kein Twitter, keine Facebook und überhaupt kein Internet. Es gab mehr Platz für Ängste und Sorgen und mehr Zeit für Protest und Rebellion. Wenn man denn nur wollte, es waren viele da, die genauso fühlten. Die Schule war Informations- und Mitmachbörse. Irgendwann hast du dich einer Gruppe angeschlossen, oder wurdest schlichtweg dazu gezählt. Mit großer Brille und Aktenkoffer begann ich meine Karriere als Klassenbester im Informatikunterricht am C64. Ich war Eigenbrötler und Einzelgänger, die Gruftis fand ich cool, denn allein durch ihr Äußeres schreckten sie ab.

Gabi: Die äußeren Aspekte der Grufties der 80er war‘ n hauptsächlich eben schwarze Kleidung, aber auch eben noch dieser New Wave Stil mit Rüschen und Samt, auch so ’n bisschen Richtung Mittelalter, aber eben auch so ’n bisschen Punkmischung. Von der Einstellung her – die die ich kannte – war‘ n schon auch eher diese ruhigeren Leute, die gerne gelesen haben, sich zurückgezogen haben und eigentlich n sehr ruhigen, friedlichen Eindruck gemacht haben.

Aktiver Protest war nicht meine Sache, ich wollte nur meine Ruhe und zu einer coolen Gruppe gehören. Als man den Salat aus dem Supermarkt entsorgte, weil die Wolke von Tschernobyl ihn verseucht haben könnte, war sowieso alles zwecklos. Kinder von Traurigkeit waren wir jedoch nicht, wir schufen uns einen eigenen Mikrokosmos aus Musik und Themen, für die sich sonst niemand interessierte. Das machte uns besonders und wir fühlten uns elitär, weil wir über Mythologie Bescheid wussten und auch schon mal Gläser gerückt haben.

Immer wieder werde ich gefragt, wie das denn früher so war, in den 80er. Ich erzähle dann immer von meiner kleinen Welt, die völlig unspektakulär einen linearen Verlauf hatte. Schule, Ausbildung, Bundeswehr, Beruf. Und nebenbei ein bisschen Jugend mit einem Hauch von Rebellion und das zu einer Zeit, in der eigentlich schon wieder alles gelaufen war. Das Radiofeature vermag ein viel intensiveres Bild von dieser Zeit zu spinnen, weil man sich auf das Drumherum einlassen muss und kein visuell vorgefertigtes Bild geliefert bekommt. Meinhard Stark hat ein zeitgemäßes Bild gezeichnet und würzt viele O-Töne mit einer feinsinnigen Musikauswahl. Nehmt euch die Zeit in eure eigene Jugend oder in Zeit fallen zu lassen, die uns heute in so vielen Lebensbereichen wieder einholt.

Die 80er sind nicht Synonym für Protest. Höchstwahrscheinlich gibt es heute genau soviel davon, wie früher. Er wird anders wahrgenommen und geht oftmals im medialen Gewitter verloren. Die 80er sind auch nicht Synonym für Pessimismus. Die Jugend ist eine Zeit der Emotionen, hier wird alles extremer wahrgenommen, als es häufig ist. Man gibt sich der Freude und auch dem Pessimismus hin. Früher war immer jemand da, dem es genauso ging. Heute wirken wir vielleicht optimistischer, weil der Pessimismus keinen Platz und kein Gehör mehr findet.

Heute ist Weltvegetariertag – Tod dem Fleisch!

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Für die Fleischlobby ist es ein schwarzer Tag, denn heute ist Weltvegetariertag. 1977 führte die „North American Vegetarian Society“ diesen Tag, der immer am 1. Oktober gefeiert wird, bei einem Kongress in Schottland ein. Ziel war es, die Vorzüge der vegetarischen Ernährung bekannter zu machen. Offensichtlich hat es geklappt, denn mittlerweile gibt es rund 7 Millionen Vegetarier in Deutschland, das etwa 8% der deutschen Bevölkerung.  800.000 ernähren sich sogar Vegan, verzichten also auf alle tierischen Produkte.   Ein Großteil der fleischfreien Bevölkerung sind übrigens Frauen, was sich in Zukunft auch nicht ändern wird, rebellieren die Männer doch gerade gegen die Emanzipation um den Grillabend mit den Jungs vor dem Aussterben zu retten. Die „Gothics“, wie die schwarze Szene auch genannt wird, erfreut sich schon seit Jahren an einem sehr hohen weiblichen Anteil und ist damit eine der wenigen emanzipierten (ehemaligen) Jugendkulturen, in der es einen recht hohen Anteil Vegetarier zu geben scheint.

Auch wenn der Titel ein flammendes Pamphlet für eine fleischfreie Ernährung verspricht, werde ich nicht den moralischen Zeigefinger ausstrecken, sondern überlasse jedem die Entscheidung selbst. Einen Haken gibt es jedoch, denn Entscheidung für oder gegen eine fleischfreie Ernährung müssen mit einfachen Informationen untermauert werden. Dabei spielt es keine Rolle, welcher „sozialen Schicht“ man entspringt, Fleisch sollte kein Brot der Unterschicht werden. Lebensmittelskandale, die sich in der Vergangenheit hauptsächlich um Fleisch drehten, dürften an keiner Schicht vorbeigegangen sein. Vorurteile sind schnell aus dem Weg geräumt. In Deutschland muss 2013 niemand mehr Fleisch essen, um gesund zu bleiben und seinen Körper mit allen notwendigen Nährstoffen zu versorgen. So einfach ist das.

Und wer einmal auf den „Geschmack“ gekommen ist, wird schnell differenzieren, wie weit er mit seinem Lebenswandel gehen möchte. Der Rest kommt von ganz alleine. Wenn immer mehr Verbraucher auf Chips, Weingummi oder auch Fruchtsäfte verzichten, in denen versteckte tierische Bestandteile lauern, wird die Industrie reagieren. Vielleicht kann ich dann endlich wieder ohne schlechtes Gewissen meine geliebten britischen Weingummi-Spezialität verschlingen. 

Sind Gothics die besseren Erdlinge? Keine Ahnung, ich habe nur eine Überleitung gesucht. Die Dokumentation „Earthlings“ dient als extremer Gedankenanstoß (nichts für schwache Nerven und empfindliche Seelen) für die, die sich noch nicht entschieden haben, wie sie sich in Zukunft ernähren wollen. Der 1. Oktober ist ein guter Tag, seine Entscheidung oder seine gewohnte Lebensweise in Frage zu stellen. Ich bin übrigens Vegetarier geworden, weil es für unhöflich hielt, neben meiner Vegetarierin Orphi Eulenforst ein Steak zu verdrücken. Mittlerweile ist Überzeugung dazu gekommen und die Bestätigung, das richtige getan zu haben, denn seit dem Tag, an dem ich auf Fleisch verzichte, habe ich nicht mehr mit einer Erkältung im Bett liegen müssen.

Spontis Wochenschau #10/2013

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Früher war alles besser!“ – Ich habe die Nase voll und meine Fingerspitzen sind blutig getippt. Was war denn nun besser? Also früher? Okay. Zugegeben, früher hat man wirklich noch mehr selbst gemacht um sein Outfit zu kreieren und mitunter alle Register gezogen um an Szenetypische Accessoires zu kommen. Die Modeketten hatten „Gothic“ noch nicht als gewinnbringende Produktpalette entdeckt, es gab noch kein Internet und auch Szene-Shops oder große Festivals für die schwarze Szene waren eher mit Seltenheitswert zu bertrachten. Ich haben den Eindruck, dass die Veteranen, die dem Nachwuchs heute erzählen, dass es „früher“ ganz anders, viel toller und schöner war einfach der Zeit hinterhertrauern, in der sie jung waren. Heute sind sie fest eingeschlossen in die Blase des Alltags, beruflich und familiär verpflichtet. Ausbrechen aus dem Alltag? Sich äußerlich abgrenzen? Für viele Erwachsene nicht mehr ganz so einfach. Umso schöner, dass Gothmum, auf die mich Shan Dark aufmerksam machte, über ihre Vergangenheit schreibt. Natürlich und authentisch. Vielleicht bekommt man so einen Eindruck, wie es wirklich war. Das alles und noch viel mehr – in der Wochenschau:

  • Was dein bedauernswertes Szene-Tattoo über dich aussagt | VICE
    Kennst du diese coolen internationalen Stempel im Reisepass, die beweisen, dass du schon eine Menge spannender Länder bereist hast? Nun, deine Szene-Tattoos sind im Prinzip das Gleiche. Obwohl, eigentlich sind sie das genaue Gegenteil. Sie erzählen eine wesentlich traurigere Geschichte, nämlich die Geschichte, wie du in den vergangenen Jahren durch die vielen beschämenden musikalischen Landschaften gereist bist und die grauenhaften Souvenirs jetzt für immer behalten musst. Du glaubst zwar, deine Tattoos seien wahnsinnig einzigartig, aber die meisten von ihnen lassen sich in eine eher geringe Anzahl von Kategorien einordnen.“ Ganz unrecht hat der Autor nicht, obwohl er reichlich überspitzt. Aber Tätowierungen folgen ebenso einer Mode wie Klamotten. Problematisch ist nur, dass man später hier nichts in die Altkleidersammlung geben kann.
  • QR-Codes auf dem Grabstein | friedhofskerze.de
    Reich verzierte Gräber, prunkvolle Statuen, meisterhafte Steinmetzarbeiten, aufwendige Bepflanzungen und ausgefeilte Symbolik. Das ist alles Schnee von Gestern, denn heute schließt man das Leben mit einem QR-Code ab. Der Code, der auf dem Grabstein prangert, kann mit nahezu jedem Smartphone eingelesen werden und führt auf eine eigens eingerichtete „Trauerseite“, die über den Verstorbenen erzählt und die Möglichkeit zur Anteilnahme offenbart. Natürlich nur solange der Dienst gebucht ist. Sonst wird auch digital gestorben. Für rund 150€ auch noch ein Schnäppchen. Ob dann in 200 Jahren die Menschen über den Friedhof laufen und versuchen die komplexe Symbolik zu entschlüsseln?
  • Auge in Auge mit den Wesen der Nacht | Schemenkabinett
    Wenn die Abenddämmerung hereinbricht und sich die tagaktiven Tiere zur Ruhe legen, erwachen die Tiere der Nacht. Um nach Sonnenuntergang auf Nahrungs- oder Partnersuche gehen zu können, besitzen sie spezifische Anpassungen an ein Leben in der Dunkelheit. Viele Nachttiere haben riesige Augen, um auch im schwachen Licht von Mond und Sternen gut sehen zu können, und oft sind der Hör- und Geruchssinn bei diesen Tieren besonders ausgeprägt.“ Mein Lieblingsforscher haben sich im Frankfurter Zoo mit „gruseligen“ Tieren beschäftigt. Lust auf eine geführte Exkursion?
  • Hassu Harlack dabei? | Confessions of a Gothmum
    Es ranken sich unzählige Gerüchte über die Zeit, in der Gothic etwas Neues und Frisches war. Wie das damals denn so war, als Gruftie. Die einen fanden es tausendmal doller, die andern wollen nicht daran erinnert werden und ganz andere haben diesen Lebensabschnitt schon aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Glücklicherweise gibt es Gothmum, die in einem beherzten 3-teiligen Roman davon erzählt, wie das damals war. Ungekürzt und ungeschnitten. Eine fantastische Sammlung von Erinnerungen! „Es war ein schöner Samstagabend, als ich diese Frage das erste Mal vernahm. Irgendein Sommerwochenende in den 80ern und die Ampel war gerade rot. Ich saß hinten im Auto, vor mir eine Freundin, die knapp zwei Jährchen älter war als ich und gerade ihren Führerschein gemacht hatte, daneben ihr Freund. Im Kassettenrekorder dröhnte „Shake Dog Shake“ vom Album „Concert – The Cure live“. Wir waren auf dem Weg nach Meckenheim, um einen Bekannten abzuholen, danach wollten wir in unsere Stammkneipe. Es war, wie gesagt, Sommer und dementsprechend heiß. Die Fenster hatten wir heruntergekurbelt, aber nur ein Stückchen, damit der Fahrtwind unsere mühevoll zerzausten Haargebilde nicht zerstörte. Trotzdem pustete es auf der Schnellstraße ganz ordentlich. Ich ging hinter dem Fahrersitz in Deckung – es war ohnehin schwierig genug gewesen, die aufgetürmte Frise heil ins Auto zu bekommen und jetzt auch noch dieser blöde Wind… Meine Freundin kurbelte beinahe schon panisch die Fenster wieder hoch. „Hassu Haarlack dabei?“ kiekste sie hysterisch. Hektisches Gezuppel an weiß-schwarz-lila gefärbten Strubbelhaaren ihrerseits, hektisches Gewühle in der Tasche meinerseits. Haarlack hatte man damals selbstverständlich immer dabei.“
  • Vienna Goth clubs, bars, shopphing! | La Carmina
    Meine „Lieblingsbloggerin“ La Carmina hat einen großen Vorteil, sie wird für das bezahlt, was sie tut. Und damit meine ich nicht gut aussehen und für die Kamera posen, sondern durch die Weltgeschichte zu reisen. Den Rest vergessen wir schnell wieder. Klamotten, merkwürdige Gestalten und haufenweise komische Fotos. Ganz ehrlich? Wien hat unendlich gruftigere Seiten als Klamottengeschäfte und Bars. Dann schaut doch lieber beim Reiseführer Nummer 1, dem  schwarzen Planeten vorbei. Shan Dark hat Wien genauer unter die Lupe genommen.
  • Bist du ein Cyberpunk? Die 90er verraten es Dir! | weblogit
    Ein Poster aus den 90er verrät es, bist du (oder warst du) ein Cyberpunk? Erstaunlich ist dabei, dass die Hälfte der Dinge, die auf dem Poster zu sehen sind, locker in ein aktuelles Smartphone passen. Time ist ticking away.  Weblogit erklärt das Phänomen: „Der Begriff Cyberpunk als literarisches Genre lässt sich bis in die 60er Jahre zurückverfolgen, das Thema wird in SciFi-Büchern wie Neuromancer (1984) oder Do Androids Dream of Electric Sheep (1968) und in Filmen wie Blade Runner (1982) behandelt. Blade Runner basiert übrigens frei auf letzterem Buch. Der eigentliche Wortlaut wurde in einer gleichlautenden Kurzgeschichte von Bruce Bethke begründet.“
  • Die große Lust am Mittelalter | Westfälische Nachrichten
    Hört, hört! Anne Koslowski über Menschen, die sich für das Mittelalter begeistern und Entschleunigung vom Alltag suchen: „Männer in 25 Kilogramm schweren Ritterrüstungen, Tempelrittergewandung und schottischer Clankleidung strecken die Arme in die Luft, drohen mit grauen Schaumstoff-Knüppeln in Richtung einer Schar Kinder und brüllen. Ihr in Strumpfhosen und Tunika gekleideter Anführer Frank Misic alias Animatius ruft: „Das können wir auch.“ Gelächter auf der anderen Seite. Animatius bringt die Kinder dazu, sich umzudrehen und mit den Hintern zu wackeln. Die Erwachsenen tun es ihnen gleich. Der Schotte streckt ihnen sogar sein nacktes Hinterteil entgegen. Jetzt ist genug der Provokation. Die Kinderschlacht ist eröffnet, die Gegner fallen mit ihren Polsterwaffen übereinander her. Am Ende triumphieren die Kleinen über die Großen – wie es sich für ein mittelalterliches Schlossfest, das vor allem für Familien ausgerichtet ist, gehört.“
  • What happend to Goth? | Huffpost Live
    Die Huffington Post geht in ihrem Webformat „Huffpost Live“ der Sache mit den Goths auf die Spur. Sie wollen herausfinden, was mit Goth passiert ist und wo es hingeht. Dazu haben sie sich einige „Experten“ eingeladen, die Live oder via Stream in ein illustre Runde zusammengeschaltet werden. 30 Jahre in 20 Minuten.
  • The Lady ParaNorma | Vincent Marcone
    Eine schaurig schöne Animation von Vincent Marcone, der Peter Murphy seine Stimmer verlieh.
    www.youtube.com/watch?v=9UFjqwRj76o
  • California Institute of Abnormal Arts
    Da soll noch einer sagen, heute würde es keine Freaks mehr geben. In den USA wohnen ganz viele davon. Einige davon hat Carl Crew in seinem Institut versammelt und Sachen. Viele Sachen. Sollte man mal vorbeischauen, wenn man schon mal in Californien ist. Wenn.

6 Gründe, warum auch Gothics wählen gehen sollten

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Heute ist Wahltag. 61, irgendwas Millionen Deutsche dürfen heute wählen gehen. Mein Freund Guido nicht, er musste ja unbedingt Italiener bleiben. Auch Gothics dürfen wählen, egal wie wir aussehen. Bei der Wahl sind wir gleicher als sonst.  Auch Spontis geht heute wählen, jedenfalls bald. Vorher muss ich mich noch duschen und hübsch machen, das habe ich von meinen Eltern gelernt. Die haben mich schon als Kind mit zu Wahl geschleift und wehe, ich sah nicht ordentlich aus. Was ich da sollte, war mir natürlich schleierhaft – ich schätze meine Eltern wollten mich einfach nicht zu Hause alleine lassen. Habe ja sowieso nur Unsinn gemacht.

Gothics sind doch unpolitisch!“ Sicherlich mag das dem ein- oder anderen durch den Kopf geistern und in der Tat wehre auch ich mich gegen eine Vereinnahmung einer musikalisch-geprägten Subkultur durch politische Strömungen. Egal in welcher Richtung. Es ist dennoch erschreckend, wie viele Menschen in meinem Umfeld nicht zur Wahl gehen wollen. Wenn man sie aber auf das ein oder andere Thema anspricht merkt man schnell, dass sie sehr wohl eine Meinung haben.

Sucht nicht die eierlegende Wollmilchsau in Form einer Partei, ihr werdet keine finden, die all eure Wünsche in Sachen Politik umsetzt. Ihr müsst euch schon entscheiden, was euch besonders wichtig ist und die Partei dann gezielt danach auswählen.

Politisches Bla-Bla bei Spontis?“ Nein, keine Angst. Meine politischen Ansichten werden nicht Gegenstand dieses Beitrags und schon gar nicht dieses Blog. Ich denke aber, dass Dinge, die mir besonders wichtig sind, hier ihren Platz finden müssen. Wie zum Beispiel zur Wahl zu gehen. Darüber hinaus ist der Name Spontis einer Protestkultur entliehen, die politische Ansichten in handliche und größtenteils witzige Sprüche umsetzte. Und irgendwie muss ich ja authentisch bleiben. „Euch die Macht – uns die Nacht!“ oder auch „Wenn der Krieg ausbricht, war der Frieden offenbar ein Gefängnis.

Hier noch ein paar weitere Gründe, warum ihr heute wählen gehen solltet:

  • Den Behälter, in den ihr eure ausgefüllten oder ungültig gemachten Stimmen einwerft, nennt man Wahlurne. In Urnen werden normalerweise die sterblichen Überreste von verbrannten Leichen gelagert. Irgendwie schön gruselig.
  • Wer nicht wählt, wählt trotzdem. Und zwar in erster Linie die starken Parteien, denn die nicht abgegebenen Stimmen werden später proportional zu ihrem Ergebnis den großen Parteien zugeordnet. Wer nicht wählt, wählt also beispielsweise die CDU und das ist mindestens genauso gruselig wie das mit den Urnen.
  • Die Gothics sind eine visuelle Protestkultur. Es gab mal Zeiten, da sollte unsere Art sich zu kleiden, die Ablehnung zum Rest der Gesellschaft symbolisieren. Doch was nutzt der Protest, wenn ihn keiner wahrnimmt? So ist das mit dem „Nicht wählen gehen“, diesen Protest bekommt keiner mit, dann lieber die Wahl ungültig machen, dann wird der Protest wenigstens gezählt.
  • Grufties gegen Rechts? Zu gerne umgeben wir uns mit nebulöser Symbolik, umstrittenen Künstlern und kontroversen Themen. „Rechts“ möchten wir aber alle nicht sein. Jede Stimme für eine andere Partei macht das Kuchenstück der rechtsextremen Parteien kleiner.
  • Ihr habt keine Ahnung wen ihr wählen sollt, weil ihr den ganzen Tag im Sarg verbringt, Tiere opfert und satanische Messen abhaltet? Ihr habt keine Zeit euch eine Meinung zu bilden, weil ich allein 4 Stunden des Tages an eurer Frisur arbeitet? Das Internet macht eine schnelle Entscheidung möglich. Der Wahl-O-Mat benötigt vielleicht 15 Minuten, fast genauso lang wie diese Live-Session von „The Cure“ 2004 – Wer sich natürlich seine Lieblingsband nicht versauen will, kann auch eine andere nehmen.
  • Ihr könnt mit eurer Lieblingssymbolik spielen und den Wahlhelfer, der eure Stimme zählt, auf die dunkle Seite der Macht ziehen, denn auch umgedrehte Kreuze in der Wahlfeldern sind gültig!

Campus Noir III – 28. September an der TU Ilmenau

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Welche Gerüchte sich doch um das Studentenleben ranken! Man sagt, es wäre traumhaft. Schlafen bis in die Puppen, fast jeden Tag eine Party, keine erkennbare Kleiderordnung und jede Menge interessante, kreative Menschen. Wahrscheinlich alles nur gelogen oder zumindestens übertrieben, jedenfalls wenn man die Studenten selbst fragt.

Tatsache ist jedoch, dass es tatsächlich in Sachen Selbstverwirklichung in Form von Kleidungsstilen recht locker zugeht auf so einem Campus. Wen wundert es also, dass auch Gothics zum studentischen Alltag gehören. An der TU Ilmenau geht es scheinbar so schwarz zu, dass man bereits zum 3. mal den Campus Noir ausruft, bei dem sich am 28. September 2013 das komplette studentische Nachtleben um die musikalische Spielarten der Gothic-Szene dreht.

Im Mittelpunkt des Geschehens sind dabei die 3 Clubs auf dem Max-Planck-Ring in Illmenau, die sich 3 unterschiedlichen musikalischen Vorlieben widmen und so neben einer Entscheidung für die favorisierte Band auch eine klare Kategorisierung seines Geschmacks erfordern. Ganz nebenbei sei erwähnt, dass ich dieses Konzept sehr gelungen finde, denn die Clubs bieten auch außerhalb besonderer Veranstaltungen ein sehr differenziertes schwarzes Programm, bei dem es durch die räumliche Trennung kaum zu „Wanderungen“ kommen dürfte, die bei anderen Clubs durch das wechselnde Set verursacht werden könnte. Wenn man sich dann entscheiden kann, was man am liebsten hört. Zurück zum Campus-Noir und dem Programm.

Das Motto im sogenannten bc-club lautet : „7 years of labellos.de“ und richtet sich mit Auftritten der Post-Punker Scofferlane und der französischen Cold-Waver von Soror Dolorosa eher an die traditionellen Schwarzkittel, was sich dann auch in der anschließenden Aftershow spiegelt. Wie das Motto schon verrät, hat die Internetseite labellos.de einen nicht ungewichtigen und unterstützenden Anteil an der Sache.

Campus Noir IIIIm bh-club, der nichts mit der gleichnamigen Hilfsvorrichtung für Frauen zu tun hat, lautet das Motto: „Dark Electronics“, das mit der Band Steinkind mehr als ausgefüllt wird und der anschließenden Aftershow-Party in der gleicher Coleur bedient wird. Wenn es also unbedingt Knicklichter sein müssen, liebe Interessierte, werden sie hier sicherlich auf Gegenliebe stoßen.

Und zu guter Letzt bietet der bi-club unter dem Motto „Arcane Delights“ die lettische Sängerin Vic Anselmo auf, die sich bereits als Support für Deine Lakeien oder Das Ich einen Namen gemacht hat. Die anschließende Aftershow-Party mit dem Schwerpunkt Neoklassik und Medieval lädt übrigens Mittelalterfans und Reifrockträger dazu ein, den Boden mit ihren Gewandungen zu bewedeln.

Als wäre das noch nicht genug des Guten, so verriet mir Piet Noir, am vergangenen Wochenende in Augsburg, dass er mit einem Merchandise-Stand auf dem Campus Noir vertreten sein wird. Natürlich gibt es auch einen Stand für die entsprechenden Tonträger und auch das leibliche Wohl liegt den Machern am Herzen. Das ganze kostet günstige 8€ im Vorverkauf und 10€ an der Abendkassen und auch eine Ermäßigung (2€ weniger) gibt es. Wer wissen möchte, wie das ganze im letzten Jahr ausgesehen hat, findet bei labellos einige Bilder.

Da soll noch einer sagen, dass sich nichts tut in der Szene, denn auch dieses kleine Festival wird von vielen fleißigen Händen gestützt und von zahlreichen Bereitwilligen unterstützt. In einem Gespräch mit einigen Leuten, die ich beim ebenfalls durch fleißige Hände gestemmten Young & Cold Festival traf, war man sich einig, dass das, was man als „Underground“ bezeichnet, stattfindet und von engagierten Szene-Gängern überall in die eigenen Hände genommen wird. Die Szene lebt, ist aktiv und gestaltet selbst. Man muss nur ein wenig Energie darauf verwenden, die unbewegliche schwarze Kruste zu entfernen um unter die Oberfläche zu schauen.

Video: New Romantics in the Kings Road 1981

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London, 1981 – Die New Romantics erobern das Stadtbild, die Szene-Shops, die Nachtclubs und die Musikszene und schon damals polarisieren sie die Gesellschaft. Mode-Opfer, Selbstdarsteller und Trittbrettfahrer werden sie genannt, während andere ihren Stil nacheifern und maximieren. Was vielleicht mit Bowie begann und 1980 eine Szene ohne Namen, wurde ein Jahr später zu den New Romantics. 1981 ist auch das Jahr wirtschaftlicher Depression, während die eiserne Lady England regiert. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Gefälle zwischen arm und reich wird größer.  Die Jugend ohne damals erkennbare Zukunft gibt sich der Depression hin, kämpft dagegen an oder kleidet sich reich und kunstvoll um den grauen Alltag zu verdrängen. Die New Romantics sind das visuelle Gegenteil der wirtschaftlichen Depression. Die Szene, die von 1980-82 ihren Höhepunkt feierte, glänzte durch gewollte Inhaltslosigkeit. Man gab sich dem Ego hin, eine Meinung war irrelevant, was zählte, war gutes Aussehen. New Romantic starb einen gut aussehenden Tod, jedenfalls glaubte man das. Doch der Geist lebt bis heute.

Die New Romantics waren mehr. Sie mutierten zum visuellen Schmelztiegel für alle späteren Subkulturen, alles was dann kam, konnte man bereits hier finden. So dauerte es nicht lange, bis Gothic der „dunkle Bruder“ der New Romantics genannt wurde. Als die Phänomene zwei Jahre später nach Deutschland schwappten, nannte man die New Romantics „Popper“ und die Goths „Grufties“. Wieder und wieder erleben modische Ausdrucksformen des New Romantic ihre Reinkarnation.

Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass man in der Dokumentation „Posers – New Romantics in the Kings Road“ unzählige Anknüpfungspunkte findet. Die Kings Road, die zu dieser Zeit mit ihren rund 250 Boutiquen das Mekka aller Mode-Begeisterten war, wurde zum Laufsteg der Eitelkeiten, auf dem die jungen Leute zeigten, wie man aussehen konnte. Sie zeigten, wie man mit dem was man kaufen konnte und dem, was man sich selber schuf, verkörpern konnte, wer man sein wollte. Man beachte die Situation ab Minute 6:12, die in merkwürdiger Weise an das Agra-Gelände zu Pfingsten erinnert.

Ganz nebenbei vermittelt der kurze Film einen bewegten Blick in das London der frühen 80er und zeigt interessante Orte, interessante Gespräche und jede Menge Selbstdarsteller. Alles feiert ein Comeback. Wirklich alles. Ich fürchte fast, dass Mode und Style ein ständiges aufwärmen alter Kamellen ist. Nicht, dass ich das nicht mögen würde, Suppe vom Vortag schmeckt manchmal einfach besser. Die King’s Road ist heute übrigens nur noch ein Schatten ihrer Selbst, nichts erinnert mehr an die aufregende Zeit. Nur die alten Pubs lauern an ihren Ecken immer noch auf das, was vorbeiläuft und beobachten stoisch, wie die Jahre an den Fenstern vorbeiziehen.

Mein schaurig schönes Tagebuch – Episode 1: Fahrradfahren

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Periodische Einträge über das eigene Leben. Dafür wurden Blogs einst gemacht, um als Tagebuch die eigenen Gedanken festzuhalten. Heute sind Blogs Musik-Magazine, Wissensplattformen, Reiseführer, Kochbücher und vieles mehr. Mit dem ursprünglichen Gedanken eines Tagebuchs haben die wenigsten noch etwas gemeinsam. Auch ich habe meine Ansprüche immer weiter nach oben geschraubt, wollte gut recherchieren, fundiert informieren und kontrovers diskutieren. Mit ein wenig Stolz im Unterton behaupte ich: Das ist mir oftmals gelungen. Doch es fehlte etwas. Das Rohe, Ungeschliffene, Unsinnige, Unlogische und zutiefst Subjektive, aus dem das Leben besteht. Da mir seinerzeit nie eine Einleitung für die Wochenschau eingefallen ist, habe ich damit begonnen, dort kleine Gedanken-Schnipsel und Erlebnisberichte zu veröffentlichen. Mein jüngster Ausbruch ist gar Gegenstand einer langen Diskussion geworden.  Ich fand das faszinierend und habe mir überlegt, wieder etwas mehr vom Leben in Worte zu verwandeln. Nicht, um euch etwas mitzuteilen, etwas auszusagen oder anzuregen, nein, einfach nur, weil mir oft genug danach ist. Es gibt keinen Anfang und kein sinnvolles Ende. Wer mir gleichtun möchte, ich herzlichst dazu eingeladen, ich würde mich freuen einem weiteren Relikt meiner Jugend zu verfallen – der neugierige Blick in fremde Tagebücher.

Episode 1: Fahrradfahren

Neulich habe ich mir ein Fahrrad gekauft. Daran ist jetzt erstmal nichts ungewöhnlich, doch für mich hat das Ganze eine ganz besondere Bedeutung. Ich bin mit Fahrrädern aufgewachsen, habe meine Jugend auf einem Zweirad verbracht und die Welt zunächst nur vom Sattel aus entdeckt. Der Grund ist einfach: Meine Eltern hatten nie ein Auto und nie einen Führerschein. In der Großstadt, in der wir leben, war das auch alles kein Problem. Urlaub habe wir sowieso immer im Schwarzwald gemacht und da sind wir dann mit dem Zug hingefahren. Alles, was man mit dem Auto erledigen konnte, haben wir auf dem Fahrrad erledigt. Ich bin immer noch sehr beeindruckt, wenn ich mich daran erinnere, dass mein Vater drei Kästen Wasser auf dem Gepäckträger seines Rades transportierte, während der Rest der Familie den Wocheneinkauf auf 3 weitere Fahrräder verteilt hatte. Eins fuhr meine Mutter, eins meine Schwester und eins… wer hätte das gedacht, ich. Spätestens mit 16 habe ich das Fahrrad verflucht, denn der Sonntag bestand meist aus einer ausgiebigen Fahrradtour, der ich mich selten entziehen durfte.

Urlaub im Schwarzwald 1980 - Mein Vater findet Schlaghosen immer noch modern und ich bin einfach nur zickig.
Urlaub im Schwarzwald 1980 – Mein Vater findet Schlaghosen immer noch modern und ich bin einfach nur zickig.

So erlebte ich den 18. Geburtstag und das erste Auto mit 19 wie eine Revolution! Ich fühlte mich wie die Menschen, die 1989 mit Hämmerchen auf die Mauer einprügelten um den Fall der gleichen zu feiern. Blöder Vergleich, aber so fühlte ich mich nun mal. Und wo ich überall hingefahren bin! Ich und mein erster VW-Derby hatten eine 120.000 km lange Beziehung, die Trennung verlief tränenreich. So blieb ich erstmal fahrradlos glücklich. In einem Anflug von Vernunft und dem gemeinschaftlichen Fitnesswahn der Partnerin kaufte ich mir 2000 ein Mountain-Bike, nur um es mir ein paar Jahre später und mit sehr wenigen Kilometern wieder klauen zu lassen. Ich will ehrlich sein, geärgert hat es mich nicht. Ich meine, wofür braucht man heute noch ein Fahrrad?

Ich änderte meine Meinung. Mit zunehmendem Alter wird man offensichtlich vernünftiger, gewöhnt sich das Rauchen ab und beginnt damit, sich wieder mehr zu bewegen.  Nicht weil man muss, sondern weil man will. Au weia, hätte ich mich vor 20 Jahren so reden gehört, ich hätte Todessehnsucht entwickelt.

Vor einem halben Jahr reifte der Plan, nun wollte ich ihn in die Tat umsetzen. Ein Hollandrad sollte es es werden. Schwarz, edel, erhaben und … weiblich. So eine blöde Stange, über die man sich in Cowboymanier auf ein Fahrrad schwingen musste, nein, das wollte ich nicht. Wie schwierig das werden würde, wusste ich nicht. Ernsthaft, was ich mir dafür alles anhören musste. Ich suchte nach dem Rat meines Vaters einen Fahrradladen auf und druckste zwischen den ganzen Zweirädern hin- und her. „Kann ich Ihnen helfen?“ Ein lächelnder Verkäufer steht mit gefalteten Händen neben mir, es ist einer von den Verkäufern, die gleich durch ihre Art die Preiskategorie andeuten, die sie sich für dich vorstellen können. „Ähm, ja. Ich suche ein Hollandrad, können sie mir da eins empfehlen?“ Der Verkäufer zeigt mir eine Reihe von bedacht günstigen Rädern, für dich ich mich aber nicht begeistern kann. Na warte! „Habe sie auch welche ohne diese störende Herren-Stange?“ Kurzes Stutzen. „Sie meinen ein Damenfahrrad?“ – „Ja, genau!“ In einem kurzen Anflug von Rechtfertigungszwang und eiskalter Berechnung argumentiere ich: „Ich meine, welchen Grund hat so eine blöde Stange eigentlich?“ – Er hätte besser schweigen sollen, der Verkäufer, denn meine Argumentationskette war durchdacht und erprobt. „Sie dient der Stabilität!“ – „So?„, entgegne ich siegessicher, „dann sind also alle Damenfahrräder nicht stabil?“ Ha! 1:0 für mich. Von langer Hand vorbereitet und eiskalt verwandelt. Jetzt fahre das volle Programm. Wie doof ich Mountain-Bikes finde, dass Fahrräder bequem sein sollten, dass ich radeln will  und keine Rennen fahren … diesen Satz solltet ihr Euch übrigens merken. Er unterbricht mich: „Bei ihrer geschätzten Körpergröße von 1.86 cm brauchen sie mindestens einen 62er Rahmen und den haben wir für unsere Holland-Damenräder nicht lieferbar.“ 1:1. Ich bin wirklich 1.86 cm groß, was hat mich verraten? Ich gestehe wortlos meine Niederlage ein und verlasse mit einer Floskel den Laden.

Das Internet rettete mich. 2 Monate später stand ich stolz vor dem schwarz-glänzenden „Fiets“, wie man in den Niederlanden zu den Hollandrädern sagt. 61cm Rahmenhöhe, auch für meine Größe geeignet, mit Nabendynamo, 3-Gang-Schaltung und Wohlfühlsattel. Verrückt. Mit 16 habe ich nichts mehr gehasst als Fahrradfahren und Urlaub im Schwarzwald und jetzt kehre ich freiwillig zu meinen Wurzeln zurück. Oh mein Goth, wenn mich alles wieder einholt, dann steht mir noch eine heitere Zeit bevor. Und Urlaub im Schwarzwald, wobei der eigentlich grün ist, sonst würde ich wohl wegen der Farbe nochmal hinfahren

Die ersten Tage mit dem Fahrrad zur Arbeit waren anstrengend, schön und einsam. 14 km hin und 14 km zurück, ich spüre erstmals, wie eingerostet ich eigentlich bin. Mein Hintern brennt und abends falle ich erschöpft ins Bett. Doch die Landschaft, die ich von meiner aufrechten und erhabenen Position aus bewundern kann, entschädigt. Ich fahre durch die belebte Stadt, staubige Feldwege und durch verschlafene Dörfer. Am dritten Tag muss ich an einer Ampel anhalten, einen Meter hinter mir hält eine ältere Dame auf ihrem „City-Bike“. Pah! Was für ein funktionales Ding! Wahrscheinlich super-leichtes Aluminium, x-Gänge Schaltung und Federung! Und erst die Seitentaschen. Brauche ich nicht.

Die Ampel zeigt grün. Beherzt trete ich in die Pedale und denke: „Und tschüss!“ Der Fahrtwind weht mir um die Nase, die Sonne taucht die Landschaft in eine angenehme Atmosphäre.  Da entdecke ich aus dem Augenwinkel den fahrenden Einkaufskorb mit Rückspiegel und Oma. Dicht hinter mir. Den Sicherheitsabstand hat sie schon gefährlich unterschritten. „Na warte, Lady!“ Ich lasse mir nichts anmerken und trete in die Pedale. Reize die 3-Gang-Schaltung meines Cruisers aus. Die Landschaft schießt jetzt in Strichen an mir vorbei. Naja, jedenfalls gefühlt. Doch immer noch klebt mit Miss Marple am Rücklicht. Gibt`s doch nicht! Ich halte das Tempo unbeeindruckt, so, als würde es mir nicht das Geringste ausmachen, doch meine Oberschenkel schmerzen bereits und auf der Haut bilden sich erste Wassertropfen. Die nächste rote Ampel naht. Endlich, eine Pause! Ich überlege schnell, ob ich einfach mal abbiegen soll, um mich der Schmach nicht hinzugeben, doch die Dame kommt mir zuvor und verlässt meine Route. Mit einem surrenden Geräusch.

Ein Elektrofahrrad. Ich fasse es nicht! Bei genauerem Hinsehen entdecke ich Hunderte davon, ich bin förmlich umzingelt davon. Ich bin schockiert, dass ich meinem Anflug von Testosteron gefolgt bin und gegen eine ältere Dame (!) gewinnen wollte (Stichwort Rennen fahren) und ich bin schockiert, was man heutzutage so unter Fahrradfahren versteht. Elektrofahrräder sind untrue, genauso wie mit dem Sessellift auf die Bergspitze zu fahren um zu behaupten: Ich war oben!