U-Bahnen, Abrissbirnen und der Tod: Warum das Slimelight in London alles überlebt

Morgen jährt sich der Todestag von Mayuan Mak zum fünften Mal. Der ehemalige Eigentümer des Londoner „Electrowerkz“ hinterließ nicht nur eine einzigartige Location, sondern eine Legende: Das „Slimelight“. Die wohl am längsten laufende Goth-Party-Reihe der Welt, die seit 1987 Besucher anlockt. Wir werfen einen Blick auf eine Fabrikruine, die zum Zuhause für die Andersartigen wurde, den Kampf gegen eine U-Bahn-Linie und warum man sich in diesen Gängen verlaufen muss, um sich zu finden.

Aus Ruinen auferstanden

Wenn man im Londoner Stadtteil Islington vor dem unscheinbaren Gebäude in der Torrens Street steht, ahnt man kaum, dass sich dahinter ein Stück Musikgeschichte verbirgt. Das Gebäude heißt Electrowerkz. Doch der Mythos, der in seinen Mauern lebt, trägt einen anderen Namen: Slimelight.

Es ist die am längsten laufende Gothic-Veranstaltung der Welt und findet in den Eingeweiden des Electrowerkz statt. Morgen, am 9. Dezember, ist ein Tag der Stille in dieser sonst so lauten Welt: Es ist der fünfte Todestag von Mayuan Mak, dem Mann, dem das Gebäude gehörte und der diesen Kosmos erschuf. Ein perfekter Moment, um zu verstehen, warum dieser Ort unsterblich scheint – selbst wenn Bagger und Bürokraten schon vor der Tür standen.

Um die Symbiose aus Club und Party zu begreifen, muss man zurück ins Jahr 1987 blicken. Wie Detty Marsh, Maks Partnerin und Mitbegründerin, in der Noisey-Dokumentation „The Oldest Goth Club in the World“ erzählt, war der Anfang alles andere als glamourös. Das Electrowerkz war damals eine Ruine, in der die ersten Slimelight-Nächte als „Squat-Partys“ stattfanden. Die ehemalige Metallfabrik hatte keine richtigen Türen, keinen Strom und Löcher in den Wänden.

Es war komplett heruntergekommen„, erinnert sich Marsh. Doch genau dieses Chaos war der Dünger für das, was kommen sollte. Aus den fast illegalen Anfängen wuchs über drei Jahrzehnte ein Labyrinth über drei Etagen, das weltweite Bekanntheit erlangte.

Das Slimelight überlebte, weil Mak als Besitzer des Electrowerkz eine Philosophie verfolgte, die nicht auf schnellen Profit aus war. Er war ein sanfter Riese mit einem Herz für die „Misfits“. Detty Marsh bringt es auf den Punkt: Das Slimelight war der Zufluchtsort für „Punks, Weirdos und die Unwanted„, die an den Türen der schicken West-End-Clubs abgewiesen wurden. Hier, zwischen klebrigen Wänden und den berüchtigten Toiletten, durfte man unperfekt sein.

Der Kampf gegen die U-Bahn

Dass wir diesen Jahrestag überhaupt im Electrowerkz begehen können, grenzt an ein Wunder. Mitte der 2010er Jahre drohte dem Gebäude das endgültige Aus. Das gigantische Infrastrukturprojekt „Crossrail 2“ warf seinen Schatten voraus. Pläne von Transport for London sahen vor, eine neue U-Bahn-Linie quer durch Islington zu graben. Das Gelände in der Torrens Street war bereits als Baufläche markiert; der Club sollte abgerissen werden, um Platz für Schächte, Büros und „moderne Stadtentwicklung“ zu machen.

Es war ein Kampf David gegen Goliath. Doch die Slimelight-Community mobilisierte sich, schrieb Petitionen und kämpfte um ihr Wohnzimmer. Dass das Projekt „Crossrail 2“ schließlich auf Eis gelegt wurde, war für das Electrowerkz die Rettung in letzter Sekunde.  Der Club hatte nicht nur die Zeit, sondern auch die Stadtplaner überlebt.

Der letzte Ritt im Panzer

Am 9. Dezember 2020 verlor die Szene ihren Vater. Mayuan Mak starb überraschend im Alter von 55 Jahren. Sein Tod traf die Community härter als jede Abrissbirne. „Es war, als ob mein Vater gestorben wäre“, sagt Marsh.

Doch sein Abschied war die perfekte Synthese seiner Persönlichkeit – ein letzter, liebevoller Widerspruch. Denn Mak, den Freunde als Pazifisten und „sanften Riesen“ beschrieben, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, hatte eine paradoxe Leidenschaft: Er sammelte schweres Militärgerät. Panzer und U-Boote faszinierten den Mann, der im Alltag dafür bekannt war, Misfits eine Umarmung und ein Zuhause zu geben.

Als sein Sarg im März 2021 durch London rollte, geschah dies deshalb nicht in einem schwarzen Kombi, sondern auf einem zum Bestattungswagen umgebauten FV432-Panzer. Es war kein militärisches Statement, sondern eine letzte Geste des Ungehorsams gegen die Norm. Ein Bild für die Ewigkeit: Eine harte, unübersehbare Schale aus Stahl, die einen weichen, gütigen Kern schützte – genau wie der Club, den er erschaffen hatte.

Zwischen Tradition und Techno: Die Zukunft

Fünf Jahre später steht das Slimelight an einem Scheideweg. Ricardo Castro, der heutige Manager des Electrowerkz, beschreibt die Herausforderung: Wie bewahrt man den Geist von 1987 und bleibt gleichzeitig relevant für eine neue Generation? Castro versucht den Spagat, indem er die klassischen Goth-Sounds – über Jahre geprägt von Resident-Legenden wie Steve Weeks – mit modernem Techno, Fetisch und Performance-Kunst verbindet.

Gerade Figuren wie Parma Ham, der dort lange auflegte und die Grenzen zwischen Performance, Kunst und Clubbing einriss, stehen sinnbildlich für diese Entwicklung. Auch Events wie der Torture Garden finden im Electrowerkz weiterhin eine Heimat, die den Spagat zwischen den Welten wagt. Das stößt bei der „Old Guard“ nicht immer auf Gegenliebe, ist aber überlebenswichtig. Denn eine Venue, die sich nicht wandelt, wird zum Museum.

Warum man das Slimelight erleben muss: Ein persönlicher Blick

Man kann viel über die Geschichte lesen, aber man muss das Electrowerkz fühlen. Wer heute durch die Gänge streift, spürt diese Geschichte in jeder Fuge. Ich selbst habe dort Nächte erlebt, die sich tief eingebrannt haben.

Da war 2008, als ich mich als Neuling in dem verwinkelten Gebäude verirrte. Ich landete versehentlich auf einer Techno-Party im selben Haus, streifte hilflos durch die fremden Bässe, bis ich endlich eine Gruppe Menschen sah, die „richtig“ aussahen. Ich folgte ihnen blind und landete genau dort, wo ich hinwollte – auf dem Slimelight-Floor, den ich für die nächsten Stunden nicht mehr verließ. Erschöpft und durchgeschwitzt wusste ich am nächsten Morgen: Das hier ist anders.

Und da war 2018, in der Schlange vor den berüchtigten Toiletten. Während ich wartete, hockte sich plötzlich eine Punk-Lady kurzerhand rücklings über die Pinkelrinne des Männerklos.

„Was glotzt ihr so? Ich muss verdammt nochmal Pissen!“, rief sie den staunenden Männern zu.

Noch bevor ich Zeit hatte, mich zu ekeln, flog rechts eine Kabinentür auf: Ein älterer Typ stolperte heraus, gefolgt von einem Punk mit grünem Deathhawk, der sich den Mund am Waschbecken spülte. Den Rest könnt ihr euch denken.

Als ich in der Dokumentation hörte, wie Detty lachend über die Anarchie der Anfangsjahre sprach, musste ich laut lachen. Warum haben sich diese Besuche so eingebrannt? Vielleicht ist es das Gefühl, der Wiege des Goths – und dafür halte ich London und Großbritannien im Allgemeinen – auf die Spur zu kommen. Das Elektrowerkz ist wohl die letzte Institution in London, die von einer lebendigen, dunklen Vergangenheit zeugt.

Mak ist vielleicht nicht mehr da, aber sein Geist – der Geist der absoluten Freiheit – lebt in jeder dieser verrückten Geschichten weiter. Ihr solltet bei einem London-Besuch die Gelegenheit nutzen, die stickige Luft zu schnuppern, den klebrigen Boden zu fühlen und ein Stück Subkultur zu inhalieren, um eure eigenen Geschichten zu erleben.

Ihr habt schon eine Geschichte im Slimelight erlebt? Wir würden uns freuen, wenn ihr davon in den Kommentaren erzählt.

Wizard of Goth – sanft, diplomatisch, optimistisch! Der perfekte Moderator. Außerdem großer “Depeche Mode”-Fan und überzeugter Pikes-Träger. Beschäftigt sich eigentlich mit allen Facetten der schwarzen Szene, mögen sie auch noch so absurd erscheinen. Er interessiert sich für allen Formen von Jugend- und Subkultur. Heiße Eisen sind seine Leidenschaft und als Ideen-Finder hat er immer neue Sachen im Kopf.

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Marc
Marc(@marc)
Vor 3 Tagen

Toller Artikel…wer kommt mit nach London?^^

Marquis
Marquis(@marquis)
Antwort an  Marc
Vor 3 Tagen

An soetwas dachte ich auch gerade :-)))!

Maren
Maren(@maren)
Antwort an  Marc
Vor 3 Tagen

Ja, ich gebe dir recht: Der Artikel fängt die undergroundige Atmosphäre des Slimelight dermaßen gut ein, dass man gar darum herum kommt, selbst hin zu wollen. Eigentlich ist die Frage nicht mehr ob- sondern wann.

Durante
Durante(@durante)
Antwort an  Maren
Vor 20 Stunden

…und beim London-Trip dann den Highgate-Friedhof nicht vergessen! :D

Norma Normal
Norma Normal (@guest_67688)
Vor 3 Tagen

Der Artikel weckt Erinnerungen ein mein erstes und bisher einziges Mal London. Und an den wahrscheinlich größten Szene Faux-Pas aller Zeiten. Diese kleine dramaturgische Überzeichnung sei mir gestattet. 
Es war 1999, wir gerade volljährig und mein damaliger bester Freund hat eine Reise nach London für 2 Personen GEWONNEN!!! Als beste Freundin hatte ich das Privileg mitkommen zu dürfen, was natürlich der absolute Wahnsinn war. 
Wir hatten uns für die Zeit zwei Parties vorgenommen, wir wollten einmal schwarz und einmal queer feiern gehen. Zur Jahrtausendwende sind wir oft zweigleisig, in diesem Sinne, gefahren. 
Jetzt folgt das peinliche Geständnis: Wir müssen etwas durcheinandergebracht haben und waren damals auch noch nicht so Internetbewandert. Nunja, wir sind nicht auf einer Slimelight-Party, sondern im Limelight gelandet (bitte lasst Gnade walten und lacht nicht allzusehr über uns zwei junge und unschuldige Partypeople). Die Location war in einer alten Kirche, was cool war, aber musikalisch und sonst war’s nicht unser Ding. Immerhin das mit der queeren Party ein Tag später, hat hervorragend geklappt. Wir waren im Heaven, einem ebenfalls legendären Club. Ich hatte eine der unvergesslichsten Partynächte meines Lebens und denke bis heute mit einem fetten Grinsen an diese aufregende Nacht zurück. Das macht die Tatsache das ich in London leider keine gruftige Party besucht habe, etwas erträglicher ; )
Seitdem standen diverse Städte und Länder zum Bereisen auf dem Plan. Ob es mich in absehbarer Zeit nochmal nach London verschlägt, da bin ich mir nicht sicher, andere Reiseziele sind mir da momentan wichtiger. Aber wenn, dann muss ich unbedingt ins Electrowerkz und auf die SLIMELIGHT !!!

Durante
Durante(@durante)
Vor 20 Stunden

Wiege des Goths – und dafür halte ich London und Großbritannien im Allgemeinen

…dem kann man natürlich schlecht widersprechen, aber woher weiß man eigentlich dass es sich bei Slimelight um die Zitat „am längsten laufende Gothic-Veranstaltung der Welt“ handelt…? oO
Der Underground-Club „Café Libella“ hier unten existiert beispielsweise seit 1983 (Umzug 1987) und feiert seit Bestehen durchgängig regelmäßige schwarze Parties (aktuell monatlich) und soweit ich weiß heißt die entsprechende Veranstaltungsreihe seit den 80ern durchgängig „Schwarzlicht“ – Vermutlich nicht so cool wie feiern in Islington/London das geb ich zu ;) , aber als „Veranstaltungsreihe“ womöglich sogar noch älter…
(Und ich gehe davon aus da gäbs weltweit noch ein paar mehr wenn man anfangen würde zu suchen.)

Aber ganz unabhängig davon: Danke für diesen wieder einmal wundervollen „gibt es in der Art einfach nur hier bei spontis.de“-Artikel :) (inklusive der einfach absolut herrlichen Anekdoten aus erster Hand XD )…!

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