Rue Oberkampf gilt in der Szene schon lange nicht mehr als Geheimtipp. Im Rahmen ihrer aktuellen Tour sollte die Band einen Auftritt im nahegelegenen Rüsselsheim absolvieren. Wir wollten die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen und haben um einen Interviewtermin gebeten.
Die seitens der Band zunächst angebotene Option – klar, gerne, einfach die Fragen schicken, wir beantworten die dann schriftlich – entsprach nicht ganz der Rückmeldung, die wir uns erhofft hatten. Auch wenn die Erfolgsaussichten intern als gering eingeschätzt wurden, unterbreiteten wir den Gegenvorschlag, das Interview am Tag des Konzerts live durchzuführen. Als die Antwort unerwartet positiv ausfiel, freuten wir uns umso mehr. Es wäre nicht die erste Anfrage gewesen, die vollkommen unbeachtet im digitalen Äther untergeht.
Am Tag der Anreise zeichnete sich eine recht späte Ankunft der Band ab. Julia, Oliver und Geistha, der die beiden auf der Bühne unterstützt, haben sich dennoch Zeit für das Interview genommen. Bis zum Konzertbeginn um 20 Uhr blieben uns rund 45 Minuten Zeit. Diese Lücke haben wir mit dem folgenden Interview gefüllt. Viel Spaß beim Lesen!
Marc: Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit für das folgende Interview genommen habt. Könnt ihr euch den Lesern kurz vorstellen und eure Rolle in der Band beschreiben?
Julia: Ursprünglich kommen wir beide aus dem Passauer Raum, Niederbayern, an der österreichischen Grenze. Mein Vater ist Deutscher und meine Mom Französin. Daher die ganzen französischen Einflüsse. Und mein Alter … Musik hat kein Alter! Oliver und ich produzieren beide die Musik und die Lyrics schreiben wir teilweise auch zu zweit. Auf der Bühne singe ich.
Oliver: Es ist im Prinzip genauso. Wir produzieren das ganze Ding gemeinsam und Julia hat außerdem den Schwerpunkt auf den Lyrics. Auf der Bühne macht Julia klassische Front, und ich kümmere mich um Musik und Licht. Uns ist wichtig, dass das live nicht nur Musik ist. Wir machen uns Gedanken, wie du das Konzert wahrnimmst. Wenn du in ein Konzert gehst, willst du mehr sehen als zwei oder drei Menschen, die nur die Platte runterspielen. Mir geht es zumindest so. Daher, was kann man noch rausholen? Wo ist das Licht, wo ist es dunkel, wo ist es hell? Das ist unser Konzept.
Vielen Dank. Ihr seid sehr viel auf Tour und hattet bestimmt viele Gelegenheiten, um an Interviews teilzunehmen?
Julia: Geht so. Vielleicht fünf oder sechs?
Wieso so wenige? Ihr seid in der Szene sehr bekannt. Da müssten doch ständig Anfragen reinkommen.
Julia: Ist nicht unsere Lieblingsbeschäftigung!
Oliver: Was wir ab und zu bekommen, sind Anfragen für Podcasts. Aber wir sind keine Fans davon, uns in einem Interview zu hören.
Julia: Wir lassen lieber die Musik sprechen.
Oliver: Wir wollen nicht als Personen dastehen. Es ist die Band, die da steht – und das sind wir!

Da freue ich mich umso mehr, dass der Termin heute zustande gekommen ist. Lasst uns loslegen. Wie gestaltete sich euer Einstieg in die schwarze Szene?
Oliver: Ich bin in der Nähe von Passau in einer relativ kleinen Stadt aufgewachsen – Niederbayern, super christlich und super konservativ. Die klassische Geschichte: Durch die Szene hattest du die Gelegenheit, ein wenig aus dem rauszukommen, was da ist. Die Szene vor Ort war gemischt. Ein paar sind Punks, ein paar sind Grufties geworden. Die anderen waren Metal. Ich habe früh angefangen – mit 14 Jahren.
Ich bin nicht ständig dabeigeblieben, sondern war lange im Grunge und später im Techno unterwegs. Trotzdem bin ich immer wieder zurückgekommen. Ich würde mich heute nicht als klassischen Grufti bezeichnen, auch wenn Julia das anders sieht. Trotzdem ist das etwas, was mich gefühlt seit tausend Jahren begleitet. Ich höre heute bei Weitem nicht nur schwarze Musik. Andererseits ist es ein wenig der verbindende Part in meiner Geschichte.
Julia: Ich bin Ende der 90er-Jahre in die Szene gekommen. Aus meiner Metalphase – die nicht lange gedauert hat. Es gab auf Metal.de einen Chat, in den haben sich ein paar Gruftis rein verirrt. Ich habe dort ein paar Leute kennengelernt und einer hat mir CDs gebrannt. Auf denen war kein Lied beschriftet. In eines davon habe ich mich total verliebt. Jahre später habe ich rausgefunden, dass es Clan of Xymox war. Clan of Xymox war meine erste Goth-Band.
In Passau gab es einen Club, die Camera – über den haben wir einen Song geschrieben. Da gab es sonntags den Black Sunday, an dem Goth im weitesten Sinne gespielt wurde. Egal, ob die Schule am Montag um acht Uhr losging – wir waren jeden Sonntag bis drei oder vier Uhr morgens in der Camera.
Alles in Niederbayern. Super katholisch. Dort wirst du ausgegrenzt, wenn du anders bist. Und ich bin nicht getauft. Das habe ich doppelt zu spüren bekommen. Das klingt total abgedroschen, aber das Düstere hat mich schon als Kind fasziniert. Vampire und so Zeug haben mich als Kind begeistert. Fand ich cool. Oder im Fasching als Hexe oder Vampir gegangen. Und später das ganze Zeug durchgemacht, wie Lacrimosa. Bei Oliver hing übrigens auch ein Poster.
Oliver: Das stimmt. Lustigerweise habe ich nie Lacrimosa gehört. Er hat das hinbekommen, ganz am Anfang, dass er dieses superikonische Design hatte. In den Neunzigern war das grufti. Meine allererste Band im schwarzen Bereich war – gleich kommt der Ultra-Klassiker – Das Ich, Die Propheten. Das Album habe ich in Passau in einem Laden gekauft. Und das zweite war Love Like Blood. Das war auch mein erstes schwarzes Konzert. Das war mein Eingang. Weiter ging es über diese klassische Wumpscut-/ Industrial-Schiene.
Der „Rudy“ war zu der Zeit die Hausnummer. Mit seinem Projekt :Wumpscut: hat er das Genre im Alleingang neu definiert.
Julia: Ebenfalls aus Niederbayern!
Oliver: Das war bei uns in der Gegend ein Ding. Wenn man mit den Älteren auf Konzerte mitgefahren ist, konnte der Rudy da sein. Da war Wumpscut, Noisex, das war diese ganze Phase, in der diese ganzen Konzerte stattfanden. Meistens in Wirtshäusern in der bayerischen Pampa, in einem Hotel, in einem Hochzeitssaal. Da haben sie die Wände schwarz abgehängt…
Julia: Grabkerzen ohne Ende!
Oliver: …und irgendwelche bösen Bands spielen lassen. Es hat natürlich in dem Alter eine krasse Faszination gehabt.
Ich finde es schade, dass das Mystisch-Angehauchte etwas verloren gegangen ist. Inzwischen wirkt die Szene etwas zu clean. Ich vermisse das ein klein wenig.
Julia: Ja, ja! In Passau gibt es heute nichts mehr. Die Camera wurde letztes Jahr abgerissen – unser Club. Dort haben wir uns kennengelernt. Oliver hat am Schwarzen Sonntag teilweise aufgelegt. Dort waren zu Hochzeiten 30 Leute, da kannte man irgendwann jeden. Drei davon haben eine Band gegründet, das war Rue Oberkampf. Die Passauer Szene ist damals relativ klein gewesen, heute noch kleiner. Nur Damien, der früher bei uns in der Band war, macht mit einem Freund zusammen gelegentlich eine schwarze Party für die restlichen Grufties.

Könnt ihr näher auf euren musikalischen Werdegang eingehen? Welche Einflüsse würdet ihr bezüglich eurer Musik nennen? Wie kam es, dass Rue Oberkampf gegründet wurde?
Oliver: Wann habe ich angefangen, Musik zu machen? Mit 16 oder 17 in einer Band als Schlagzeuger – in meiner Grunge-Hochphase. Ganz früher habe ich Orgel gelernt. Nach dem Schlagzeugspielen habe ich extrem lange nichts gemacht. Da habe ich nur aufgelegt, das ganze Studium über. Später bin ich über das Synthesizerspielen wieder zur Musik gekommen.
Mein Einfluss ist der ganze schwarze Bereich – da eher der elektronische. Dazu kommt der ganze Alternative-Gitarrenbereich. Früher zumindest. Bands wie The Notwist oder Tocotronic, damals noch in den Neunzigern. Später der gute Techno-Kram. Die Band, die ich am allermeisten überhaupt verehre, ist Daft Punk. Die sind großartig. Schwefelgelb und Kalte Liebe finde ich super, super gut. Ich mag nicht sagen, dass Berlin-Techno ein Einfluss ist – ich finde, das trifft es nicht. Eher der minimalere Techno, der nicht nur Kick ist, der mittlerweile wieder eine Snare hat und ein wenig melodisch ist.
Julia: Ich habe mit fünf angefangen Klavier zu spielen – das habe ich bis zum Abi gemacht. Geige habe ich ebenfalls gespielt – das war aber nie so ganz mein Ding. Die erste Band…Band kann man es nicht nennen. Ich habe mit einer Freundin einen Mittelalter-Song komponiert, in der ersten Goth-Phase. Irgendwann hatte ich meinen Rechner und habe mit Fruity Loops ein wenig experimentiert. Hatte da drei, vier Industrial-/ Noise-Sachen, man kann es nicht produziert nennen, eher programmiert oder hergestellt. Das eine hat tatsächlich der DJ am Schwarzen Sonntag in der Camera aufgelegt. Das hat mich wahnsinnig stolz gemacht. Ich war zu dem Zeitpunkt die Einzige im Club – aber es hat sich trotzdem ziemlich cool angefühlt. Vielleicht war das ein Motivationsfaktor.
Weil du realisiert hast, okay, hört sich gar nicht schlecht an. Es könnte mehr gehen, wenn ich Zeit investiere?
Julia: Es könnte sein, dass Leute auf meine Musik tanzen. Wow. Ja, voll. Viel später, erst 2016, haben Damien und Oliver sich getroffen, um mit den Synthies rumzuspielen. Und irgendwann bin ich dazu gekommen. Wir hatten überhaupt nicht vor, eine Band zu gründen. Irgendwann haben wir gedacht, es wäre cool, wenn wir mit einem Cover anfangen. Und haben von Absolute Body Control Melting Away gecovert. Wir haben nur diesen Song gemacht und dachten, okay, klingt gar nicht so schlimm, kann man mal online stellen. Oliver hat das dem Dirk Ivens geschickt und der hat das auf seinem Facebook-Profil gepostet. Das war der Anfang. Und auf einmal braucht man einen Bandnamen.
Du bist innerhalb der Band für den Gesang verantwortlich. Deine Stimme empfinde ich als sehr präsent und stabil. Hast du eine Gesangsausbildung?
Julia: Nein, auf gar keinen Fall. Ich finde, ich habe … danke, freut mich sehr – ich bin sehr unsicher mit meiner Stimme. Ich war auf einem musischen Gymnasium und war dort im Chor – und danach noch für ein Projekt im “Heinrich-Schütz Ensemble” von Martin Steidler. Er ist eine Koryphäe in der Chormusik. Bei ihm habe ich viel gelernt. Ich hatte das große Glück, ihn viele Jahre als Klavierlehrer zu haben.
Geistha: Ich finde, was auf jeden Fall eine riesige Qualität ist: Dich kann man singen lassen und es macht direkt Bilder auf. Es macht direkt eine Atmosphäre – wovon man mehr hören will. Und das finde ich wichtiger, ehrlich gesagt, als jede Gesangsausbildung.
Ein interessantes Thema ist die Entwicklung des Begriffes Darkwave. Früher wurde darunter alles zusammengefasst – heute wird darunter ein konkreter Musikstil verstanden. Würdet ihr eure Musik dieser Kategorie zuordnen?
Julia: Wenn wir gefragt werden, welche Art Musik spielt ihr – sagen wir meistens Darkwave. Das ist inzwischen eine so große Schublade, da passt das. Obwohl wir tausend andere Einflüsse haben. Wir haben einzelne Lieder, die in eine ganz andere Richtung gehen. Zum Beispiel Deine Worte ist eher Synthpunk oder Kalt ist eher EBM. Ansonsten wird das zu kompliziert. Deswegen Darkwave oder Neo-Future-Pop, von mir aus.
Oliver: Wir haben unsere Wurzeln da, was man im ersten Album hört. Später haben wir geschaut. Wir überlegen uns jedes Mal was Neues, wenn wir Musik machen. Was wir nicht machen wollten, ist zu sagen, man macht einen Stil und den zieht man durch. Zu sagen, wir machen ein Lied, das funktioniert, dann machen wir dreimal dasselbe Lied.
Du gehst raus, bekommst Einflüsse – hörst, sieht oder liest Geschichten – und machst daraus ein Lied. Und wir versuchen es nicht irgendwo reinzudrücken. Es wird, wie es ist. Wahrscheinlich hört man das. Es ist divers und trotzdem Goth-lastig.

Liegt der größte Anteil eurer Hörerschaft – trotz eurer musikalischen Diversität – überhaupt noch in der schwarzen Szene?
Julia: Ja. Wir sehen, wer uns auf TikTok, Instagram und Facebook folgt. Wo werden wir gebucht? Auf welchen Playlists sind wir? Das ist primär schwarze Szene. Ebenfalls viel queere Szene. Dann gibt es noch die Elektro-Szene.
Oliver: Der Hauptteil. Wenn man die letzten drei Konzerte nimmt. Berlin war vom Publikum komplett anders als zum Beispiel Hamburg. Hamburg war komplett schwarz. Und Berlin, das Konzert fand in einem Technoclub statt, war eher schwarz gesprenkelt. Wir sind auch nicht Lacrimosa 🙂.
Konzert ist ein gutes Stichwort. Eure aktuelle Tour ist ziemlich umfangreich und die Termine liegen recht nah zusammen. Ist das auf Dauer nicht anstrengend?
Oliver: Wir sind ein wenig übermüdet. Von München nach Berlin. Von Berlin nach Hamburg. Von Hamburg nach Rüsselsheim. Wenn du einmal um Deutschland herumfährst, ist das aufwändig – und mit wenig Schlaf verbunden. Morgen gehen wir ins Wochenende.
Was den Umfang angeht, die beiden Abschnitte lagen nah beieinander. Auf der einen Seite haben wir Frankreich bespielt. Das war im Prinzip eine kleine Tour und der Weekender kommt gleich danach. Normalerweise, wenn du das trennst, ist das gar nicht viel. Dadurch, dass die drei Termine nahe an Frankreich und Belgien waren, ist es zeitlich ein wenig gestaucht. Aber das passt schon.
Ihr seid ja aufgrund der häufigen Auftritte inzwischen sehr erfahren. Wie verlief denn euer erster Liveauftritt?
Oliver: Ein bisschen lustig – irgendwie. Wir haben unser erstes Konzert in München im Katzenclub. Das ist eine Veranstaltungsreihe, die wir sehr, sehr lange kennen. Wir kommen alle aus dem DJing und haben vorher in dem Club aufgelegt. Der Vorteil war das Umfeld, in dem du alle kennst. Wir hatten trotzdem die Bürde, dass wir gleich unser erstes Konzert als Vorband von Ash Code hatten.
Julia: Direkt vor 400 Leuten.
Oliver: Wir haben unser erstes Konzert vor einer fast ausverkauften Halle gespielt – und haben uns vorbereitet, wie man sich als Band, die keine Ahnung hat, vorbereitet. Ich kann mich noch gut erinnern. Wir sind damals auf die Bühne gegangen und haben den Soundcheck gemacht. Da ist noch keiner im Saal. Ich sehe mich noch auf der Bühne stehen, beim Sampler, beim Keyboard und den Samplepads – mit meinen iPhone-Kopfhörern. Mit diesen kleinen winzigen Dingern, die man sich ins Ohr steckt. Und ich dachte, damit höre ich die Musik. Und kann dazu live Schlagzeug spielen.
Was wir komplett unterschätzt haben, war, wenn Leute da sind und es lauter wird. Ich stand auf der Bühne und hatte mächtig Spaß. Ich habe, weil alles nur gerauscht hat, nichts gehört. Und habe gegen dieses Nichtshören versucht, Schlagzeug zu spielen und auf dem Samplepad rumzuschlagen. Und habe mir gedacht: Mensch, den einen oder anderen triffst du nicht ganz genau. Wir hatten alle – inklusive Julia – auf der Bühne ein gutes Gefühl.
Julia: Auf der Bühne! Nach dem Auftritt haben wir uns die Videos angesehen und es war schrecklich. Ich habe mich auf der Bühne null gehört und standardmäßig zwei Ganztöne daneben gesungen. Der Auftritt war witzig. Danach die Videos zu sehen, war allerdings ein richtiger Schock. Deswegen wurde davon hoffentlich keines veröffentlicht.
Oliver: Wir haben damals zusätzlich ein Video mit einem Backing unterlegt – weil das Original echt schrecklich war.
Jede Band, die heute sagt, sie hat das erste Konzert gespielt und es war super – ich glaube, die Lügen am Ende 🙂. Du weißt extrem viel nicht, was du bei den nächsten Konzerten sprunghaft noch lernst. Wie hörst du dich auf der Bühne? Wie wirkt es nach vorne? Was machst du live? Wie setzt du das um?
Lange Rede, kurzer Sinn: Wir haben uns auf der Bühne sehr, sehr, gut gefühlt. Am Ende war es ziemlich desolat. Es war wirklich schlimm.


Ihr habt trotzdem weitergemacht und nicht aufgegeben. Das erinnert mich an I won’t surrender. Geht der Text auf Erfahrungen zurück, die euch gelehrt haben, nicht aufzugeben?
Julia: Spannende Frage. Tatsächlich ist I won’t surrender das einzige Lied, bei dem der Text einfach da war. Ich weiß noch genau, das war ein Wochenende. Wir haben uns zum Musikmachen getroffen und es lief nichts. Es war alles schlimm. Alle waren frustriert, ganz furchtbar. Wir wollten zurück nach München fahren und ich habe mir gedacht, boah, ich gehe noch einmal ins Studio und probiere irgendwas aus. Ich hatte echt keinen Bock mehr. Trotzdem wollte ich nicht frustriert aus diesem Wochenende gehen.
Ich habe die Presets durchgeklickt und auf einmal kam dieses (singt leise Töne). Dann bin ich ausgerutscht auf der Taste und es machte (singt leise Töne). Danach noch zwei Presets weiter geklickt und ich finde diese Baseline (singt leise Töne) Okay! Geil! Irgendwas will ich einsingen, dass es spürbar wird. Und da war einfach: Tell me all your secrets! Und als nächstes: I won’t surrender! Keine Ahnung, woher das kam.
Das war das erste Mal, dass spontan der Text da war. Jedes Mal, wenn ich ihn singe, denke ich mir, das ist eine gute Botschaft, die da unterbewusst in mir war. Und das denke ich mir, wenn es gerade schlecht läuft.
Könnt ihr euch vorstellen, das Set-Up von Rue Oberkampf für die Live-Shows anzupassen? Vielleicht akustische Instrumente auf die Bühne bringen?
Julia: Wenn, würde sich ein Klavier anbieten. Wir haben ein paar Songs, die wir am Hybrid-Piano eingespielt haben. Sonst analoge oder akustische Instrumente? Wäre vielleicht als Experiment spannend – wenn wir Zeit haben. Die Musik entsteht zu 80 % am Computer. Und wir haben noch ein, zwei Synthies angeschlossen. Ansonsten arbeiten wir sehr viel digital. Deswegen wäre es ein Umdenken. Das Wichtigste ist: Es muss authentisch sein.
Oliver: Ich bin kein Fan der Idee – selbst bei den Bands, die man selbst gut findet. Das kann, muss jedoch nicht funktionieren. Ich weiß nicht, ob das mehr ausmacht, wenn du einen Schlagzeuger hast. Es gibt bestimmt Bands, da passt es. Wir kommen von der Kick. Eher wie beim Techno. Wenn du ein Schlagzeug hast, ist dieser Kick nicht fokussiert. Dahingehend finde ich, bei uns passt das von der Dynamik nicht.
Gab es weitere peinliche oder besondere Erlebnisse bei euren Konzerten?
Julia: Definitiv. Mir passiert es regelmäßig, dass sich das Kabel aus meinem Mikro verabschiedet – weil ich es gerne als Peitsche oder Interaktionsmedium verwende und in meine Show einbaue. Das hält nicht jedes Kabel aus.
Letztens in Stuttgart, beim About Pop, ist es mir passiert, dass ich plötzlich wieder die Augen aufmache und das Ding liegt auf der Bühne. Das ist ein Klassiker.
Andere spannende Geschichten gibt es definitiv. Ich weiß noch, bei unserem zweiten Konzert, das war auf einem Do-it-yourself-Festival, die Scheunenmottenkiste bei Marburg. Großartiges Festival. Sollte jeder mal hingehen.
Und als Band ist es spannend, weil du dort bei den Veranstaltern im Haus übernachtest. Bei uns war das der Keller. Den haben wir uns zusammen mit Petrolio geteilt.
Oliver: Eine großartige Band, Industrial, aus Italien.
Julia: Und dieser Keller hatte zwei Eingänge – jeweils auf der gegenüberliegenden Seite vom Haus. Daneben waren einerseits direkt die Bühne und auf der anderen Seite der Garten, in dem das Publikum in den Zelten übernachtet hat.
Damals waren wir noch zu dritt und Damien musste draußen im Zelt schlafen, weil es drinnen nicht genug Schlafplätze gab. Er hatte ein Kinderzelt, aus dem die Beine noch rausgeschaut haben. Und er wurde wach, weil plötzlich ein belgischer Fan an sein Zelt gepinkelt hat.
Und derselbe Fan ist direkt danach völlig betrunken in unseren Keller gewankt. Ich wurde wach, weil der vor meinem Bett stand und beschlossen hatte, sich da reinzulegen. Ich glaube, der hatte keine weiteren Absichten. Der war völlig daneben und hat ein Bett gesucht.
Ich habe den rauskomplimentiert. In den nächsten Kellerraum, in dem das Buffet noch stand. Er hat wohl gedacht, das Buffet, das damals auf einem großen Tapeziertisch stand, sieht aus wie ein Bett.
Plötzlich wurden alle wach, weil der sich original in dieses Buffet reingelegt hat, was komplett zusammengekracht ist. Da ist er über Nacht geblieben und hat angefangen zu schnarchen. Und wir haben die Reste vom Buffet tropfen gehört.
Speziell – trotzdem extrem witzig im Nachhinein. Währenddessen war es ziemlich unwitzig, weil wir alle ziemlich fertig waren.
Oliver: Wir haben neben dem Enrico von Petrolio gepennt. Nach dem ganzen Radau hat uns der Enrico, der mit seinem superputzigen Kind da war, angeschaut, gelacht und gesagt: Rockstar life, but less paid! Das hat sich damals unglaublich lustig angefühlt.
An sich ein großartiges Festival. Die Geschichte tut dem Ganzen keinen Abbruch. Es war super, aber es war krass.
Julia: Und was spannend ist, schön und witzig, wenn du als Band auf der Bühne stehst und plötzlich Leute im Publikum siehst, von denen du selbst Fan warst oder oder deren Musik du hörst.
Wie letztens in Berlin: Ellen Allien. Bei unserem ersten Konzert stand Oswald Henke im Publikum. Oder in Leipzig: Mojca Zugna von Clan of Xymox.
Das ist krass und bringt dich kurz aus der Fassung.

Wie geht es nach der Tour für Rue Oberkampf weiter? Ich habe mitbekommen, dass ihr eure Musik gerne weitab der Zivilisation produziert. Sind die Themen Alleinsein und Einsamkeit für euch wichtig, analog zu den Songtiteln auf eurem aktuellen Album?
Oliver: Für uns als Band ein sehr, sehr wichtiges Thema. Wir wohnen in der Großstadt, aber schreiben da nie unsere Musik. Wir mieten uns eine Hütte oder ein Haus, irgendwo in der Natur, gerne weit weg von allem.
Wir packen unsere fünf Sachen, fahren dahin und fangen an zu komponieren. Wir schließen uns ein, sehen keine Leute und bauen im einsamen Naturerlebnis die grundsätzlichen Ideen der Musik.
Inspiration für Lieder bekommen wir aus unserem Umfeld. Aus den Eindrücken, die man auf Tour, auf Konzerten oder in der Großstadt bekommt.
Und das zu verarbeiten, umzumünzen in Musik passiert bei uns, wenn wir irgendwo alleine sind und den Fokus nur auf die Musik haben.
Das Thema Alleinsein und Einsamkeit ist für uns als Band superwichtig.
Gleich fängt die Vorband an – wir müssen langsam zum Ende kommen. Möchtet ihr den Lesern zum Abschluss noch etwas mitteilen?
Oliver: Für mich ist das Wichtigste, interessiert zu bleiben. Du merkst, irgendwann beginnen die Leute, nur noch Musik zu hören, die sie von früher kennen und nichts mehr Neues zu suchen oder sich auf was Neues einzulassen. Es muss nicht unsere Musik sein. Dabei zu bleiben, Bock zu haben.
Julia: Neugierig bleiben. Das ist die Basis von Kunst. Neugierig und offen sein für sämtliche Eindrücke, egal woher. Nicht nur aus der Musik, sondern generell. In der Stadt, auf dem Land, im Leben, in der Natur.
Ich glaube, das ist die Basis von Glück und Glücklichsein. Es gibt viel zu entdecken, wenn man offen ist und bleibt, sich selbst immer wieder in den Arsch tritt und Dinge neu entdeckt, Neues lernt. Das trägt einen großen Teil zum Glücklichsein bei.
„Neugierig bleiben – das ist die Basis von Glück“
Nach rund 45 Minuten war das Interview beendet. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum nahegelegenen Veranstaltungsort. Den Bericht zum anschließenden Konzert findet ihr hier: „Rue Oberkampf für Gamer – Wenn Darkwave plötzlich triggert“ – Wer mehr über die Band erfahren möchte oder auch links zu den einschlägigen Streaming-Plattformen sucht, findet bei linktr.ee entsprechende Verweise und Links.

1998 in die Szene eingestiegen. Die folgenden Jahre habe ich intensiv Veranstaltungen und Konzerte besucht. 2017 habe ich eine Familie gegründet - keine Musik, keine Veranstaltungen, keine Konzerte, keine Festivals, keine eigenen Gedanken. Jetzt kehre ich endlich wieder zurück vor die Bühne.
Danke für das schöne Interview, das sowohl musikalischen Werdegang als auch das Umfeld der Band beschreibt, in dem sie in die Szene fanden. Interessant auch zu lesen, wie es ihnen bei ihren ersten Live-Auftritten erging und was sie auf Tour so alles erlebt haben. Irgendwie spürt man die Bedeutung, die das Thema „Alleinsein“ für sie hat auch in ihren Songs. Das sind zum Teil Klangwelten, die einem gut ermöglichen, sich in sich selbst zurück zu ziehen. Ich habe mir gerade noch mal „Hope and Fear“ angehört.
Die Ermutigung von Julia und Oliver, neugierig und interessiert zu bleiben am Schluss des Interviews halte ich für sehr wichtig, denn das erlaubt Weiterentwicklung.