Ein schwarzes Festival im Kernland von Pietismus und Kehrwoche – wie funktioniert das? Da die 7. Auflage des Takt Bizarre 2025 in einen Zeitraum fiel, in dem ich ohnehin im „Musterländle“ weilte, nutzte ich die Gelegenheit, um genau dies herauszufinden. Meine Anfahrt führte mich in der Abenddämmerung durch ein idyllisches Tal und von der Schwäbischen Alb hinunter ins württembergische Reutlingen, eine Stadt, die ich aufgrund lang zurückliegender Pflichtbesuche in meiner Jugend eher mit Fachwerk und Langeweile als mit Subkultur irgendeiner Art in Verbindung brachte. So erreichte ich schließlich den Veranstaltungsort, das franz K. Kulturzentrum, das mich freundlich im umgebauten Saal eines ehemaligen französischen Kinos empfing. Nach und nach füllte sich der Saal und es wurde schwarz. Angenehm schwarz.
Dystopische Cold Wave Klänge aus Stuttgart: The Minimal Trees
Die Einstimmung auf den Abend erfolgte sanft mit The Minimal Trees, einer Cold-Wave Band aus Stuttgart, bestehend aus Holger an Synthesizer und Keyboard, Nicole, ebenfalls am Synthesizer und Mike, an Gitarre und Bass. Er und Nicole teilten sich die Gesangparts. Die Songs, die das Trio dem Publikum präsentierte, stammten vorwiegend vom jüngst erschienenen Album der Band Time, das von einer melancholischen Grundstimmung getragen wird. Der gleichnamige Titelsong des Albums, eingeleitet von einem leicht hektischen Synthi-Intro setzt sich mit der unerbittlichen Flüchtigkeit von Zeit auseinander. Dabei singen Nicole und Mike im Duett. Während Nicole die Zeit wiederholt mit kristallklarer Stimme um Stillstand anfleht, zerstört Mike die Hoffnung darauf, indem er dieser seine Gedanken von Tod, Zerstörung und Vergänglichkeit teilweise mit heiserer Stimme entgegenstellt.
Mit „Fake Visions“ erhielt der Auftritt von The Minimal Trees eine dystopische Note. Es ist von Kontrollübernahme durch eine autoritäre Macht mittels Lüge und Manipulation die Rede. Allerdings zeigen gewollte Anspielungen auf Donald Trump, dass diese Zukunftsvision bereits im Hier und Jetzt Wurzeln schlägt. Zu meiner großen Freude spielte die Band gegen Ende ihres Auftrittes auch meinen Favoriten: „Why so triste“. Auf dem Hintergrund eines dunklen Klangteppichs werden Szenarien von Einsamkeit, Verlust und Tod entfaltet. Die daraufhin wiederholt ins Micro gezischte Frage „Why so triste? verleiht dem ganzen einen Hauch von Ironie. Projektionen abstrakter Schwarz-Weiß-Bilder und Großstadtszenarien verdichteten die melancholisch-dystopische Atmosphäre, die einige Laber- Michels leider trotz missbilligender Blicke mit nichtigem Geschwätz zu stören trachteten. Wieso stellen die sich dann in die erste Reihe?
Elektrisierung der Menge: Plastikstrom
Abhilfe schafften dann Plastikstrom, indem sie die Lautstärke so erhöhten, dass Nebengespräche nun nicht mehr möglich waren. Für das Duo bestehend aus Jürgen Schips (Synthesizer, Keyboard) und Matthias Günzler (Gesang) war der Auftritt in Reutlingen ein Heimspiel. Mit ihrem eigenen Sound aus Dark Elektro, EBM und Elektropunk schafften sie es im Nu den Funkenschlag, um ihr Publikum in Begeisterung zu entflammen. Ihre Songs wurden von der Menge bewegungsintensiv vor der Bühne gefeiert. Da gab es kein Stillhalten mehr, auch für Menschen, die in ihrer Mobilität beeinträchtigt waren, nicht.
Auch sie wurden Teil der tanzenden Menge. Wut, Aggression und Frustration wurden in den Songs thematisiert, wobei immer wieder die Punkhaltung des Duos deutlich durchschien. Bei „Mir egal“ schrie Matthias seine Verzweiflung förmlich in die Menge hinaus, untermalt auch von körperlichem Einsatz auf der Bühne. Ebenso energetisch war sein Tanz bei „Pogokinder“ das er bei diesem Auftritt seiner Nichte und seinem Neffen im Publikum widmete, die allerdings nach dem Auftritt von Plastikstrom die Veranstaltung verlassen mussten, denn die Bühnenschau von Fix8Sed8 sei laut Matthias nicht für unter 18jährige geeignet. Eine besonders düstere Stimmung wurde in dem während der Corona Pandemie entstandenen Song „Tanz allein“ eingefangen. Untermalt von minimalistischen Synthieklängen sorgt die Textzeile: „Maske auf, Licht geht aus und tanz allein“ für ein Gefühl von beklemmender Isolation.
Fix8:Sed8: Dark-Elekro Horror
Schon im Vorfeld hatten Fix8:Sed8, deren Name auf den psychiatrischen Begriffen Fixierung und Sedierung beruht, ihren Auftritt als Horrortheater deklariert und somit meine Neugier geweckt. Was würde da auf mich zukommen? Tatsächlich verwandelte sich die Bühne nun durch eine bizarre Ausstattung in eine Art Vorhölle. Vorne beherbergte ein Stahlkäfig ein koboldartiges Wesen. Totempfähle und Stahlaufbauten mit Kreissägeblättern, von Nadeln durchstochenen Organen und Schädeln seltsamer Kreaturen schufen eine Kulisse des Grauens. Das Skelett eines grausigen Geschöpfes mit Flügeln war im Hintergrund mit Stahlringen und Nägeln an eine Platte gefesselt und durchaus geeignet, neben Abscheu auch Mitleid beim Betrachter hervorzurufen. Damit nicht genug, um das Unbehagen dieser schwer greifbaren Szenerie noch zu steigern, wurde ein schwarzer Kinderwagen auf die Bühne geschoben, an dem allerlei Schläuche und ein Blutbeutel hingen. Das Wesen selbst, das darin lag, bekam man nicht zu Gesicht, und so blieb es der Vorstellungskraft des Zuschauers überlassen, sich dieses selbst auszumalen.







Nebelschwaden stiegen empor und umhüllten die gruseligen Skulpturen. Beunruhigende, rasche Folgen elektronischer Klänge leiteten die Show ein. Im Eröffnungssong „New Eden“ aus dem neuen Album der Band Octagram wurde der Zuschauer von einer flüsternden Stimme eingeladen, sich auf die Reise in eine finstere Unendlichkeit zu begeben. Noch ungemütlicher wurde es bei „Oathbreaker“, das mit schrillen Tönen, Geräuschsequenzen und einem roh ins Micro geröcheltem Gesang besonders deutliche Industrial-Elemente aufweist. So fand das visuelle Grauen des Bühnenbildes seine Entsprechung in der Musik. Mit „Monolith“ kam einer der älteren Songs von Fix8:Sed8 zur Aufführung.
Eingeleitet von einem gnadenlos hämmernden Rhythmus folgten schneidende elektronische Klänge. Mit Computer verzerrter Stimme wurde die Sinnkrise der Menschheit am Rande des Abgrunds besungen. Auch das Auftreten des Masterminds dieses Projektes, Martin Sane, passte zu den düsteren, dissonanten Klängen: Er trug die ganze Zeit eine Maske mit dem entstellten Grinsen eines Schädels, schwarze Kleidung mit futuristisch anmutenden Elementen und einen gelben Regenmantel. Dieser groteske Aufzug entzog sich ebenso einer klaren Einordnung durch das Publikum wie die Songs selbst und die Kulisse. Man war einfach von der verstörenden, apokalyptischen Atmosphäre gefangen: „The Horror, the horror.“
Takt Bizarre 2025: Emotionaler Abschluss mit Klangstabil
Fallen lassen in einen weichen, dunklen Klangteppich konnte man sich dann anschließend zur Entspannung bei dem Elektro Duo Klangstabil. Gegründet im nicht allzu weit entfernten Rottenburg am Neckar, war der Auftritt auf dem Takt Bizarre 2025 für Maurizio Blanco und Boris May ebenfalls ein Heimspiel. Maurizio, der für die elektronischen Klangflächen zuständig ist, wurde von einigen Zuschauern mit Transparenten begrüßt, welche die Verbundenheit der Fans auf besondere Weise zum Ausdruck brachten. Unter anderem bei „ Shadowboy“ konnte er dann sein Talent, melancholische, sanfte Klangflächen zu kreieren, entfalten, vor deren Hintergrund dann Boris May die Geschichte eines hochsensiblen Jungen erzählte, der im Wald Schutz vor der Außenwelt findet.
Trotz der dunklen Töne stecken in den emotionalen Songs von Klangstabil auch Funken der Hoffnung, so wie in dem ebenfalls an diesen Abend gespielten: „Lauf, lauf“. Ein kurzes melodisches Intro, das sich später im Hintergrund wiederholt, untermalt die Botschaft des Songs, dass man trotz aller Widrigkeiten im Leben niemals aufgeben soll.
Boris May verstand es mit seinem Gesang Emotionen so authentisch zu transportieren, dass das Publikum davon sichtlich berührt wurde. Zwischendurch teilte er immer wieder Erinnerungen an Menschen, die er kannte mit den Zuschauern und äußerte in diesem Zusammenhang den bedenkenswerten Satz: „Freundschaft wächst nur, wenn man Zeit miteinander verbringt.“
Nachdem schließlich der letzte Ton verhallt und die Bühne wieder leer war, versorgte ich mich noch mit einer Koffeindosis und machte mich auf den Rückweg. Einige Kilometer hinter Reutlingen war ich dann allein in tiefschwarzer Nacht unterwegs, überwältigt von den Eindrücken eines selten intensiven, tiefschwarzen Konzertabends, der mir Folgendes deutlich gezeigt hat: „Die Szene mag vielleicht nicht mehr die Jüngste sein, aber sie lebt. Und sie gedeiht und treibt ihre dunklen Blüten auch im an der Oberfläche bieder wirkenden Ländle.























Schwarzer Wildwuchs abseits jeglicher Szene-Hotspots. Wird von allem ästhetisch Dunklen und Morbiden seit jeher magisch angezogen. Genießt Dunkelheit gerne in der Wildnis. Einzelgängerin, aber offen. Spürt Zugehörigkeit zur Szene seit dem Kontakt zu Spontis. Das schwarze Herz schwingt am stärksten durch „The Doors“, „The Cure“ und „Deine Lakaien.






Klingt nach einem rundum gelungenen Event.😊
Ich habe Fix8:Sed8 bis dato noch nicht live gesehen und das hier soll nicht ihre Musik bewerten. Aber wenn ich mir die Bilder betrachte, dann wirkt das auf mich schon ein Stück weit klischeebehaftet.
Vor meinem geistigen Auge erscheint sofort eine Assoziation zur Kirmes-Geisterbahn. 🙈
Vielleicht erlebt man das aber auch ganz anders, wenn man selbst vor der Bühne steht…
Danke für deinen Kommentar. Ich kann gut nachvollziehen, dass Fix8:Sed8 eventuell so auf dich wirken. Für mich waren sie akustisch so wie optisch eine Herausforderung, die mich aus meiner wohlig darkwavigen Komfortzone heraus gerissen hat. Das wurde mir schon beim Reinhören vor dem Takt Bizarre klar. Wenn man sie nicht kennt und trotzdem neugierig ist, sollte man sich etwas vor dem Konzert mit ihnen befassen, finde ich. Ich persönlich bereue es nicht, dass ich in Bezug auf sie an meiner Schmerzgrenze gerüttelt habe. Und ja, direkt vor der Bühne kam bei mir jetzt kein Kirmes-Geisterbahn Feeling auf.
Sehr schön, vom Takt Bizarre zu lesen, Danke, Maren!
Ein kleiner Blickwinkel von mir noch dazu:
Ich bin kürzlich – wie jedes Jahr – auch vor Ort gewesen. Fix8Sed8 und Plastikstrom haben mich wieder mal überzeugt, wobei letzte ja hier in Reutlingen ihr Heimspiel haben. Die Minimal Trees hatte ich bisher noch nicht live gesehen, klangen als erster Act leider mangels ordentlicher Abmischung eher suboptimal…
Klanstabil bekam ich nur nebenbei mit, da der Merch-Stand meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Neben dem Merch der anwesenden Projekte erblickte ich eine Platte von Data Void und kam mit der freundlichen jungen Dame darüber ins Gespräch.
Nach etwas Auffrischung meiner Englisch-Kenntnisse stellte sich für mich überraschenderweise heraus, dass ein weiterer, interessanter Gast vor Ort war: James Mendez, seines Zeichens Kopf von Jihad und im Dunstkreis von Mentallo & The Fixer, Fektion Fekler und jetzt mit Don Gordon (Numb) in eben jenem erwähnten Projekt Data Void.
Kaum von der Dame am Merch erwähnt, kommt er schon herbei und zack, bin ich mit ihm mittem im Gespräch über seine aktuelle Tour, elektronische Musik, Politik, Gesellschaft, kurz: Gott und die Welt. Ein superlieber Typ, der James…
Auf dem Heimweg habe ich den Abend dann Revue passieren lassen und für mich festgehalten, dass genau dieses Gespräch, das Zwischenmenschliche, mein Sahnehäubchen dieses gelungenen Abends war. Ich bin gespannt, wer nächstes Jahr aufspiel und freue mich jetzt schon darauf.