Heilung: Rituelle Reinigung der Seele oder nordischer Mummenschanz?

Ich bin fasziniert von Trommelmusik der nordamerikanischen Ureinwohner und Räucherritualen im Kinderzimmer – davon zeugt noch heute ein eingebranntes Loch im Teppichboden in der Wohnung meiner Mutter. Obwohl ich mich den Einflüssen der Zivilisation nicht gänzlich entziehen konnte und begann, modernere Klänge zu schätzen, so ist meine Faszination für das Archaische geblieben, für Schamanen, die es verstehen, sich und andere in tranceartige Zustände zu versetzen, für dumpfe Trommeln, die eine starke Resonanz im Körper hervorrufen und für das Abbrennen von Räucherwerk, um die Mehlmotten zu vertreiben.

Rückbesinnung auf eine mystische Vergangenheit

Irgendwann bin ich dann auf die Nordic Ritual Folk Band Heilung gestoßen, die sich zum Ziel gesetzt haben, mit ihren archaischen Ritualen – denn so wollen sie ihre Konzerte verstanden wissen – den modernen Menschen mit seiner Umwelt und sich selbst wieder in Einklang zu bringen. Die Sängerin Maria Franz mit ihrer Gewandung, bestehend aus langem weißem Kleid, einem Vorhang aus Lederfransen vorm Gesicht und einem Hirschgeweih als Haarschmuck rief jedoch zunächst einmal Skepsis bei mir hervor: War die Band mit ihrem Anspruch ernst zu nehmen oder ging es hier um Faschingsschamanismus?

Jemand aus meinem Umfeld, dessen Meinung ich wirklich schätze, schwärmte mir vor, wie Heilung ihn bei einem Ritual begeistert hatten. Als ich dann erfuhr, dass sie im nur 40 Kilometer entfernten Saarbrücken auftreten würden, was eine Übernachtung überflüssig machte, beschloss ich, selbst an einem Heilungsritual teilzunehmen.

Was mir dabei allerdings etwas Unbehagen bereitete, war der Gedanke, dass Heilung mit ihrem Bezug zur nordischen Mythologie eventuell die falschen Leute anziehen könnten: Leute, neben denen ich nicht in einem Konzert stehen möchte. In den USA war es tatsächlich bei einem Auftritt von Heilung zu einem unschönen Zwischenfall gekommen, was die Band zu einem eindeutigen Statement gegen Rassismus und eine Vereinnahmung durch Rechts veranlasste. Da die Haltung der Band darin unmissverständlich zum Ausdruck kommt, war ich dann auch schließlich bereit, deren Klänge der Wikinger- und Eisenzeit auf mich wirken zu lassen und mir selbst ein Bild zu machen.

Schutzsuche vor sengender Sonne bei brachialen Klängen

Mit leichten Halsschmerzen, einer Kniebandage (man altert eben) und solidem Outdoorschuhwerk gegen das Umknicken auf unebener Fläche machte ich mich auf zum Open-Air Gelände hinter dem E-Werk, einer alten Industriehalle. Die Menschenschlange am Eingang, dunkelbunt und Metal dominiert, zeigte mir, dass ich richtig war.

Dank zügiger Sicherheitskontrollen durch ausreichend Personal gestaltete sich die Wartezeit kürzer als gedacht, so dass die Sonne keine Zeit hatte, meinen Teint zu ruinieren. Doch auch auf den Asphaltboden des Veranstaltungsgeländes brannte sie unbarmherzig nieder. Um nicht zur Asche zu zerfallen, zog ich mich an einen der wenigen Schattenplätze etwas weiter weg von der Bühne zurück und ließ mich dort nieder. So erlebte ich die Supportband nicht vor der Bühne stehend, sondern aus einiger Entfernung. Aber auch aus der Distanz konnte man gut einen Eindruck von ihnen bekommen.

Gekommen waren The Hu. Der Sound dieser mongolische Metalband war so gewaltig, dass man die durch die Bässe hervorgerufene Vibration auf dem ganzen Gelände spüren konnte. Zu Elemente aus dem Metal gesellten sich bei The Hu traditionelle mongolische Instrumente wie Pferdekopfgeigen und Maultrommeln, untermalt vom für Zentralasien typischen Kehlkopfgesang. Obwohl dies an sich eine interessante Mischung ist, wirkten The Hu für meinen Geschmack etwas zu martialisch. So war ich auch nicht betrübt darüber, als ihre Spielzeit vorbei war.

Das Ritual in der Dämmerung

Inzwischen waren die Schatten länger geworden, und bis zum Ende der Umbaupause, die ich nutzte, um deutlich näher an die Bühne heranzukommen, verzogen sich dann auch die letzten Sonnenflecken auf dem Gelände. Für den Auftritt von Heilung wurde die Bühne mit kleinen Bäumen, Tierschädeln und verschiedenen magischen Zeichen ausgestattet. Aus den Lautsprechern drang Vogelgezwitscher, welches die Illusion von Wäldern inmitten des alten Industriegeländes entstehen lassen sollte.

Das Ritual konnte beginnen. Es nahm seinen Anfang mit dem Ausräuchern der Bühne. Nachdem diese von allen negativen Schwingungen gereinigt worden war und der Duft des Räucherwerks auch die Zuschauer vor der Bühne eingehüllt hatte, erfolgte eine Art Gebet, welches zum Ausdruck brachte, dass Rassismus sich nicht mit der Philosophie von Heilung vereinbaren lässt. Darin wurde sowohl die Brüderschaft aller Menschen untereinander als auch die mit allen anderen Lebewesen sowie der unbelebten Natur beschworen, da alles auf denselben Ursprung zurückgehe.

Spätestens hier wurde deutlich, dass die Menschen vor der Bühne nicht Zuschauer einer Unterhaltungsshow, sondern Teilnehmer des Rituals waren, da sie die Zeilen des Gebetes nachsprachen. Diesem Ritual vermochte sich mit Einsetzen der Musik niemand mehr zu entziehen. Die Sprache des Gesanges variierte, aber auch Texte in Alt-Nordisch bzw. Ur-Nordisch schienen einigen gar keine Mühe beim Mitsingen zu bereiten. Maria Franz sorgte dabei mit ihrer klaren, hellen Stimme für ätherische Klänge, während Uwe Faust mit seinem Kehlkopfgesang wohl alte Naturgeister beschwor, erinnerte mich das heisere, aggressive Keifen von Christopher Juul an Dani Filth.

Als Instrumente wurden vorwiegend Trommeln, Rasseln und Flöten verwendet, die behutsam durch elektronische Klänge ergänzt wurden. Gelegentlich kam auch ein Streichinstrument zum Einsatz. Die Stimmung in den Songs variierte zwischen ruhig, meditativ, wie in dem von Marias Stimme getragenem Anoana und impulsiv, kriegerisch.

Diese Energie wurde noch durch mit Schilden und Speeren bewaffnete Krieger auf der Bühne verstärkt und bahnte sich ihren Weg ins Publikum. Ich selbst befand mich in einem sehr tanzfreudigen Konzertumfeld, doch trotz unseres starken Bewegungsdranges kam es zu keinerlei Rempeleien.

Seinen Höhepunkt fand das Ritual dann mit Hamrer Hippyer. Jetzt war endgültig das letzte Smartphone verschwunden und keiner konnte sich mehr dem düster-ekstatischen Reigen entziehen. Da dieses Ritual sowohl den Akteuren auf der Bühne als auch den Teilnehmern davor einiges an Kondition abverlangte, ist es nachvollziehbar, dass die Menge am Ende ohne Zugabe, aber dafür mit einem kurzen Segen in die Nacht entlassen wurde.

Die Wirksamkeit der Heilung

Völlig friedliche und entspannte Menschen verließen das Konzertgelände, die nicht den Eindruck einer rückwärtsgewandten, antimodernistischen Masse auf mich machten. Die Rückkehr ins moderne Leben vollzog sich rasch: Smartphones wurden gezückt, PKWs zur Heimreise aufgesucht: Es erweckte nicht den Anschein, als ob irgendjemand in der Eisenzeit verharren und sich dem Hier und Jetzt verweigern wollte.

Ob und wie das Ritual denn nun gewirkt hat, muss jeder Einzelne schlussendlich für sich selbst entscheiden.  Für mich persönlich hatte der rhythmische Tanz zu den archaischen Klängen in der Menge etwas Befreiendes, das nichts mit einer esoterischen Bewusstseinsveränderung oder mit der Heroisierung irgendeiner imaginären Vergangenheit zu tun hat. Es wurden über den Abend hinaus Energien freigesetzt, um es im Alltag wieder mit meinem größten Gegner aufnehmen zu können: Mit mir selbst. Auch die Halsschmerzen waren verschwunden.

Da die Rituale für die Band selbst offenbar sehr kräftezehrend sind, wollen Heilung nach dem Mera Luna und einem weiteren Auftritt an einem bisher unbekannten Ort eine Pause von unbestimmter Dauer einlegen, um mit neuer Energie zurückzukehren.

 

Schwarzer Wildwuchs abseits jeglicher Szene-Hotspots. Wird von allem ästhetisch Dunklen und Morbiden seit jeher magisch angezogen. Genießt Dunkelheit gerne in der Wildnis. Einzelgängerin, aber offen. Spürt Zugehörigkeit zur Szene seit dem Kontakt zu Spontis. Das schwarze Herz schwingt am stärksten durch „The Doors“, „The Cure“ und „Deine Lakaien.

Ähnliche Artikel

Kommentare

Kommentare abonnieren?
Benachrichtigung
guest
2 Kommentare
älteste
neuste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Chris Be
Chris Be(@chris-be)
Vor 15 Stunden

Sehr schön geschriebener und verständlicher Bericht.
Ich selbst konnte bisher noch nicht an einer rituellen Heilung teilnehmen.
Dennoch erinnert mich Outfit und Einsatz der Instrumente sehr stark an die Zeit von Patrick O’Kill zusammen mit seiner Frau Amodali mit Sixth Comm/Mother Destruction.
Auf jeden Fall sind solche Konzerte mehr als ein Konzert – sie sind Ritual, Reinigung und Mind Opener….

Gruftfrosch
Gruftfrosch(@gruftfrosch)
Vor 4 Stunden

Danke Maren für deinen Bericht. Diese Band übt auch auf mich eine Faszination aus und wenn sie mal wieder in der Nähe sein sollte, werde ich mich ebenso einem gemeinschaftlichen Ritual unterziehen. Leider hat es Anfang des Monats auf der Festung Königstein nicht gepasst bei mir, dabei ist der Ort allein schon magisch.

Diskussion

Entdecken

Friedhöfe

Umfangreiche Galerien historischer Ruhestätten aus aller Welt

Dunkeltanz

Schwarze Clubs und Gothic-Partys nach Postleitzahlen sortiert

Gothic Friday

Leser schrieben 2011 und 2016 in jedem Monat zu einem anderen Thema