DJ Marc Urban über drei Jahrzehnte schwarze Szene und Musik, die keinem Trend folgt

DJ Marc Urban gehört seit vielen Jahren zu den festen Größen der schwarzen Szene im Rhein-Main-Gebiet. Der Wiesbadener steht hinter Veranstaltungen wie Nightcrawling im Schlachthof oder der Dark Alliance im Mainzer KUZ und ist bekannt für seine klare musikalische Linie – zwischen elektronischer Strenge und atmosphärischer Tiefe, ohne sich von kurzlebigen Trends treiben zu lassen. Auf seiner Website djmarcurban.de teilt er seine DJ-Sets auf Mixcloud zum nachhören.

Neben seinen DJ-Sets arbeitet Urban als Journalist, schreibt für Magazine wie Sonic Seducer und spricht in seinem eigenen Podcast Nightcrawling auf Spotify mit Künstlerinnen und Künstlern über Musik, Szene und Subkultur. Grund genug für mich, mit ihm ausführlich über seine musikalischen Wurzeln, seine Arbeit als DJ und die Entwicklung der schwarzen Szene zu sprechen.

Spontis: Dann schieß mal los. Vorstellung, Name, Alter, Wohnort. Was du Privates preisgeben möchtest. 

Marc: Mein Name ist Marc Urban und ich komme aus Wiesbaden. Bei der Vorstellung wird’s schwierig, meine komplette Vita unterzubringen. Du müsstest schon konkret fragen – Beruf, Familienstand oder was auch immer.

Spontis: Beruf finde ich interessant!

Marc: Ich bin Journalist. Ich habe ein Stück weit mein Hobby zum Beruf gemacht. Oder Beruf zum Hobby. Das kann man drehen und wenden, wie man will. Ich habe Publizistik studiert und dann irgendwann angefangen, mein Hobby einzubinden und die Musik journalistisch zu verfolgen – auch für diverse Magazine wie das Zillo.

Spontis: Wenn du für das Zillo geschrieben hast, bist du schon sehr lange dabei. Alter ist in der Szene ein spannendes Thema. Ich war zehn Jahre auf keiner Party. Ich war echt geschockt…was heißt geschockt, ich fand es bemerkenswert, wie alt die Szene geworden ist. Früher gab es deutlich mehr jüngere Menschen.

Marc: Bis Corona würde ich dir zustimmen. Was ich allerdings in den letzten zwei, drei Jahren erlebe, primär beim Nightcrawling im Schlachthof, ist schon extrem. Es ist sehr auffällig, wie viele junge Leute da sind. Gerade beim letzten Mal, vor Fronleichnam, wo es sehr voll war, waren unfassbar viele junge Leute da – U30, teilweise U25.

Ich will mir das nicht ans eigene Revers heften. Der Schlachthof übernimmt ein wenig die Nachwuchsförderung. Sie sind in diesem Bereich durch viele Konzerte sehr aktiv. Und darüber kommen die Leute zum Nightcrawling.

Im KUZ, ehrlich gesagt nicht – aber im Schlachthof musst du mal darauf achten. 

Spontis: Dafür gibt es Veranstaltungen, auf denen ich mit Mitte vierzig zu den Jüngsten gehöre. Anderes Thema: Was ist dir sonst wichtig im Leben?

Marc: Politik, Weltgeschehen und Sport gehören durch meinen Job dazu. Ich bin vielseitig interessiert. Ich würde mich nicht als Newsjunkie bezeichnen, aber ich verfolge das Weltgeschehen, die Entwicklungen in der Welt und in meinem direkten Umfeld sehr aufmerksam. Einen großen Teil meiner Zeit nimmt jedoch die Musik ein – sowohl durch meinen Beruf als auch durch mein Hobby.

Spontis: Lass uns in Richtung Vergangenheit gehen. Wie bist du in die Szene gekommen? Wann war der Moment, in dem du gemerkt hast, das ist mein Ding, da will ich bleiben?

Marc: Diesen einen Moment gab es nicht. Es war in erster Linie die Musik. Ich würde mich nicht als klassischen Grufti bezeichnen. Ich bin niemand, der den ganzen Tag in Schwarz rumläuft und auch nichts anderes aushalten kann als schwarze Menschen um mich herum. Auf den Veranstaltungen hat mich die Musik gelockt.

Dieses übliche Radiogedöns oder auch Musik, die bei uns zu Hause lief – die mein älterer Bruder gehört hat, die meine Eltern gehört haben, die wir im Radio gehört haben – das hat mich überhaupt nicht angemacht. Dazu kam, wie sich die Leute zu dieser Musik verhalten haben. Dieses happy-happy, in die Hände klatschen und herumtanzen, das hat mich nie angemacht.

Da habe ich bewusst oder unterbewusst nach Abgrenzung gesucht. Und die habe ich dann in dieser Musik gefunden. Wobei ich nicht klassisch mit einer Band wie Front 242 eingestiegen bin. Ich bin über den Weg New Model Army, Sisters of Mercy und The Cure reingekommen.

Und dann habe ich, wie du wahrscheinlich auch, rückwirkend konsumiert. Ich habe mich rückwärts orientiert mit der Musik, um alles aufzuholen, was ich verpasst habe.

Spontis: Die heutigen Neueinsteiger können 45 Jahre und mehr zurückgehen. Gerade mit den heutigen technischen Möglichkeiten stelle ich mir das sehr spannend vor. Das heißt, du bist eher nicht mit weißer Schminke im Gesicht unterwegs gewesen?

Marc: Eher relativ normal. Klar, ich habe mich angepasst beziehungsweise Gefallen daran gefunden, mich entsprechend zu kleiden, so dass ich nicht unangenehm auffalle. Das verbietet auch der Respekt vor der Szene. Aber ich würde mich in anderen Bereichen nicht als Hardcore-Gruftie bezeichnen. In erster Linie gefällt mir die Musik.

Spontis: Das wirft die Frage auf, was ist Gothic überhaupt? Früher gab es die Diskussion, was Gothic ist und was nicht? Die Abgrenzung Gothic vs. Cyber-Gothic. Es wurde bis zum Geht-nicht-mehr rumdiskutiert. Was macht das im Kern aus? Gothic ist eine musikgetriebene Kultur. Wenn du der Musik verbunden bist – bist du in dem Moment nicht Gothic?

Marc: Das lässt sich inzwischen alles gar nicht mehr so genau sagen – inzwischen ist alles sehr zerfasert. Das ist ein ewiges Diskussionsthema, gerade wenn es um Festivals wie das WGT geht. Da gehen die, die für sich in Anspruch nehmen, die ersten Grufties gewesen zu sein, gar nicht mehr hin. Viele andere gehen hin, weil sie sagen, na ja, da kann ich wenigstens viele Bands, die ich kenne, auf einmal sehen. Ich lerne neue Bands kennen, lerne neue Leute kennen.

Ich weiß gar nicht, ob sich das noch genau herausarbeiten lässt, was zuerst da war: Die Henne oder das Ei. Ich denke, dass der ursprüngliche Ausdruck von Grufti nicht die Musik war. Konzerte und Partys waren der Ort, an dem sie sich getroffen haben, sich über den Weg liefen, sich versammelten und gemeinsam feierten.

Heute hast du es viel einfacher, weil alles vor deinen Füßen liegt und du nur zugreifen oder hingehen musst.

Spontis: Ich habe das Thema für mich abgeschlossen. Wichtig ist: Hingehen, Spaß haben und genießen. Man muss nicht alles totdefinieren.Waren Rebellion oder Selbstausgrenzung relevante Themen für dich?

Marc: Rebellion – mit dem Begriff tue ich mich ein wenig schwer. Wo fängt Rebellion an, wo hört sie auf? Was ist sie eigentlich? Eine bewusste Rebellion gegen irgendwas oder irgendwen? Für mich galt das mit Sicherheit nicht. Außer vielleicht gegen den Mainstream in jeglicher Art und Weise, wie er damals definiert war. 

Gegen Radiomusik und Klamotten von Peek und Cloppenburg. Rebellion gegen oder eher Abgrenzung von Stadtfesten, von irgendeiner willenlosen Kerb auf dem Dorf und den entsprechenden Saufgelagen mit irgendwelchen Kerbe-Burschen.

Ich würde das eher als Abgrenzung beschreiben und nicht als Rebellion. Richtig rebelliert habe ich nicht.

Nonkonformismus ist das Stichwort. Das passt auf verschiedene Bereiche – auf Musik, auf den Mainstream, auf Freundschaften, auf Familie, auf die Art und Weise, wie du dein Leben lebst.

Nicht über einen Kamm mit 50.000 anderen geschoren zu werden und ein graues Gesicht in der Masse zu sein.

Spontis: Das ist der Punkt, auf den ich mit der Frage hinaus möchte: Ich bin anders. Ich gehe nicht konform mit dem, wie es läuft, und zeige das auch. Hat dich deine Liebe zur Musik zum DJing gebracht?

Marc: Das war tatsächlich Zufall. Ich war damals regelmäßig im KUZ in Mainz. Das war Ende der 80er, Anfang der 90er– und habe mich da relativ schnell mit einem DJ angefreundet. Das KUZ hatte mehrere DJs und er war derjenige, der ein relativ breites Spektrum abgebildet hat. Er hat zu der Zeit schon Sachen wie Pitchfork und Deine Lakaien gespielt– vereinzelt nur, aber immerhin.

Er wurde krank und hat eine Vertretung gesucht, und ich habe gesagt: Ja, kann ich machen, ich habe das entsprechende Zeug zu Hause. Habe mir von ihm noch ein paar Sachen ausgeliehen und dann ging es los – 1994.

Ich habe ebenfalls dieses alternative Programm abgedeckt und zusätzlich angefangen, in der ersten Stunde diesen schwarzen Krempel zu spielen: „Front 242“, „Das Ich“ oder „Silke Bischoff“.

Auf einmal kamen immer mehr Schwarzgewandete – die du früher nur vereinzelt gesehen hast. Auch von weiter weg. Sie wussten, am Mittwoch bei der Perfect Beat Party lief zwischen 23 Uhr und Mitternacht ihre Musik. Dummerweise ist mir genau das zum Verhängnis geworden. Die Geschäftsführer wollten das nicht und haben mich deswegen rausgeworfen.

Die Ironie war, dass sie zwei Jahre später den Dirk Neveling aus Bochum holten – ab diesem Zeitpunkt fand das Dark Awakening im KUZ statt. Da war der Laden dann an einem Samstag voll. Das hätte man auch vorher erreichen können.

Spontis: Wir waren auch immer auf dem Dark Awakening. Anfangs jeden dritten Samstag. Irgendwann fand die Veranstaltung alle zwei Wochen statt. Welche weiteren Veranstaltungen hast du im Lauf der Jahre bedient? 

Marc: Viele Läden, die es nicht mehr gibt. Ich habe nach dem KUZ viele Jahre eine Party im Biergarten in Dieburg gemacht. Das war ein Stammtag, den ich von einer befreundeten DJane geerbt hatte. Der hieß damals noch St. Doomsday. Den gab es schon seit Anfang/ Mitte der 90er Jahre. Ein relativ großer Laden. Die Party war mit ungefähr 200 Leuten immer voll – jeden Donnerstag!

Dann habe ich relativ schnell in anderen Läden aufgelegt. Im Cooky’s in Frankfurt, im Red Cat in Mainz, im MTW in Offenbach, in der Krone in Darmstadt. Manchmal länger, manchmal kürzer, aber eigentlich in allen Läden im Rhein-Main-Gebiet, die sich irgendwie eine schwarze Party geleistet haben. Und dann eben auch darüber hinaus, wie im X in Herford oder im Der Cult in Nürnberg.

Zwischendrin kam der Schlachthof dazu. Das ist, würde ich sagen, die größte und vielleicht wichtigste Party für mich. Bis vor Kurzem war ich DJ beim Fürstentanz in Bad Homburg – insgesamt zehn Jahre. Zusätzlich habe ich auf diversen Festivals, wie dem Zillo, dem M’era Luna, dem Out Of Line Weekender oder dem Plage Noir aufgelegt.

Spontis: Da kannst du auf eine beeindruckende Vita zurückblicken. Könntest du uns von deinen aktuellen einzelnen Veranstaltungen berichten? Ich habe den Eindruck, dass du den musikalischen Schwerpunkt je nach Veranstaltung anders setzt?

Marc: Das versuche ich tatsächlich. Ich hoffe, dass man das raushören kann. Nightcrawling ist die Party schlechthin, die ich auch am längsten mache – inzwischen seit fast 20 Jahren. 

Die hat im Idealfall zwei Floors. Ich bediene auf dem großen Floor alles, was elektronisch ist, was mit Synthesizern ist, wo keine Gitarre am Start ist. Der kleine Floor soll alles das beinhalten, was eine Gitarre hat. Ob das dann Darkwave, Gothic Rock oder Mittelalter ist, spielt erstmal keine Rolle. Im Idealfall sollte kein Titel, den man auf dem großen Floor hört, auch auf dem kleinen Floor laufen.

Die Dark Alliance im KUZ in Mainz ist anders gelagert. Da habe ich einen Floor. Da spiele ich nicht nur elektronische Sachen, sondern auch Cold Wave oder generell mehr Sachen mit Gitarre wie She Past Away oder Ash Code. 

Musikalisch soll die Party ein sehr breites Spektrum abdecken – quasi alles, was es auf dem Markt gibt. Meistens ein bisschen klassisch angehaucht. Im KUZ sind eher ältere Leute. Ich habe festgestellt, dass die für ganz neue Sachen nicht ganz so offen sind.

Dann habe ich noch die Depeche-Mode-Partys. Einmal in der Linie Neun in Darmstadt-Griesheim und ebenfalls im KUZ in Mainz. Da läuft Depeche Mode und Synth-Pop der 80er, aber auch mal neuere Sachen, wenn sie reinpassen.

Spontis: Du hast eine neue Veranstaltung in Wiesbaden?

Marc: Im Kulturpalast. Der hatte lange zu. Während Corona wurde dort Asbest gefunden und die Venue oben drüber, der Tattersall, musste ebenfalls renoviert werden.

Die haben wieder geöffnet und ich habe angefangen, dort eine Party zu veranstalten: Dark 80s – so wie das Ganze musikalisch angefangen hat. Da kann Front 242, da kann auch Gary Numan laufen, da laufen Sisters of Mercy, da läuft The Klinik, Lene Lovich, Grauzone.

Das ist genau das Format, das ich jedes Jahr beim WGT mache. Die Abschlussparty montags in der Moritzbastei zusammen mit Frank D’Angelo – das hat sich auch in kürzester Zeit im Kulturpalast etabliert. Was mich sehr freut, aber gleichzeitig auch ein wenig überrascht.

Spontis: Passend zu den musikalischen Schwerpunkten auf deinen Partys: Welche Bedeutung hat Musik für dich?

Marc: Sie nimmt einen Großteil meines Lebens ein. Durch die Autorenschaft beim Sonic Seducer und durch meinen Podcast Nightcrawling habe ich die Gelegenheit, viele Sachen frühzeitig anzuhören.

Zusätzlich schicken mir Bands gerne ihre Alben, bevor sie veröffentlicht werden. Manchmal wollen sie eine Einschätzung oder fragen, ob ich ihre Songs schon mal auflegen kann. 

Bei mir läuft permanent Musik. Tatsächlich – das ist ein wenig die Krux an der Sache – komme ich selten dazu, meine Lieblingsplatten zu nehmen und zu sagen, die höre ich mal wieder. Ich habe immer 15 Sachen, die ich mir noch anhören muss. Das geht mit dem Job einher.

Da ist viel Zeug dabei, das ich privat nicht mit der Kneifzange anfassen würde. Klar, jede Band hat sich Mühe gegeben, hat Zeit und Geld reingesteckt, und da willst du nicht ein vernichtendes Urteil fällen, das aufgrund deines persönlichen Musikgeschmacks entsteht.

Da muss man versuchen, fair zu sein. Trotzdem muss ich mir solche Sachen zwei- oder dreimal anhören. Ein Album hat eine Laufzeit zwischen 35 und 50 Minuten. So rennen dir drei Stunden des Tages weg.

Musik nimmt einen sehr großen Teil meines Lebens ein. In der Mehrheit macht es Spaß, aber manchmal ist es nicht vergnügungssteuerpflichtig.

Spontis: Mich würde es total nerven, wenn ich dreimal ein Album hören müsste, auf das ich gar keinen Bock habe, und das dann auch irgendwie bewerten muss. Es gibt inzwischen so viele Bands mit einem Level an Qualität, das unglaublich breit und tief ist. Warum soll ich die Sachen hören, die Mittelmaß sind, wenn ich doch die anderen zehn Sachen hören kann, die richtig gut sind? Allerdings muss man die aus dem Ganzen herausfiltern.

Da kommen so Leute wie ich ins Spiel. Als DJ oder als jemand, der das als Juror bewertet. Da ist man ein wenig der Gatekeeper und schaut: Okay, das kann ich den Leuten empfehlen, das nicht.

Ich mache das ehrlicherweise seit einigen Jahren bei den Magazinen, dass ich Themen nicht annehme oder Platten nicht rezensiere, bei denen ich genau weiß, es gefällt mir nicht oder ich kann nichts Gutes darüber schreiben. Dann gebe ich es lieber zurück. Dann soll es jemand anders bewerten.

Ich möchte im Idealfall – das ist wahrscheinlich auch ein hehres Ziel –, dass die Leute mit meinem Namen verbinden: Was der gut findet, fand ich zu 90 % auch immer gut. In das Album höre ich mal rein.

Spontis: Du schreibst auch anders über eine Sache, wenn du emotional mit ihr verbunden bist. Dann fällt es dir viel leichter, die richtigen Worte zu finden und offen zu sein. Ich würde niemals irgendwas schreiben, auf das ich oder jemanden interviewen, auf den ich keinen Bock habe.

Marc: Das mache ich auch nicht. Tatsächlich ist es so, dass ich nicht alles annehme. Das ist der Vorteil, wenn man beruflich oder finanziell nicht davon abhängig ist.

Das ist ein Hobby – wenn ich mit der Band nichts anfangen kann, nehme ich mir die Freiheit heraus, zu sagen: Ich mache die Story nicht. Das gebe ich zurück. Sonst würde es mir auch schwerfallen, da objektiv zu sein.

Das kostet auch viel Zeit. Zeit ist, je älter man wird, ein Faktor, der an Bedeutung zunimmt. Vor zehn Jahren hat mich das nicht gestört, wenn ich nach der Arbeit noch mal drei Stunden an einem Artikel gesessen habe.

Inzwischen achte ich sehr genau darauf, womit ich meine Freizeit verbringe. Deshalb habe ich die Schreiberei runtergefahren und investiere mehr Zeit in den Podcast.

Spontis: Von wegen „Nicht-mit-der-Kneifzange-Anfassen“: Welche Band hörst du aktuell privat?

Marc: Das ist sehr vielfältig und ändert sich ständig. Zum Auflegen schaue ich, dass ein paar neue Songs dabei sind, ein paar neue Tracks. Dementsprechend höre ich sehr viel.

Wovon ich aktuell sehr begeistert bin und was ich permanent höre, ist Dina Summer. Deren Album finde ich phänomenal. Die Band habe ich im März 2025 in Mainz im Schon Schön live gesehen. Da waren auch nicht viele Leute. Zu diesem Zeitpunkt kannte die kaum jemand.

Von dem neuen Album habe ich ein paar Lieder aufgelegt. Dann kamen sofort die Nachfragen: Was ist das? Total cool!

Was ich aktuell auch sehr gerne höre, ist Night in Athens. Die habe ich letztens auf dem WGT gesehen. Großartige Künstlerin, die DIY-mäßig ihre Sachen aufgenommen hat. Die finde ich sehr stark.

Twin Tribes höre ich sehr gerne. Kite: Ganz, ganz großartig. Unheimlich geile Liveband mit 80er-Flair. Mit den großen Maschinen kommt man sich ein wenig vor wie bei Zurück in die Zukunft, im Labor des Professors. Das ist als Gesamtkunstwerk schon sehr, sehr cool gemacht.

Ich höre auch Traitors gerne, höre Moonvampire gerne. Also gar nicht so sehr, was viele Leute vom Auflegen gerne mit mir verbinden – dass ich nur so Elektro-Zeug höre oder so eine Elektro-Bratze bin. Bin ich gar nicht. Ich höre das ganz gerne, auch durch die Schreiberei. Das sind die Bands, die ich interviewe und seit vielen Jahren begleite. Klar, ich höre sehr gerne NeuroticFish, Faderhead oder Roter Sand. Aber wenn ich abseits davon privat unterwegs bin, sind es eher die Klänge, die ich jetzt gerade genannt habe.

Spontis: Ich finde deine letzte Aussage total spannend. Fast alle, die ich interviewt habe, haben ähnliche Aussagen getroffen. Daher frage ich mich, weshalb das auf den Tanzflächen nicht ankommt. 

Marc: Das ist in unserer Szene, in der es auch einen Mainstream gibt, eben kein wirklicher Mainstream. Es ist Underground im Underground. Da gibt es eine eigene Szene. Wenn du auf diese Festivals gehst – parallel zum WGT findet beispielsweise das Gothic Pogo statt – geht es eher in diese Richtung.

Manche Bands aus diesem Spektrum, wie zum Beispiel Rue Oberkampf, haben den Transfer in die größere Szene geschafft. Die sind jetzt auf den größeren Festivals unterwegs.

Bei den anderen weiß man nicht: Wollen sie diesen Transfer schaffen oder wollen sie um jeden Preis im Underground und in ihrer relativ kleinen Szene bleiben? Es ist heutzutage auch schwierig, sich publik zu machen.

Spontis: Rue Oberkampf haben zugegebenermaßen einen sehr transferfähigen Sound. Nun zur Entwicklung der Szene. Du hast das damals live miterlebt: Es gab einen deutlichen Wechsel von klassischer Gruftie-Musik hin zu härteren elektronischen Stilen – ob Aggrotech, Futurepop oder ähnliche Strömungen. Du kennst bestimmt viele Leute, die damals nicht mehr weggegangen sind, weil sie darauf keine Lust hatten. Wer hat diese Entwicklung deiner Ansicht nach vorangetrieben?

Marc: Das ist ein großes Thema, zu dem jeder eine eigene Meinung hat. Anhand von Aggrotech oder des Cyber-Elektros lässt sich das gut erklären.

Das war so die Zeit um 2004 oder 2005, als diese härteren Sachen kamen. Da kamen dann plötzlich diese Leute mit ihren hohen Plateauschuhen und den neonfarbenen Dreads. Wie Heuschrecken waren die auf einmal da, haben gefühlt jede Party gesprengt und sich da so breitgemacht, dass viele andere sich nicht mehr wohlgefühlt haben.

Und dann war dieses Phänomen plötzlich weg. Auch musikalisch glücklicherweise. Mir hat vieles davon nicht gefallen. Ich empfand das als sehr kurzlebigen Trend und wenig aussagekräftig. Musikalisch wenig anspruchsvoll, wenig reizvoll.

Ich bin der festen Überzeugung, dass dadurch viele Partys gestorben sind. Die DJs haben ausschließlich Musik für diese Leute gespielt. Und diese Leute sind nicht treu zur Szene gewesen. Die sind auf diese Partys gegangen und irgendwann halt nicht mehr. Und das hat vielen das Genick gebrochen.

Auf keinen meiner Partys habe ich diese Musik im Übermaß gespielt. Im Schlachthof ein wenig, aber nie sonderlich lange. Im Nachhinein bin ich heilfroh darüber. Ich glaube, dass dadurch das Nightcrawling und auch einige andere Sachen, die ich gemacht habe, überlebt haben. Weil ich mich an diesen Trend nicht drangehängt habe. Einige andere haben das gemacht. Die Partys gibt es nicht mehr – und die DJs zum Teil auch nicht mehr.

Spontis: Das ist spannend. Im Prinzip ist es eine Art Evolution: Die Leute kommen, du spielst etwas, dann wünschen sie sich bestimmte Songs. Je mehr Wünsche in eine Richtung gehen, desto mehr spielst du davon – und irgendwann verändert sich die ganze Party. Ich sehe den DJ eher in der Rolle des Kurators. Klar, Wünsche sind wichtig und sollten ihren Platz haben, aber die Struktur einer Party sollte im Kern vom DJ vorgegeben werden. Dafür gibt es schließlich auch die unterschiedlichen Partys mit jeweils eigenem Konzept.

Marc: Ich sehe das auch so. Negativ gesprochen drückst du den Leuten am Ende deinen eigenen Musikgeschmack oder irgendeinen Trend, den du selber gerade cool findest, auf. Im Umkehrschluss ist es so: Wenn die Leute sich alles wünschen können, gibt es keinen roten Faden in der Party.

Bei mir kann man sich immer etwas wünschen. Es gibt dreierlei Arten von Gästen. Die einen, die das irgendwo aufschreiben wollen, die gar nicht mit dir reden wollen, die wollen einfach nur einen anonymen Wunsch droppen – mache ich nicht.

Dann gibt es eine neue Generation, die habe ich besonders gefressen. Die kommen nicht mal mehr zu dir, geschweige denn, dass sie mit dir reden oder dich grüßen. Die halten dir einfach nur das Handy-Display mit einem Titel und einer Band, die da draufsteht, unter die Nase – meistens beides falsch geschrieben, sodass ich erst mal überlegen muss, um wen es eigentlich geht.

Dann gibt es eine dritte Art von Leuten, die zu dir kommen. Erst mal freundlich Hallo sagen: Ich würde gerne das und das hören. Passt das vielleicht später rein? Oder wenn das nicht passt, dann vielleicht das. Und das sind die Leute, die die besten Chancen haben, dass ich deren Wünsche spiele.

Es ist ganz oft so, dass jemand zu mir kommt und ich denke: Das ist ein cooler Wunsch. Vielleicht passt er jetzt nicht rein, vielleicht passt er in einer Stunde, vielleicht passt er heute auch gar nicht. Aber ich habe es wahrgenommen, und ich finde es cool. Ich versuche, es einzubauen.

Spontis: Vielleicht sind die jungen Menschen unsicher, dich anzusprechen oder wollen dir nicht auf die Nerven gehen? 

Marc: Das sind aber nicht nur die ganz Jungen. Ich agiere nach dem Spruch: Wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück. Diese Leute, die dir einfach nur das Display unter die Nase knallen, sind dann diejenigen, die sich hinterher per Social Media über dich auskotzen und hochbeleidigt sind, weil du ihnen irgendeinen barschen Spruch gedrückt hast. Nach dem Motto: Kann der nicht erstmal guten Abend sagen? Sie schauen sehr genau auf dein Verhalten. Bei ihrem eigenen Verhalten sind sie dagegen sehr tolerant.

Spontis: Das mit dem Handy habe ich gelesen. Da hat sich jemand online über dich beschwert, du wärst unfreundlich.

Marc: Das passiert immer wieder. Ich bin da inzwischen – ich mache das seit 30 Jahren – echt abgebrüht und mache mir da keine Platte mehr. Dann sollen die Leute hinterher rumheulen. Ist mir egal. Ich finde, ein Mindestmaß an Umgangsformen sollte man mitbringen.

Spontis: Ja, denke ich auch. Aber man darf die Leute auch ein wenig erziehen :)

Marc: Genau das versuche ich hin und wieder – manchmal klappt es, manchmal nicht.

Spontis: Fühlst du dich beim Auflegen noch gestresst oder geht dir das locker von der Hand?

Marc: Kommt drauf an. Ich leg beim M’era Luna wieder auf. Da sind so 5.000 Leute, da geht der Puls schon ein bisschen hoch. Aber weniger wegen der Musik, sondern eher wegen der technischen Gegebenheiten.

Kürzlich hatte ich bei einer Party wieder massive technische Probleme. Das Ärgerliche ist für mich, dass ich denke, dass es bei den Leuten so ankommt: Was ist das für ein Typ? Der kann das überhaupt nicht. Die Player hatten einen Kabelbruch, und ein Kanal am Mixer war im Eimer. Und das merkst du original genau in dem Moment, wenn die Technik abschmiert – und das verursacht Stress.

Das macht mich dann auch „Unlocker“. Ich bin auch nur ein Mensch. Ich habe Emotionen. Es gibt Tage, an denen bin ich besser drauf. Es gibt Tage, an denen bin ich nicht so gut drauf. Das kann sich sehr schnell auf die Musik auswirken. 

Spontis: Bringst du deine Player selbst mit oder wird die Ausrüstung vom Club gestellt?

Marc: Naja, ich bin noch einer der Alten, der mit CDs auflegt. Das machen kaum noch welche. Das Problem ist, es gibt noch Player, aber es werden keine Ersatzteile mehr gebaut. Die Dinger zu warten, ist relativ schwierig.

Und deswegen bin ich in manchen Venues der Einzige, für den sie die rausholen müssen. Und dann kann es durchaus passieren, dass da irgendwas kaputt ist und keiner hat’s mitbekommen. Und wenn ich dann komme und nach dreieinhalb Stunden ist das Ding heißgelaufen und schmiert ab – dann war es das.

Ich bringe meine CDs und Kopfhörer mit. Die Abspielgeräte sind Sache des Ladens.

Spontis: Warum noch CDs?

Marc: Ja, gute Frage. Tatsächlich habe ich den Absprung verpasst, während alle um mich herum relativ schnell auf MP3 umgestellt haben. Inzwischen habe ich hier so 20.000 CDs. Die müsste ich alle digitalisieren. Ich will gar nicht wissen, wie lange das dauert.

Aber das lässt sich nicht mehr lange durchhalten. Spätestens übernächstes Jahr muss ich umsteigen – allein deswegen, weil es keine Player mehr gibt.

Spontis: Die Gründe für die bisherige Entwicklung haben wir besprochen. Wie geht es in den nächsten Jahren weiter?

Marc: Schwer zu sagen. Die Szene hat sich schon oft erneuert, oft neue Ausprägungen gefunden. Neue Bands hervorgebracht, die vielleicht jetzt nicht ganz groß, aber schon größer geworden sind. Ich glaube, sie wird sich immer weiter aufsplitten.

Ich glaube, dass es immer – und vielleicht in Zukunft auch wieder verstärkt – Leute geben wird, die nonkonformistisch sein wollen.

Viele Leute aus dem Mainstream wissen nicht, dass es diese Szene gibt, dass es diese Musik gibt. Ich habe ganz oft erlebt, dass Leute im Auto oder während einer Netflix-Serie so einen Titel gehört haben und dann dachten: Oh, das ist ja geil, das ist ja völlig anders als alles andere. Das ist ein bisschen melancholisch, das ist süß, das finde ich cool. Und dann kommen die auch in die Szene, gehen auf Partys, auf Konzerte und Festivals. 

Ich glaube, dass es diesen Nachwuchs immer geben wird. Wie es weitergeht, ist schwer zu sagen. Aktuell haben wir sehr stark diese Cold Wave-Entwicklung, dieses Wavige wieder – nachdem wir ganz lange diese Future Pop-Phase hatten. Ich habe den Eindruck, dass genug musikalisches Potenzial vorhanden ist. 

Bands wird es immer neue und immer gute geben. Das Publikum – ob das kommt und so viel, dass man Partys aufrechterhalten kann, dass man große Festivals aufrechterhalten kann – das weiß ich nicht. Das ist schwer zu sagen. Ich denke, die nächsten fünf Jahre haben wir kein Problem.

Spontis: Aktuell sind zumindest die großen Festivals so voll wie nie und die Karten sind schnell ausverkauft. Gefühlt gab es noch nie so viele Partys im Rhein-Main-Gebiet.

Marc: Es gibt immer weniger Läden. Das ist das Problem, und – was es früher nicht gab – es gibt sehr kleine Partys, zu denen 20 Leute hingehen oder Kneipen, die dann die Musik anbieten. In denen man nicht tanzen, aber die Musik hören kann. 

Spontis: Vielen Dank für das Interview. Möchtest du noch ein letztes Wort an unsere Leser richten?

Marc: Ja, ich habe das schon gesehen, als du mir die Fragen geschickt hast: Das letzte Wort – als würde man gleich abtreten. Wenn man unbedingt ein Schlusswort braucht, sage ich ganz gerne, dass man immer neugierig bleiben sollte – vor allem auf Musik. Und schauen sollte, dass man Partys und Konzerte besucht, um die Vielgliedrigkeit und die Vielschichtigkeit dieser Szene zu erhalten.

Ich würde die Leute dazu ermuntern, ein- bis zweimal im Monat auf eine Party oder zu einem Konzert zu gehen. Vielleicht auch von Bands, die man nicht zum 20. Mal sieht, sondern auch mal einer neuen Band eine Chance geben.

Es gibt so viele Bands, die neu dazu kommen. Musikproduktion kostet fast nichts mehr. Du kannst alles selbst zu Hause machen. Du brauchst keinen Produzenten, du brauchst kein Studio. Dementsprechend gibt es ein großes Überangebot.

Umso wichtiger sind Partys, bei denen du einen DJ hast, der die Sachen schon im Voraus filtert und präsentiert. Und vor allen Dingen sollten die Leute das irgendwie zu schätzen wissen – auch die, die unter 30 sind und den ganzen Sachen eine Chance geben.

1998 in die Szene eingestiegen. Die folgenden Jahre habe ich intensiv Veranstaltungen und Konzerte besucht. 2017 habe ich eine Familie gegründet - keine Musik, keine Veranstaltungen, keine Konzerte, keine Festivals, keine eigenen Gedanken. Jetzt kehre ich endlich wieder zurück vor die Bühne.

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John Doe
John Doe(@arno-siess)
Vor 1 Tag

Ganz tolles Interview!
Da kommen Erinnerungen hoch.
Krone, Biergarten, seufz…
Gerade der „Biergarten“ in Dieburg war Donnerstags unser Wohnzimmer.😄
Schade, daß der Laden abgerissen wurde. 😢

Black Alice
Black Alice(@blackalice)
Vor 1 Tag

Danke für das Interview. Irgend wie wiederholen sich viele Aussagen in solchen Interviews. Die Erkenntnisse sind oft immer wieder extrem ähnlich die man gewinnt und bestätigen sich immer wieder.

Victor von Void
Victor von Void(@vivovo)
Vor 14 Stunden

Als ehemaliger langjähriger Darmstädter muss ich auch sagen, dass die Szene und Parties sich im Rhein-Main-Gebiet im Lauf der 2000er und später schon sehr verändert haben, vor allem mit Corona. Da sind dann viele Veranstaltungen einfach gestorben z.B. Corona Negra in der Krone, vermutlich aus genau den Gründen, die DJ Marc Urban genannt hat.

Ein weiteres Problem, welches er nicht genannt hat, war aber IMHO auch hausgemacht: die Termine haben sich oft überschnitten, so dass man an einem Wochenende gleich zwei, drei oder noch mehr Parties in Reichweite hatte, am nächsten dafür dann gar keine.

Die einzelnen Parties waren dadurch oft unterdurchschnittlich besucht, und nicht selten gab es dann auch nur noch eine Mischung aus Mittelalter, Aggrotech und Metal (der dann, wenn überhaupt, auch nur peripher was mit Gothic zu tun hatte), und teilweise liefen sogar jedes Mal die gleichen Songs der gleichen Bands. Als hätte der jeweilige DJ nur ein paar Sampler zuhause, auf denen es immer nur diesen einen Song der Band gab. Selten mal was Neues (und wenn dann nur Sachen, die gerade eh überall hoch und runter gespielt wurden) oder gar Unbekanntes, und nie(!) klassischer Gothic Rock oder Death Rock, egal ob neues Material neuer Bands oder Klassiker der alten Bands.

Natürlich war nicht jede Party so, aber die oben genannten Überschneidungen machten es schon schwierig, herauszufinden, welche Party sich an dem jeweiligen Tag denn lohnte und welche nicht. Das Nightcrawling habe ich aber tatsächlich diesbezüglich eher in guter Erinnerung.

Letzte Bearbeitung Vor 14 Stunden von Victor von Void

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