Buch-Tipp: Das Postpunk Projekt – Some wear leather some wear lace

Die Musik-Stile, die nach der Explosion des Punks die Welt überfluteten und für eine nie dagewesene Fülle von Jugendszenen sorgten, sind erforscht. Unzählige Bücher sind seit dem erschienen, die die Entwicklung auf schwarzen Bühnen detailreich beschreiben und analysieren. Doch was geschah vor den Bühnen? Wieso sahen die Fans der einschlägigen Bands aus, wie sie aussahen? Mit Beginn der 80er Jahre erscheinen unzählige Szenen mit eigenem Style auf der Bildfläche und geben den Außenstehenden Rätsel auf. In London, dem subkulturellen Schmelztiegel dieser Zeit nannte man sie „New Romantics“, „Blitzkids“, „Punks“, „New Wavers“ oder auch „The Bats“. Der Style der Bühnen wurde offensichtlich kopiert, verändert und weiterentwickelt.

Heute, 35 Jahre später, werden Bilder von damals frenetisch gefeiert – junge Punks, Waver, Grufties oder New Waver, die auf diesen Aufnahmen zu sehen sind, werden zu Stilikonen erhoben. Das Buch „Some wear leather some wear lace“ ist eine umfangreiche Sammlung dieser alten Bilder, die für das „Worldwide Compendium of Postpunk and Goth“ in Zusammenhang gesetzt und mit Interviews und Texten bereichert werden.

Kim und Val aus den USA - 1983
Kim und Val aus den USA – 1983

Die beiden Autorinnen Andi Harriman und Marloes Bontje lernen sich 2012 über Tumblr und die gemeinsame Begeisterung für diese alten Bilder kennen – beide sind glühende Anhänger diese Ära und sammeln akribisch alte Aufnahmen aus der Zeit zwischen 1980 bis 1990. Irgendwann keimt der Gedanke, ein Buch daraus zu machen. Der Hintergrund: Andi und Marloes halten die Clubs für die Heimat der Szene, denn hier feiern die Selbstdarsteller ihre Outfits. Sie recherchieren unzählige alte Aufnahmen von den Leuten, die damals dabei gewesen sind und finden bei Fotografen, die seinerzeit in der Club-Szene unterwegs gewesen sind, viele seltene Aufnahmen. Im März 2013 starten sie das Postpunk Project und sammeln das nötige Geld, ihre Idee in gedruckte Form zu bringen, über eine Crowdfunding-Kampagne. Im September 2014 ist es endlich soweit – die ersten Bücher sind gedruckt und verkaufen sich in Windeseile. Kurz vor Weihnachten kam auch ich in den Genuss, ein Exemplar bei Tee und Kerzenlicht zu inhalieren.

Inhalt

Es erscheint mutig und gleichzeitig sehr spannend, die Szene anhand ihrer Protagonisten und nicht anhand der musikalischen Grundlage zu betrachten. Das oberflächliche Motto „be cool, dress to impress and do-it yourself“ scheint auf den ersten Blick nicht die richtige Zusammenfassung einer Szene zu sein, die sich zu gerne die Liebe zu Literatur und Interesse für dunkle Künste auf die schwarzen Fahnen schreibt. Doch der erste Blick trügt, denn genau dieses Motto hat die Gothic-Szene aus der Taufe gehoben. Was man auf der Bühne sah, wurde kopiert und weiterentwickelt, Stars wie David Bowie inspirierten mit ihrem Style unzählige Jugendliche mit dem Wunsch, „besonders“ zu sein. Die Stimmung und die Inhalte der Musik wurden in Style umgesetzt, frei nach dem Motto „Everyday is Halloween“ schmückten man sich mit Kreuzen und Totenköpfen und mischte Hammer-Horror Ästhetik mit Einflüssen der Punks und New Romantics.

Für ihr Buch haben Andi und Marloes unzählige Quellen recherchiert und sich mit den Menschen, die damals zur Szene gehörten, auseinandergesetzt. „Qualitativ hochwertige Bilder aus den 1980er Jahren zu sammeln, war keine leichte Aufgabe. Auf zehn Anfragen kam höchstens mal eine Antwort zurück; es gab also viele Sackgassen. Wenn plötzlich ein tolles Foto zu uns kam, war das tatsächlich wie ein kleines Wunder.„, so Andi in einem Interview mit dem Magazin Unter.Ton.

In den Interviews wird deutlich, wie unterschwellig die Musik und die Texte die Hörer beeinflussen, „the atmosphere, the melodies and the obscured melancholy made it attractive to us, it was like someone heard the music in our minds„. Die jungen Leute stellen nach, was Bands vormachen und beginnen, sich ihre eigene Welt zu schaffen. Das Buch beschreibt dabei die Entwicklung in verschiedenen Ländern und zeigt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Begreifen dieser neuen Szene. 1982 – so das Buch – beginnt die Differenzierung. Die Szene wird schwärzer und beginnt sich zu verändern. Mit der Eröffnung des „Batcave“ wird schnell deutlich, dass die schwarzen Gestalten, die so aussehen wie tote Punks, ihre eigene Szene kreieren und leben. 1985 erreicht die Bewegung ihren Höhepunkt, wird kommerziell immer intensiver aufgegriffen und vermarktet, während die ersten damit anfangen, die schwarze Hülle ihrer Jugend zurückzulassen. Das erste Kapitel endet abrupt, so wie die Szene – irgendwo zwischen 1987 und 1989. Wenn man dann den Interviewpartner diese zeitliche Einschätzung glaubt. Für die Jugendlichen, die zu dieser Zeit in die Szene stoßen, ist es immer noch die Entdeckung einer unbekannten schwarzen Welt.

Pikes
Stille Zeitzeugen der Postpunk-Ära. Für das extra Kapitel über die Pikes wurden einige Models zu Andi Harriman gebracht um sich dort ablichten zu lassen.

Sehr interessant wird es dann mit Beginn des zweiten Kapitels „A new form of beauty“, denn hier versuchen Andi und Marloes den Kern ihrer Gedanken zu ergründen. Was war der Beweggrund für die Jugendlichen sich dieser Form der Provokation zu bedienen? Welche Einflüsse und Vorlagen dienten zur Entwicklung des Stereotyp „Goth“? Ich möchte dem Buch nicht vorweggreifen, es ist einfach fesselnd, sich durch die Erinnerung der Leute zu lesen, die „damals“ dabei waren. Vieles von dem, was heute vielleicht als „Mythos“ durch die Szene geistert oder in den Köpfen der Veteranen idealisiert wird sieht man nach der Lektüre des Buchs viel entspannter. Schade, dass das Buch sich an dieser Stelle nicht intensiver mit den Menschen und ihren Erinnerungen von damals auseinandersetzt.

Fakt ist, das die Szene schon immer ein Sammelbecken für Menschen war, für die ihr äußeres ein Teil der Identifikationgrundlage bildet. Man machte das Gefühl ein „Freak“ zu sein zum Gleichstellungsmerkmal, die Gothic-Szene bildete für viele den Rahmen sich selbst auszuprobieren und seine „dunkle“ Attitüde auszuleben. Die Suche nach sich selbst machte auch vor der biologischen Identität nicht halt, die Szene war auch Heimat für androgyne und geschlechtslose Wesen, die mit den äußerlichen Unterscheidungsmerkmalen brachen und das Spiel mit den Rollen zum Style erhoben. Die Bilder und Texte in diesem Buch scheinen genau das zu bestätigen.

Fazit

Ich habe ein ganzes Regal mit Büchern, die sich mit „Gothic“ beschäftigen, doch nie hatte ich das Gefühl alles über die Subkultur zu wissen, immer blieb ein Gefühl: „Es fehlt was.“ So wunderte ich mich vor ein paar Jahren nicht, dass meine fixe Idee – ein Buch über die Szene zu schreiben – bei einem renommierten Verleger abgeschmettert wurde. Worüber sollte ich auch schreiben? Es gibt unzählige Werke die versuchen „Gothic“ zu erklären, die alle möglichen Musikrichtungen aufgreifen oder erklären und es gibt Bücher die relativieren, was in den Köpfen der „Gesellschaft“ vor sich geht, wenn mal wieder von den „Gothics“ die Rede ist.

Die Atmosphäre war immer schon wichtig. Kim und Val zeigen wie man sich inszenierte (1983)
Die Atmosphäre war immer schon wichtig. Kim und Val zeigen wie man sich inszenierte (1983)

In gewisser Weise füllen Andi Herriman und Marloes Bontje eine Lücke und zwar die der Authentizität. Echte Bilder und Erinnerungen von Menschen, die „dabei“ waren – Erinnerung die den eigenen Blick auf die Szene erweitern oder ernüchtern und die Ansichten bestätigen oder widersprechen – nicht mehr und nicht weniger. So war mir beispielsweise sehr neu, wie alt die ganze Genderdiskussion ist und wie präsent sie damals schon gewesen ist. So schreibt Jez Smith: „I was accepted and there were others like me who shared similar tastes in music and aesthetics … It didn’t matter if you identified as [being] straight, bi or gay … As long as you were genuine and accepting, you were generally welcome.“ Darüber hinaus war es auch sehr „erschreckend“ wie wenig man sich zu Beginn mit Inhalten von Musik und Performance auseinandergesetzt hat. Vielleicht haben wir alle ein bisschen vergessen wie es ist, jugendlich zu sein.

Das Buch offenbart keine umwerfenden Erkenntnisse und die beiden Autorinnen haben sich auch nicht in tiefschürfenden Überlegungen oder Thesen verloren, „Some wear leather some wear lace“ ist vielmehr ein Abbild einer Dekade, in der das geboren wurden, was wir heute „Gothic“ nennen. Unzählige und großartige Aufnahmen vermitteln Zeitgeist und Geschmack einer Generation auf die wir heute neidisch zurückblicken. Rückblicke die von der eigenen Sinnsuche erzählen, die vom Wunsch berichten, irgendwo dazuzugehören und offen zugeben, dass es ein Bedürfnis war auch als „Freak“ unter anderen Anerkennung zu finden.

Authentische Gedanken aus jener Zeit haben Seltenheitswert, viele haben verdrängt, was damals war: „Ihre Gothic-Vergangenheit hat für die meisten heute einfach keine Priorität mehr. Obwohl viele Anfangs noch Interesse an dem Projekt zeigten und uns mit Material aus ihren Beständen unterstützen wollten, hat es am Ende oft doch nicht geklappt.(Marloes Bontje im Interview mit Unter.Ton) Vielleicht weil sie für ihre eigene Belanglosigkeit schämen („Be cool and dressed to impress“) und sich lieber im mystifizierenden und idealisierten Bildern und Geschichten anderer flüchten um sich nicht zum Spott eines neuen Umfelds zu machen.

  • Das Buch umfasst 216 faszinierende Seiten mit teilweise beeindruckenden Bilder kommt im handlichen Format daher. Die Projekt-Seite Postpunkproject.com bietet zahlreiche Zusatzinformationen und Bilder.
  • Erhältlich ist es für etwa 33€ direkt beim Verleger Intellect Books (England) oder auch bei Book Depository und Amazon
  • Die Autorin Marloes Bontje unterhält weiterhin ihren Bilder-Blog bei Tumblr während Andi Harriman sich auch noch als DJ und Radiomoderatorin versucht.
  • Weitere Rezensionen und ein umfassendes Interview mit den Autorinnen gibts bei Unter.Ton

 

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Flederflausch
Flederflausch(@flederflausch)
Vor 9 Jahre

Danke für den Tip, das kommt auf meine die Bücherwunschliste ;)

black bat
black bat (@guest_50273)
Vor 9 Jahre

Auch ich kann dieses Buch nur empfehlen, Flederflausch!! Wer sich für die Zeit der 80er innerhalb der Szene interessiert, für den ist das Buch definitiv ein Muss! :) Ich habe es quasi „verschlungen“ und könnte immer wieder die wuderschönen Bilder betrachten.

Flederflausch
Flederflausch(@flederflausch)
Vor 9 Jahre

Robert, da gebe ich dir Recht, ich finde es auch immer wieder faszinierend, wie so Projekte wachsen und wie viel Engagement und Herzblut da dahinter steht und eben, „think outside the box“ und so ;)
Ich befürchte fast, so bald komme ich nicht dazu das zu lesen, aber ich reserviere die nächste freie Zeit gedanklich schon mal zum lesen des Buches und lasse dann verlauten, wie ich es fand :)

Black bat, das klingt gut und steigert die Vorfreude :)

Elric
Elric (@guest_57470)
Vor 5 Jahre

Vorweg, ich bin begeistert…

…ich hatte dieses Meisterwerk vor Zeiten schon wahrgenommen, war aber immer, mir selbst unverständlich, zu dröge, die Anschaffung zu tätigen. Grade hatte ich aber mal Muße und heute Morgen wurde es geliefert. Ich bin, wie soll ich sagen, nicht mehr ganz neu und insofern stellt das ganze für mich eine Reise in die eigene Vergangenheit dar…

…die zwangsläufig auch etwas wehmütig stimmt (mich zumindest). Wer aber sehen möchte, wie alles begann, sollte sich diese Buch anschaffen…

Elric
Elric (@guest_57853)
Vor 4 Jahre

@Robert
Yep, werde ich tun…^^

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Das Buch offenbart keine umwerfenden Erkenntnisse und die beiden Autorinnen haben sich auch nicht in tiefschürfenden Überlegungen oder Thesen verloren, "Some wear leather some wear lace" ist vielmehr ein Abbild einer Dekade, in der das geboren wurden, was wir heute "Gothic" nennen. Unzählige und großartige Aufnahmen vermitteln Zeitgeist und Geschmack einer Generation auf die wir heute neidisch zurückblicken. Rückblicke die von der eigenen Sinnsuche erzählen, die vom Wunsch berichten, irgendwo dazuzugehören und offen zugeben, dass es ein Bedürfnis war auch als "Freak" unter anderen Anerkennung zu finden.Buch-Tipp: Das Postpunk Projekt - Some wear leather some wear lace