Manche Mädchen sterben einsam – Selbstmörderfriedhof Grunewald

Bereits im Januar dieses Jahres besuchte Kath Traumtänzerin den Friedhof in Grunewald. Friedhofsführerin Tina Knaus brachte ihr und einigen anderen den Ort und seine Geschichten ein wenig näher. Schwer beeindruckt postete sie einige Bilder und Geschichtsfetzen bei Facebook, die dort aber im Nirvana des Zeitstrahls kaum Beachtung fanden. Ich fand das schade und animierte Kathi auf dem Spontis Treffen, mir ihre Eindrücke nochmal als E-Mail zu schicken, um dann gemeinsam mit ihr einen Beitrag daraus zu verfassen.

Es ist ruhig auf der Lichtung im Grunewald, keine trauernden Friedhofsbesucher, keine frischen Blumen auf gepflegten Gräbern und die meisten Grabsteine sind mit Efeu überwuchert. Der Schnee auf Wegen, Bäumen und Gräbern hüllt den Friedhof in ein sonderbare Stille, nur das Knirschen der Schritte ist zu hören. Deutschlands einziger Selbstmörderfriedhof  im Grunewald-Forst, auf dem seit über 100 Jahren alle die begraben werden, die ihrem Leben ein Ende setzen wollten, soll in 50 Jahren verschwunden sein. Die Grabsteine werden entfernt, die Gräber eingeebnet und die Friedhofsmauer wird abgerissen. Die zuständige Friedhofsverwaltung Charlottenburg-Wilmersdorf genehmigt kaum noch neue Bestattungen und möchte den Friedhof auslaufen lassen, eine Erhaltung des geschichtsträchtigen Ortes scheint nicht mehr finanzierbar. Dabei liegen nicht nur unzählige Namenlose dort begraben, sondern auch tragische Geschichten aus der deutschen Vergangenheit.

Der Dienstmädchenfriedhof

Zur Zeit der Industrialisierung gelangten vielen Menschen zu schnellem Geld und mit dem Reichtum wuchs auch die Sehnsucht nach exklusivem Wohnraum. Da aber im Zentrum von Berlin die Unterschicht lebte und der Geldadel und die Neureichen nicht mit dem Pöbel leben wollten, begann man damit, im Berliner Umland Rodungen durchzuführen um den gewachsenen Ansprüchen exklusiven Raum zu schaffen. Unter anderem entstand im Grunewald eine große Freifläche für eine ausgedehnte Villensiedlung, die auch heute noch zu den nobleren Stadtteilen Berlins zählt.
Die neu entstandenen Siedlungen sorgten dafür, dass viele der Armen aus dem Zentrum Berlins nach Grunewald kamen, um dort eine Anstellung im reichen Hause zu ergattern. Doch ein Arbeitsplatz bei wohlhabenden Arbeitgebern war nicht immer ein Segen. So nutzten die Hausherren und deren Söhne oftmals die Abhängigkeit der untergebenen Dienstmädchen dazu, ihre Gelüste diskret zu befriedigen. Wurden die Dienstmädchen zu allem Überfluss von einem der Beiden schwanger, so war ihr Schicksal nahezu besiegelt, denn mit dem entsprechenden Eintrag in ihrem Dienstbuch gab es nahezu keine Chance auf eine Neueinstellung in einem anderen Hause.
1919 versuchte sich das Dienstmädchen Minna Braun das Leben zu nehmen, in dem sich die gelernte Krankenpflegerin mit Schlafmitteln und Morphium vergiftete. Ihren leblosen und stark unterkühlten Körper fand man am Havelufer. Totengräber brachten die Frau in die Aufbahrungshalle des Selbstmörderfriedhofs. Als Kriminalbeamte 14 Stunden später die Identität der jungen Frau feststellen wollte, sahen sie, wie sich der Kehlkopf bewegte. Minna Braun wurde in Krankenhaus gebracht und überlebte. Der Fall löste ein rege Debatte über das Lebendig-Begrabenwerden aus, die damals in ganz Berlin die Runde machte. Die Magd blieb davon unbeeindruckt, zu tief der Schmerz, zu groß die Scham, zu hoffnungslos ihre Zukunft. Mit einer höheren Dosis erreichte sie drei Jahre später endlich ihr Ziel. Man fand sie an der gleichen Stelle wie zuvor. Wie viele Dienstmädchen sich in ihrer Verzweiflung von der Stölpchenseebrücke ins Wasser der Havel stürzten ist bis heute nicht geklärt.

Friedhof Grunewald - Willi Schulz
Vom Oberhofjagdmeister zum einfachen Förster degradiert! Den gesellschaftlichen Abstieg verkraftete Will Schulz nicht und folgte nach der Auflösung der preußischen Monarchie dem Ruf des Todes.
Friedhof Grunewald - Baronin Alex von Lieven
Nicht vorzustellen, wie groß ihre Verzweiflung gewesen sein muss. Ganze 14 mal versuchte die Baronin Alexandra von Lieven sich das Leben zu nehmen. Zu ihrem Todeszeitpunkt, war sie 91 Jahre alt.
Friedhof Grunewald - Orthodox
Man munkelt, dass dieser junge Russe seinen Alkoholrausch auf besonders günstige Weise erreichen wollte. Er starb an seiner eigenen Ethanolmischung.

Wasserleichen

Strömungen unter der Wasseroberfläche der Havel trugen die Leichen der Selbstmörder und Unfallopfer immer an die selbe Stelle im Fluss (für die Interessierten: ÖPNV – Linie 218, Haltestelle Havelchaussee), der sich so malerisch verzweigt durch den Forst in Grunewald zieht. Angehörige und Förster hatten die Lichtung still und heimlich zu einer Begräbnisstätte gemacht, als sie die rund einen Kilometer die Havelanhöhe hochwuchteten um ihnen dort die letzte Ruhe zu ermöglichen.

Sie näher am Ufer des häufig befahrenen Flusses zu begraben wäre riskant gewesen, denn illegale Bestattungen wurden hart bestraft, selbst der versuchte Freitod stand bis 1845 unter Strafe. Eine ordentliche und kirchliche Bestattung war undenkbar, denn nach Auslegung der Kirche ist der Freitod eine Sünde die ein Begräbnis in geweihter Erde unmöglich machte. Erst in den 60er Jahren lockerte die Kirche ihre Regeln und immer mehr Gemeinden ermöglichen seit dem auch Selbstmördern ein ordentliches Begräbnis.

Wie lange der Friedhof im Grunewald-Forst bereits betrieben wird, ist unklar. Als die erste Bestattung 1900 offiziell vermerkt wurde, sollen bereits 800 Leichen dort begraben worden sein. 1920 wurden umliegende Gemeinden mit Berlin zu „Groß-Berlin“ zusammengelegt und verpflichtet, einen eigenen nicht-kirchlichen Friedhof zu betreiben. Der Magistrat ließ den Selbstmörderfriedhof mit einer Mauer umgeben und erklärte ihn zum offiziellen Friedhof, auf dem nun auch andere Tote begraben wurden. Kaum jemand nahm das Angebot wahr, zu stark war der Glaube an die Sünde, die die dort begrabenen Menschen begangen hatte. Die Wasserleichen aus der Havel blieben weiterhin unter sich.

Zum Ende des ersten Weltkriegs wurden hier auch Opfer des Krieges beerdigt.  Auch die fünf jungen Russen, die über den Sieg der Bolschewiki und den Tod ihres Zaren so bestürzt waren, dass sich selbst töteten, wurden an besagter Stelle aus der Havel gefischt. An sie erinnern fünf hölzerne, orthodoxen Kreuze unweit des Eingangs.

Das Lied vom einsamen Mädchen

Friedhof Grunewald - NicoEin einsames Grablicht flackert vor Grab Nummer 82, den schwarzen Grabstein säumen mit Schneeflocken bedeckte Rosen, überall liegen verwitterte Schriftstücke und Mitbringsel herum. Es ist wohl das prominenteste Grab auf dem Friedhof im Grunewald und erinnert an die Sängerin Christa Päffgen, die unter ihrem Künstlernamen „Nico“ mit der Band „Velvet Underground“ international berühmt wurde.

1956 soll die damals 18-jährige mit ihrer Mutter Magarete zum Friedhof. Nico soll auf eine damals freie Stelle gedeutet haben und sagte: „Hier möchte ich einmal begraben werden, neben Dir.“  Kurz darauf machte sie eine steile und tragische Karriere, avancierte in den 60ern zur Mode-Ikone, wurde Vogue-Model und Warhol Star, Sängerin und Junkie. Ihre Todenähe war legendär, ihre kühle Erotik macht sie heute noch zum Mythos. 50 Jahre lang lebte sie ein intensives Leben, bis sie 1988 auf Ibiza vom Fahrrad stürzte und an einer Hirnblutung verstarb. Ungeachtet der Tatsache, dass es ein Unfall war, der ihr Leben beendete, erfüllte man ihr den Wunsch, neben ihrer Mutter auf Berlins „Friedhof der Namenlosen“ begraben zu werden. Drei Tage lang sollen ihre Freunde auf dem Friedhof gefeiert haben. Es liegt Schnee auf ihrem Grab, niemand ist da um mit Nico zu feiern. Nur am 16. Oktober, ihrem Geburtstag und am 18. Juli, ihrem Todestag verirren sich noch Menschen zu ihrem Grab. Das Lied vom einsamen Mädchen wurde bitterkalte Realität.

 Der Armenfriedhof

Den deutschen Schriftsteller Georg Heym inspirierte der Selbstmörderfriedhof zur Lyrik, vermutlich war es ein Rückzugort, an dem sich der junge Heym von der „Zwangsjacke seines Lebens“, wie er mal in sein Tagebuch notierte, erholen konnte. Leider ereilte ihn der Tod viel zu früh, so dass die meisten seiner Werke posthum veröffentlich wurden. Am 16. Januar 1912 verunglückte Georg Heym beim Schlittschuhlaufen auf der Havel in Kladow tödlich, als er seinen Freund retten wollte, der ins Eis eingebrochen war.

Der Armenfriedhof

Stiller Ort, um deine Mauern
Schleicht ein müdes, süßes Trauern,
Das mich immer zieht zu dir….

Deine Kreuze still und schlicht
färbt goldig doch das Sonnenlicht
Und leuchtet in die Gruft hinein.

Aus deinen Gräbern quillt das Leben.
Es schmückt in urewgem Weben
die kahlen Stein mit Liebesgrün.

Es schwingt aus Moderduft
Die Lerch sich in die Himmelsluft
O armer Ort, wie bist du reich.

Du einzger Ort, der hat hienieden
Die stille Ruh, den frommen Frieden
den draußen ich so oft gesucht.

In rund 50 Jahren soll der Friedhof „der Natur zurückgegeben“ werden. All die Geschichten verlieren dann ihren Ort, an dem sie erzählt werden können und die Namenlosen verlieren die Reliquien, die an sie und ihre Schicksale erinnern.

 

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Shan Dark
Shan Dark (@guest_49895)
Vor 9 Jahre

Ein wirklich gelungener & interessanter Bericht – mit traurigen Schicksalen, die dann auch noch ein zweifach tragisches Ende finden, weil der Friedhof eingeebnet wird. Für mich echt unverständlich, schade, dass am Ende immer alles nur am Geld liegt. Vielleicht sollte man eine Initiative zur Erhaltung gründen…

Dass Nico hier liegt, wusste ich bisher auch nicht. Definitiv steht der Friedhof noch auf meiner Besuchsliste für den nächsten Berlin-Besuch.

Gruftfrosch
Gruftfrosch(@gruftfrosch)
Vor 9 Jahre

In Berlin gibt oder gab (?) es sogar Bestrebungen Friedhöfe in Bauland für Wohnungen umzuwandeln.

https://www.bz-berlin.de/berlin/berlin-plant-wohnungsbau-auf-friedhoefen

Danke für diesen interessanten Beitrag hier. Ich schließe mich Shan Dark an…defintiv nen Ausflug wert.

Berlower
Berlower (@guest_64142)
Antwort an  Gruftfrosch
Vor 2 Monate

Das kann ich mir nicht so recht vorstellen, da das Gebiet ja echt abgelegen ist…

DarkLord/AvangerAngel
DarkLord/AvangerAngel (@guest_49901)
Vor 9 Jahre

Wirklich ein sehr interessanter Bericht. Damit steht das nächste Ziel des nächsten Berlin-Besuchs fest.

Beatrice
Beatrice (@guest_50073)
Vor 9 Jahre

Vielen Dank für diesen interessanten Bericht. Danke auch meiner Liebsten für den Hinweis darauf. Nun wird es noch schwieriger mich für einen Lieblingsfriedhof zu entscheiden. Dann mach ich vorerst einfach mal noch weiter… ;)
Verstehe ich das richtig, dass auf dem Video Nico su sehen und hören ist?

Gunter
Gunter (@guest_52489)
Vor 7 Jahre

Hallo,
sehr schöner Blog.
Mich interessiert die Info zur Baronin. 14-facher Selbstmordversuch.
Wo habt ihr recherchiert? Finde im Netz keine Hinweise dazu.
Über eine Antwort freue ich mich.

Gruß
Gunter

Kathi
Kathi(@kathi)
Vor 7 Jahre

Lieber Gunther,

zur Quelle dieser information verweise ich nochmal freundlich auf Tina Knaus. Sie hat mit unermüdlichen Recherchen die Geschichten vieler Gräber ans Licht geholt und (weiß dementsprechend auch auf Quellen zu verweisen denk ich) mir auch diesen Ort nähergebracht.

Berlower
Berlower (@guest_64141)
Vor 2 Monate

Tolle Bilder und eine ausführlicher Bericht! Schön! Dass dort bereits 800 Personen begraben worden sind, bevor 1900 die erste offizielle Leiche zu Grabe getragen wurde, war mir neu. Tolle Recherche!

Kathi
Kathi(@kathi)
Antwort an  Berlower
Vor 17 Tagen

Ja ich war damals auch sehr nachhaltig mit den Informationen mit, denen Tina Knaus uns gefüttert hat beschäftigt.
Bzw. hat sie uns in Gruppen selbst Gräber suchen lassen und dann die entsprechende Geschichte dazu erzählen lassen.

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