Schwarze Zeitzeugen – Melissa aus London und ihre wilden 80er

Melissa ist 39 Jahre alt und lebt in London, aufgewachsen ist sie in einer kleinen Stadt in Wiltshire im Süd-Westen Englands. In Devizes, so wie der kleine Ort heißt, ist es kein Zuckerschlecken anders zu sein als die anderen und schon gar nicht, wenn man auch noch so aussieht. Melissa war ein Gothic, jedenfalls würde man sie heute so bezeichnen. Früher gab es noch keinen Begriff und einordnen lassen wollte man sich sowieso nicht. Schwarze Haare, schwarze Klamotten, Schminke, Haarspray und spitze Schuhe waren die Merkmale, an denen man Melissa und ihre Freunde erkannte. In Magazinen fand sie ihre Vorbilder Danielle Dax und Poison Ivy Sie trieben sich auf Friedhöfe rum und hörten Musik nach Punk.

Es ging eigent­lich nie darum in einer Szene zu sein« sagt Melissa heute, »son­dern nur darum seine Haare senk­recht zu stel­len.« Sze­ne­zu­ge­hö­rig­keit war kein gewoll­tes Phä­no­men, son­dern eine Zuord­nung. Viel­leicht wird die Szene von damals idea­li­siert, schö­ner und all­um­fas­sen­der dar­ge­stellt, als sie wirk­lich war. 1988 ver­ließ sie den klei­nen Ort und zog nach Lon­don, sie arbei­tet als Illus­tra­tor und Ani­ma­teu­rin und gibt darin auch Unterricht.

Melissa war unbe­wuss­ter Teil einer Jugend­be­we­gung, die man heute als Gothic bezeich­net, dabei ging es ihr nur um Indi­vi­dua­lis­mus und darum, so zu sein wie man wollte. Es ist schwie­rig, eigene Ver­glei­che zu einer Szene zu zie­hen, die es unter die­sem Namen zunächst gar nicht gege­ben hat. Gothic ist ein Begriff, der Mitte, eher Ende der 80er Jahre zu fin­den war und des­halb ist es umso schwie­ri­ger sich darin zu defi­nie­ren. Ich führte ein Inter­view mit Melissa und war zuge­ge­be­ner­ma­ßen über­rascht, wie sie auf meine Frage ant­wor­tete. Schön wenn meine Erwar­tungs­hal­tung über den Hau­fen gewor­fen wird und ich etwas neues dazu­ler­nen kann. Melissa ist der erste Teil mei­ner Inter­view­reihe Schwarze Zeit­zeu­gen.

Gothics auf dem Friedhof
Melissa, Lisa und Simon posen auf dem Friedhof

Spontis: Wann bist Du der Goth Scene verfallen?

Melissa: „Ich bin jetzt kein Goth mehr. Ich war nur so angezogen als die Bilder 1983-1985 geschossen wurden, da war ich 13, bzw. 15 Jahre alt. Es wurde da nicht Goth genannt – John Peel spielte Zeug von Bands wie den Sex Gang Child­ren, Gene Loves Jeze­bel und Alien Sex Fiend, aber nie­mand lachte dar­über oder nannte es Goth. In Maga­zi­nen wie dem Zig Zag berich­tete man dar­über und nannte es »Posi­tive Punk« oder ein­fach nur Post-Punk. Es war ein Gemisch aus der Szene der Psycho­bil­lys, den Strai­ght Hard­core Punks und den Skins, jeden­falls dort wo ich auf­ge­wach­sen bin. Eigent­lich ging es nur darum seine eige­nen Kla­mot­ten zu machen und die Haare senk­recht zu tra­gen, eine rich­tige Szene war das nicht.«

Gothic 1984 auf ihrem Bett
1984 – Die Wände mit ihren Helden beklebt, Sie war so stolz… Stem Christ

Das kul­tige T-Shirt das sie auf dem 84′ er Bild trägt, hat sie lei­der nicht mehr. Manch­mal ste­cken so viele Erin­ne­run­gen in Din­gen, die es bei ers­ter Betrach­tung gar nicht wert sind, auf den zwei­ten Blick aber eine Brü­cke in eine Zeit schla­gen, an die man sich gerne erin­nert. Ist die schwarze Mode eigent­lich nur eine modi­sche Erschei­nung, oder war man in sei­ner Jugend schon so weit, über das Out­fit ein Nach­richt zu trans­por­tie­ren? In einem per­fekt gruf­ti­gen Out­fit steckte 1984 viel Geld, Herz­blut und Selbst­ge­mach­tes, wäh­rend man heute seine Sze­ne­zu­ge­hö­rig­keit in Kata­lo­gen oder Geschäf­ten kau­fen kann. In der heu­ti­gen Zeit scheint die Kla­motte nur ein Abbild eines ver­zerr­ten Zuge­hö­rig­keits­ge­fühls zu sein, das los­ge­löst  von jeder Bedeu­tung oder Aus­sage getra­gen wird.

Spon­tis: Was ist deine Defi­ni­tion von Goth, ist es Musik, eine modi­sche Stil­rich­tung oder eine Lebens­art?

Melissa: »Also ich glaube, es ist eine Lebens­ein­stel­lung für einige Men­schen und sicher­lich auch für mich, als ich mich so anzog. In mei­nen Zei­ten als Jugend­li­cher fühlte ich mich dadurch defi­niert und es war mehr für mich als nur so ange­zo­gen zu sein. Ich glaube ich habe alle mög­li­chen Kul­tu­ren erforscht die sich mit dunk­le­ren The­men, wie der Sterb­lich­keit, beschäf­tig­ten. Vom lesen exis­ten­zia­lis­ti­scher Auto­ren bis hin zu Zom­bie Fil­men und B-Movie Hor­ror. (Viel­leicht habe ich nicht alles ver­stan­den, aber ich fühlte mich als ein Teil der Szene nur mit einer Aus­gabe des Buches »The Outs­ider« in mei­ner Tasche). Ich glaube, ich fühlte die ganze Lebens­ein­stel­lung los­ge­löst von der Musik und den Kla­mot­ten.«

Gothics auf dem Friedhof
Melissa, Lisa und „Stem“, den man so nannte, weil er so groß und dünn war.

Durch den ande­ren Bezug zum Out­fit und den Inter­es­sen ent­wi­ckelt man viel­leicht ein andere Form der Zuge­hö­rig­keit, als es heute der Fall ist. Das Bild, auf dem sie auf ihrem Bett sitzt unter­schreibt sie mit »Ich war so stolz.« Viel­leicht eine bezeich­nende Eigen­schaft dafür, etwas zu leben und nicht etwas zu tun, weil es die ande­ren machen. An der Wand Pos­ter von Pete Mur­phy und Gene Loves Jezebel.

Spontis: Was ist, oder war dein spezieller Stil? Bis du mehr ein Schwarzromantiker, ein Waver, ein Tradgoth oder ein Batcaver?

Melissa: „Ich glaube ich war ein­zig­ar­tig. Ich wurde aber von Zeug wie in den frü­hen iD-Magazinen, dem Zig zag und den Bands im NME und der Sound beein­flusst. Ich wollte ein biss­chen nach Batcave aus­se­hen, so wie Dani­elle Dax oder Poi­son Ivy. Ich machte meine eigene Klei­dung und wollte wie nie­mand ande­res aus­se­hen. Ich belä­chelte die Leute, die nach Lon­don fuh­ren und zeris­sene, mit Nie­ten besetzte oder Spinn­we­ben­ar­tige Kla­mot­ten bei­spiels­weise auf der Kings Road kauften.«

Melissa und Coyner auf dem Bett
Melissa und Coyner in seiner Wohnung. Sie war furchtbar in ihn verknallt und klammert sich krampfhaft an einer Tasse.

Ist das bis heute nicht so geblie­ben? Der Wett­kampf nach soge­nann­ter Echt­heit in der Szene hält immer noch an, wäh­rend man die­sen Kampf schein­bar nur noch über den Geld­beu­tel gewin­nen kann, zählte damals Geschick, Talent und Lei­den­schaft. Wäh­rend man damals die Leute belä­chelte, die sich ihr Szene-Outfit zusam­men­kauf­ten, so belä­chelt man heute die, die sich mit selbst­ge­mach­tem Schmü­cken oder bewun­dert still und heim­lich die, die sich nur über selbst­ge­mach­tes inte­grie­ren. Dabei spielt auch Schminke eine große Rolle, wäh­rend man in den 80er mit auf­kom­men der New-Romantics schrieb »Jetzt schmin­ken sich auch Jungs«, gehört das mitt­ler­weile zum guten Ton, sich »Tot« zu schminken.

Doch was ist dran am Tod? Man sagt den Gothics ja nach, sie würden sich mehr damit beschäftigen, während der normalsterbliche das eher ausblendet oder ignoriert. Die Faszination des Todes ist eine mehrdeutige und gerne Zitierte Überschrift, doch das muss man differenzierter sehen.

Spontis: Ist der Tod faszinierend oder nur ein Teil des Lebens?

Melissa: „Bei­des. Ich glaube ich bin sen­si­bler für unsere Sterb­lich­keit gewor­den, aber ich denke es lässt mich das Leben auf mehr genie­ßen — zu wis­sen, das es irgend­wann endet.«

Melissa und Lisa in Salisbury
Melissa und Lisa in Salisbury

Ein rea­lis­ti­scher Umgang mit dem Tod ist auch für Melissa Antrieb, das Leben bewuss­ter zu erle­ben.  Doch das ent­wi­ckelt sich und ist nicht jedem in die schwarze Wiege gelegt. Melissa ist sich bewusst, das Leben hat ein Anfang und ein Ende und die Zeit dazwi­schen ist ein­zig­ar­tig und kost­bar. Die Zuge­hö­rig­keit zu Szene 1984 hat ihren Teil dazu beige­tra­gen. Doch was hält sie von der heu­tige Gothic-Szene?

Spon­tis: Was denkst du über die heu­tige Gothic Scene? Ist sie eine bil­lige Kopie der Ver­gan­gen­heit, eine neue Retro­welle oder ein nor­male Ent­wick­lung?

Melissa: Ich habe keine Ahnung. Ich kenne keine Goths oder sehe wel­che. Man sieht selbst in Lon­don kaum noch wel­che. Ich habe eine große Szene gese­hen als ich in Leeds gewe­sen bin, es war schön zu sehen das sie so viele Anhän­ger hat­ten und Orte an denen sie sich tref­fen konn­ten. Vor 25 Jah­ren war es sehr ein­sam ein Goth in einer eng­li­schen Klein­stadt zu sein.

Melissa auf dem Friedhof 1985
1985 – Melissa auf dem Friedhof

Ein hartes Los anders zu sein, als andere Jugendliche. Einfach die „Erwachsenen“ mit Outfit oder Ansichten zu provozieren. Heute sind viele Menschen einfach offener für die Spielarten ihrer Heranwachsenden oder haben teilweise selbst schon einer ähnlichen Jugendbewegung angehört.

Die Punks von einst sind nun Eltern, Gruftige Mädchen liebevolle Mütter und geschminkte Jungs liebevolle Väter. Melissa hat sich von der Gothic-Szene gelöst, sich entwickelt und verändert. Doch sie ist stolz darauf, etwas besonderes gewesen zu sein, sich vor 25 Jahren deutlich von dem zu unterscheiden was man eine normale Entwicklung nennt. Doch wie jeder Lebensabschnitt hinterlässt auch eine noch so kurze Zeit Spuren und Erinnerungen denen man folgen und die man pflegen sollte. Viele Goth’s von früher haben sich einige ihrer Leidenschaften bewahrt. Sehr oft nennt man die Musik als gemeinsamen Nenner.

Hier Melissas Top 5 der Songs, die für sie „Gothic“ repräsentieren und zu der Zeit in alternativen Discos gespielt wurden, die sie seinerzeit besuchte:

Defi­ni­tiv eine gruf­tige Aus­wahl und ein schö­ner Quer­schnitt. Die Wur­zeln zum Punk sind hier deut­li­cher als bei den Wavi­gen Stü­cken die einige Jahre spä­ter die schwar­zen Märkte erober­ten. Post-Punk nann­ten es die Maga­zine zu die­ser Zeit, oder auch die Über­füh­rung des Punk in eine neue, dunkle und nach­denk­li­che Spielart.

melissa and a pint
2008 – Melissa heute

Spon­tis: Bist du immer noch ein Teil der Szene?

Melissa: Nein, ich bin da raus­ge­wach­sen. Ich inter­es­siere mich sehr für andere Musik und Kul­tu­ren, aber lege mich nicht auf einen ein­zel­nen Stil fest. Ich bin immer noch stolz einer gewe­sen zu sein als ich jung war und ich liebe diese alten Bilder.

Als ich Melis­sas Bil­der zum ers­ten mal in ihrem Album ent­deckte war ich fas­zi­niert und nei­disch zugleich. Frü­her war es mir ein­fach zu läs­tig und zu teuer, viele Bil­der von mir zu machen und außer­dem habe ich mich nie für foto­gen genug gehal­ten. Frü­her, da gab es noch keine Han­dys mit ein­ge­bau­ten Kame­ras. Das waren klo­bige Geräte, in die man noch einen Film legen musste, den man dann weg­brin­gen musste um dann erneut für seine Bil­der zu bezah­len. Ob die Bil­der dann letzt­end­lich was gewor­den sind, war immer eine Über­ra­schung und oft genug ver­deckte ein Dau­men die schönste Land­schaft. Daher ist es mehr als ver­ständ­lich seine alten Bil­der zu lie­ben und nei­disch, weil ich davon so wenig habe. Schön das es Men­schen wie Melissa gibt, die ihre alten Schätze zei­gen und bereit­wil­lig einen klei­nen Ein­blick in ihre Ver­gan­gen­heit geben.

 

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Atanua
Atanua (@guest_4690)
Vor 14 Jahre

Wunderbarer Bericht, danke! Jedes Mal wenn ich lese,dass seine Kleider selber macht(e) wünsch ich mir ne Nähmaschine^^
Und dass ich auch solche Fotos hätte, ich meine, mit 13 oder so sah ich grässlich aus *g*

Schöne neue Serie hast du da gestartet!

Liebe Grüsse

von Karnstein
von Karnstein(@karnstein)
Vor 14 Jahre

Fantastische Serien-Idee und ein sehr schöner Einstieg ^^
Aber wenn doch ein oder zwei Bilder vom jungen Waver-Robert zu existieren scheinen, warum kennen wir sie dann noch nicht? ;)

Rosa Chalybeia
Rosa Chalybeia (@guest_4712)
Vor 14 Jahre

Ich finde das auch eine ganz tolle Idee, ein schönes Interview, bin ebenfalls gespannt auf noch mehr.

Moonica
Moonica (@guest_4749)
Vor 14 Jahre

Dem kann ich mich nur anschließen. Finde das Interview klasse.
V.a. dieses nicht konkret Goth sein weil es das damals noch nicht gab finde ich interessant.
Gibt mir ein wenig zum Nachdenken, weil ich ja auch immer sag ich gehör nicht zur Szene

Death Disco
Death Disco (@guest_9832)
Vor 13 Jahre

Nimm’s mir nicht übel. Du kannst Wave von Post-Punk/Punk nicht trennen. Was glaubst du, was in den 70ern für eine poppige Scheiße als Punk verkauft wurde? Blondie und ähnliches Zeug war da ganz vorne dran (würde heute kein Schwein mehr Punk nennen). Punk in den 70ern war so undefiniert wie Goth in den 80ern. Das dauert immer ein paar Jahre, bis sich feste Strukturen herausgebildet haben. Und die Trennung zwischen Tradgoth und Batcaver vergessen wir mal ganz schnell wieder. Das ist wüste und sinnfreie Atomisierung. ;-)

Aber was der Bericht deutlich zeigt: es gab keinen großen Unterschied zwischen Früh-80ern und Früh-90ern. Friedhöfe, Klamotten und Musik waren in dieser Form stets aktuell.

Madame Mel
Madame Mel (@guest_15855)
Vor 12 Jahre

Gibt es eigentlich eine Wiederbelebung der Serie „Schwarze Zeitzeugen“? Ich bin sicher, der Herr Spontis wird noch den ein oder anderen Alt-Gruftie für uns ausgraben können ;-)

Die alten Fotos von Melissa sind mir auch bei youtube begegnet:

In unserer damaligen Clique war es total uncool („He, was soll der Scheiß“), sich fotografieren zu lassen, was ich heute echt schade finde *schnüff*. Die wären heute bestimmt auch was für´s Zeitzeugen-Thema. Umso interessanter finde ich dann solche wertvollen Berichte, die den Geist der Anfänge einfangen. Wave is never dead.

Mone vom Rabenhorst...
Vor 10 Jahre

Nun ja, der Artikel ist ca. aus 2009, der letzte Kommentar hier von 2011… Du hast Dir aber nicht sehr viel Mühe gegeben, weitere potentielle Kandidaten zu finden und zu kontaktieren ;-).

Oder habe ich die übersehen?? :-)

Axel
Axel (@guest_48023)
Vor 10 Jahre

@Mone vom Rabenhorst: Stell Di das mal nicht so einfach vor entsprechende Zeitzeugen zu finden. Um es mal so zu sagen: viele Waver aus der damaligen Zeit (eine Gothic-Szene wie man sie seit den 90ern kennt, gab es damals in der Form ja noch nicht) gehen nicht unbedingt damit im Netz „hausieren“. Und die Waver, die heute noch dabei sind, haben nur selten Lust den „Opa, der aus Kriegszeiten erzählt“ raushängen zu lassen. ;-)

Mone vom Rabenhorst
Vor 10 Jahre

Ja, ICH verstehe!
Sehr gut sogar! ;-)

Habe die ein, zwei Interviews auch gefunden! Sorry, ich habe (etwas) vorschnell geschrieben! Bin ja erst seit gestern hier und finde mich noch nicht so zurecht.

@ Robert: Du weißt ja jetzt, wo Du genügend Veteranen finden und fragen kannst. ;-)

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