Industrial – Ja was denn nun?

Industrial – Neben Gothic ist das vermutlich der strapazierteste Begriff in der schwarzalternativen Szene. Wenn man sich in den letzten Jahren umgeschaut und das Musikangebot von Diskos und Veranstaltern beobachtet hat, dann hat man das Gefühl als handle es sich dabei weniger um einen eigenständigen Musikstil, sondern viel mehr um ein reichlich schwammiges und bedeutungsloses Anhängsel, dass einfach immer Erwähnung finden muss, wenn ein (vermeintlich) elektronischer Musikstil zur Sprache kommt. Electro/Industrial heißt es da mindestens mal – eher noch Electro/EBM/Industrial oder gar Electro/EBM/Darkwave/Industrial und andere Bandwurmkonstruktionen.

Etwas unübersichtlich? Dann hilft vielleicht eine kleine Suchaktion auf YouTube, ist ja immer eine tolle Quelle um sich mit musikalische Eindrücken weiterzubilden.

Und in der Tat, wenn man dort nach „Industrial“ sucht, dann scheint sich der Begriff wieder zu konkretisieren. Doch welch Überraschung: Um einen Musikstil scheint es sich plötzlich nur noch zweitrangig zu handeln – ein Tanzstil ist es doch offenbar vor allem. Zu sehen sind natürlich primär die berühmt-berüchtigten Cyber und auch ein paar Leute, die man vielleicht in die Blackmetal-Ecke gesteckt hätte, und was sie da so treiben scheint mir als Voll-Laien irgendwo zwischen Veitstanz und Loveparade angesiedelt zu sein. Aber ich will nicht lästern, es scheint alles sehr ausgeklügelt und anstrengend, könnte ich selbst sicherlich nicht. Nur was das mit Industrial zu tun haben soll verstehe ich nicht so ganz, denn die musikalische Untermalung dazu rangiert irgendwo zwischen Agonoize, Combichrist und Xotox, ist also das was ich gerne Prollectro nenne (Fans des Genres mögen Aggrotech, Hellectro oder irgendein anderes euphemistisches Kunstwort vorziehen).

Verwirrend? Sicherlich, aber wer sich mal die Mühe macht ein klein wenig zu recherchieren wird recht bald sehen, wie wenig der undurchsichtige Sumpf von heute mit Industrial zu tun hat.

Agonoize – Immer noch Industrial?
Exoport, Agonoize-amphifestival2013, CC BY-SA 3.0

Angefangen hat das Ganze wie so vieles in der alternativen Musikwelt in den 1970ern. Experimentell und avantgardistisch war man unterwegs und kreierte mit Geräuschkollagen einen akustischen Klangteppich, der mit konventionellen Definitionen von Musik nicht immer wirklich etwas zu tun hatte. Provokation und Überschreitung von (geschmacklichen) Schmerzgrenzen standen im Mittelpunkt, man verstand sich oft weniger als Musiker als eher als Aktionskünstler und arbeitete daher ebenso zum Beispiel mit drastischen Bild und Filmprojektionen wie mit Musik.

Tanzbarkeit war kein Kriterium sondern viel eher jede Art von Grenzwerterfahrung (das vermutlich wichtigste Schlagwort), oft ausgedrückt durch puren Lärm. Richard Kirk von Cabaret Voltaire zum Beispiel schließt nicht aus, dass ihre Musik vor allem ein Ausdruck ihrer Lebensumstände war – aufgewachsen in der Nähe des grauen und von Kriegsruinen durchzogenen Industriegebietes Sheffield, Tag und Nacht begleitet vom Lärm der Fabrikhallen.

Da das Ganze sich parallel zum damals ebenfalls als extrem wahrgenommenen rockigen Neuland entwickelte, wurde teils beides unter dem reichlich negativ behafteten Begriff Punk zusammengefasst (den wir heute natürlich nur für den Stil der Rockmusik benutzen). Erst durch die Gründung des Plattenlables Industrial Records durch die Mitglieder der Genre-Vorreiter Throbbing Gristle entwickelte sich die Stilbezeichnung. Extreme Bands aus diesem Umfeld, wie etwa SPK oder Leather Nun, waren also insofern Industrial-Bands als dass sie ihre Werke bei Industrial veröffentlichten, die mit dem Slogan „Industrial Music for Industrial People“ warben.

Exemplarisch für diese Phase möchte ich hier eine Live-Aufnahme von Throbbing Gristle selbst präsentieren (Gerüchten zufolge schlossen sie übrigens die Türen ab, sobald das Publikum im Konzertraum war, aber wie man sieht sind die Leute auch so gefesselt genug, man beachte z.B. den Herrn in der letzten Minute):

Elektrische Tonerzeugung spielt natürlich eine wichtige Rolle, aber mit moderner, programmierter Elektronik-Musik hat das Ganze wenig zu tun. Tonbänder, Rückkopplungen, Störgeräusche, aber auch (meist dilettantisch und kaum auf traditionelle Weise gespielte) Gitarren und im weiteren Verlauf der 80er vor allem auch manuell produzierter Krach durch Prügeln auf Schrott, das sind die Hauptzutaten der Industrial-Mixtur.

In den 80ern tat sich dann natürlich viel: Neue Avantgarde-Elemente, Überschneidungen mit New Wave und Neofolk, sowie später auch mit Gothic oder Metal, sodass schnell von Post-Industrial die Rede ist (die Grenzen sind jedoch natürlich fließend und vermutlich bei jedem Kritiker anders gesetzt).

Wichtige Vertreter wären hier z.B. der New-Wave-Musiker Frank Tovey alias Fad Gadget, der beispielsweise sein Lied „Ricky’s Hand“ mit rhythmischem Schlagbohrer-Einsatz untermalte oder im unten präsentierten Song „Collapsing New People“ vor allem mit Schrott arbeitet, dabei aber auch ganz klassisch z.B. einen Kontrabass einsetzt. Unterstützt wurde er bei diesem Lied (nicht im Video) von der Berliner Band Einstürzende Neubauten, die ich hier mit ihrem 1989er Song „Haus der Lüge“ vorstellen möchte, der vor allem auf rezitationsartigem Gesang und Geräuschen von Schrott und Gitarren beruht, Elektronik dabei nur in der Rhythmik verwendet. Letztlich sei noch die Gothic-Band Alien Sex Fiend angeführt, die sich etwa mit dem 1990er Song „Now I’m Feeling Zombified“ in sehr Industrial-nahe Gefilde begibt.

Neue Genres wie Industrial Rock, EBM, Dark Ambient oder Industrial Metal ließen dann natürlich nicht lange auf sich warten, fallen aber allesamt rhythmischer und mainstreamtauglicher aus und firmieren daher wohl zurecht nicht mehr unter dem Namen Industrial. Der Einfluss klassischen Industrials ist bis heute natürlich nicht erloschen und innovativen Künstlern wie etwa der Geigerin Emily Autumn mit ihrem selbst als Violindustrial bezeichneten Stil gelingt es, mit Industrial-Elementen ganz eigene Wege zu gehen und auch deutlich härtere und psychedelischere Spielarten der elektronischen Musik gibt es weiterhin, doch wie innovativ und Industrial-nah das Ganze ist – daran scheiden sich letztlich wohl die Geister.

Echte Industrialbands existieren im wirklichen Underground sicherlich auch heute noch, doch wird man diese kaum in einschlägigen Tanzlokalen der so genannten schwarzen Szene finden, denn einfallslose, immer gleiche, kommerzielle Discomusik und ein eng definierter Tanzstil (also das Etablieren und Verkaufen von Normen) – das ist genau das was Industrial NICHT ist und niemals war.

Ähnliche Artikel

Kommentare

Kommentare abonnieren?
Benachrichtigung
guest
4 Kommentare
älteste
neuste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Blackneon
Blackneon (@guest_56772)
Vor 6 Jahre

Man sieht wie Schwierig eine eingrenzung ist .Danke für denn Tollen und Interresanten Artikel.
Ich selbst denke das das mit dem Industrial von einigen Club betreiber im Flyern einfach mit angegeben
wird um die vielzahl an Harten Elektrischen Klängen irgendwie noch unter einem Dach zu bekommen.
Wenn ich ehrlich bin kenne ich nur Nachtmahr die von sich Behaupten Industrial zu machen und Ja ich gebe zu denn bezug zum“ Industrial“ von früher ist durchaus nicht ganz abwegig wenn ich das ganze aber eher als New Industrial bezeichnen würde. Wo wir dann wieder bei dem euphemistisches Kunstwort sein könnten ;) .

BlueLotus
BlueLotus (@guest_56857)
Vor 6 Jahre

Wer sich eingehender mit der Materie befassen will, sollte durchaus bei Wikipedia den Begriff Industrial bemühen! Erstaunlich umfassend werden Ursprünge und Ausformungen dargelegt !
Ich selbst höre und horte Old School Industrial nunmehr seit fast 30 Jahren :-)

Gottpunk
Gottpunk (@guest_59983)
Vor 3 Jahre

„wurde teils beides unter dem reichlich negativ behafteten Begriff Punk zusammengefasst“…möchte da jemand unterschwellig die Szene spalten?An Punk ist gar nichts negativ,sondern die/der Muttervater sämtlicher urbanen Musikstile!

Avenis
Avenis (@guest_59984)
Antwort an  Gottpunk
Vor 3 Jahre

Ich denke mit negativ behaftet ist wohl eher die Einstellung zum Label an sich gemeint, das damals existierte. Nun, das war deutlich vor meiner Zeit, also kann ich da nur von dem sprechen, was ich so an Augenzeugenberichten, Interviews etc. gelesen habe, aber generell empfanden wohl die Punk Gruppen erster Generation (inklusive ihrer Vorreiter wie Iggy Pop), den Begriff „Punk“ als ein von der breiten Masse und Record-Labels gepushter Begriff für eine doch relativ diverse, bunte Szene. Noch dazu war Punk ein Slangwort für männliche Prostituierte und/oder Männer, die im Knast zu gewissen sexuellen Handlungen gezwungen werden… es war vermutlich mehr ein abfälliges Schimpfwort für Musiker, deren Werk man nicht mochte, als wirklich eine Eigenbezeichnung.

Genau wie bei Post-Punk/Wave und Gothic, wollte daher keiner so wirklich als „Punk“ tituliert werden und hat sich bewusst von dem Begriff abgegrenzt. Dass es am Ende dann doch eine eigene, einflussreiche Musikströmung wurde war halt die (spätere) Weiterentwicklung.

WGT 2024

Alle Informationen und Artikel über das 31. Wave-Gotik-Treffen 2024

Diskussion

Entdecken

Friedhöfe

Umfangreiche Galerien historischer Ruhestätten aus aller Welt

Dunkeltanz

Schwarze Clubs und Gothic-Partys nach Postleitzahlen sortiert

Gothic Friday

Leser schrieben 2011 und 2016 in jedem Monat zu einem anderen Thema