Video: Englische Goths in den frühen 80ern

Um die Geburt unserer kleinen Subkultur ranken sich zahlreiche Mythen. Irgendwann in den späten 70ern entstanden, bezeichnete man die Anhänger der düsteren Musik als „Goths“, die den Style der Bühne kopierten und den Post-Punk um einen äußerlich edleren Ableger bereicherten. In britischen Großstädten formten sich schnell subkulturelle Schmelztiegel, die den Stil aufgriffen und auslebten. 1982 eröffnete in London der Club „Batcave“, der sich zum Dreh- und Angelpunkt der dortigen Gothic-Szene entwickelt und wegen des unglaublichen schnellen Wachstums der Anhängerschaft gleich mehrfach in andere Räumlichkeiten umziehen muss. 1983 geht das Batcave mit eigenen Compilations und dem Konzept der Innenausstattung auf Tour und verbreitet den Virus einer pulsierenden, schwarzen Gothic-Szene über das ganze Land. Immer wieder wird über das Batcave, die merkwürdige Musik und die komischen jungen Leute, die in langen Schlangen auf Einlass warten, berichtet.

So zog ein Kamerateam auf der Suche nach dieser neuen, schwarzen Subkultur in den frühen 80er durch einen englischen Club (wenn ich raten müsste, würde ich auf Leeds in West Yorkshire tippen) und befragte die Anwesenden „Goths“ nach ihrem Beruf, ihrem Styling und dem Musikgeschmack. Klare Sache – so denkt man – diese jungen Leute, die die Subkultur in ihren Kinderschuhen erleben durften, sind authentisch, wahrhaftig und beneidenswert. Doch das kurze Video scheint eine andere Sprache zu sprechen: Gleich das erste Paar gibt als Antwort auf die Frage nach ihrem Musikgeschmack „Glenn Miller“ und „Cabaret Voltaire“ zu Protokoll. Offensichtlich gibt es schon mit Geburt der Szene die „Poser“, die irgendwie mit dem, was zu dieser Zeit den Musikstil „Gothic“ prägt, nichts am Hut haben. Fatal, wenn man bedenkt, dass die Musik Anfang der 80er das einzig verbindende Element der Szene zu sein scheint. Tatsächlich habe ich mir die Mühe gemacht, mich durch eine Auswahl an Liedern von Glenn Miller zu wühlen, um nur einen Hauch von dem zu finden, was ich so als „gruftig“ definieren würden. Irgendwie logisch, dass ich nichts fand, allein die Tatsache, dass der Reporter selbst gerne Glenn Miller hört, hätte mich stutzig werden lassen müssen. Ganz nebenbei: Wenn jemand etwas mehr von diesem furchtbaren Dialekt zu entschlüsseln vermag, wäre ich für ein Transskript sehr dankbar.

Die zweite Protagonistin fällt schon rein äußerlich durch das Raster, was dem Reporter vor der Kamera auch nicht verborgen bleibt, aber halten wir uns nicht mit Oberflächlichkeiten auf und gehen direkt zum Musikgeschmack. Omg! (Abkürzung für: „Oh my Goth!“) Also ehrlich, ich liebe David Bowie ja auch, aber wirklich gruftige Musik macht der irgendwie nicht und Stücke von „T-Rex“ und „Cockney Rebel“ dulde ich höchstens in Filmen über den Glam-Rock der wilden 70er.  „Port of Amsterdam“ und „Blue Jean“ in einer Gothic-Disco? Unvorstellbar! Den musikalischen Kontext bekomme ich beim besten Willen nicht hin. Klaus Märkert war der letzte DJ, der mich erfolgreich mit einem Stück von Patti Smith zum tanzen brachte, ob er den Bowie auf einer schwarzen Party unterbringt? Vielleicht mit Space Oddity?

Ich schweife ab. Kurz bevor ich die Hoffnung aufgebe, erscheinen die 3 netten Leute vom Bild auf der Mattscheibe. Nach anfänglichen unverständlichen Geschwurbsel fallen doch tatsächlich die Namen, auf die ich seit fast 7 Minuten warte. Alien Sex Fiend, Specimen, Birthday Party und die Virgin Prunes! Hurra, die schwarze Welt der Illusionen scheint gerettet. Nicht alle Wurzeln faulen im Boden der 80er, diese drei wundervollen Menschen retten dann doch meine idealisierte Vorstellung vom England der frühen 80er. Das Beste kommt zum Schluss: „Glenn Miller? Finden wir schrecklich!“

Schlussfolgerung: Gibt es eine Szene mit äußerlich erkennbarer „Individualität“, gibt es auch Mitläufer. (Poser) Die haben mit der Musik nichts zu tun, sehen lediglich so aus als ob und fühlen sich zwischen den ganzen bösen „Goths“ vielleicht ein bisschen besonders. Die meisten von ihnen verschwinden nach ein paar Jahren und wollen auch später tunlichst nicht mehr an ihre „Jugendsünden“ erinnert werden. Auch das gefühlte Verhältnis von 2/3 Posern zu 1/3 Goths passt in mein Weltbild und lässt sich spielend auf heutige Veranstaltungen übertragen. Wenn man so möchte, sind die ganzen „Karnevalisten“, „Schauläufer“ und „Verkleideten“ über die sich die Szene so manches mal ganz trefflich echauffiert, ein Teil der selben. Und das schon seit seiner Geburt.

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Karnstein
Karnstein (@guest_50062)
Vor 9 Jahre

Uh, frühe Szene und fiese englische Dialekte – wenn das mal nichts für mich ist! :)
Die zweite Dame redet nicht nur immer wieder von Leeds, der Dialekt passt auch perfekt dahin. Ich bilde mir ein, fast alles zu verstehen, also wenn du’s wirklich genauer haben möchtest könnte ich mal schauen, ob ich Zeit für eine Transkription finde.

So poserhaft finde ich die Leute garnichtmal zwangsweise. Wenn ich in „Interviews“ gefragt worden bin, auf welche Musik ich stehe habe ich auch immer gerne ein paar Sachen eingestreut, die man eher nicht erwartet hätte (bei mir prinzipiell 60er-Kram wie Simon & Garfunkel).

P.S.: „Ziggy Stardust“ und „Heroes“ laufen z.B. auf der Frankfurter „Dead Kennys“ häufiger, und auch ein paar andere Sachen, die definitiv nach Bowie klingen, die mir persönlich aber vorher nicht bekannt waren. Passt gut, finde ich :)

Saturin
Saturin (@guest_50063)
Vor 9 Jahre

In der Tat wurde diese Doku gedreht in einem Club namens Xclusiv in Batley, West Yorkshire. Also Leeds-Dialekt war schon die korrekte Assoziation!
Laut dem britischen „Guardian“ ist die Aufnahme Ende 1984 entstanden:

https://www.theguardian.com/culture/2012/may/13/alexis-petridis-height-of-goth

Der Film scheint tatsächlich über zwei Stunden lang zu sein (leider funktioniert der YouToube-Clip bei mir nicht….)

Den Glenn-Miller-Gag kann ich mir auch nicht erklären, aber den Einfluss von David Bowie würde ich speziell fürs UK nicht zu gering einschätzen. Speziell die Visualität von „Ashes to Ashes“ und dem „Scary Monsters“-Album 1980 ist ganz eng bei etwa „Visage“. Und musikalisch hätte der Titel-Song auch Bauhaus nicht schlecht zu Gesicht gestanden.
Generell denke ich, dass der Glam-Rock (man bedenke etwa Bauhaus oder Adam and the Ants) auf die frühe Goth-Szene in England großen Einfluss hatte – und Bowie zwischen ’77 und ’80 ein großer Anteil daran zukommt, den Glam in den 80er-Wave transformiert zu haben, während gleichzeitig der Punk da war …. (der restrospektive Joy-Division-Film „Control“ zeigt vermutlich nicht von ungefähr Ian Curtis zu Beginn als glühenden Bowie-Fan).

… allerdings hätte Bowie Ende ’84 nach der „Let’s Dance“-Pop-Eskapade längst einiges an seinem Nimbus in Bezug auf die zeitgenössische Goth-Szene eingebüßt haben müssen – dass dem scheinbar nicht so war, zeigt seine immense Bedeutung …

The Drowning Man
The Drowning Man (@guest_50067)
Vor 9 Jahre

Saturin, stimme dir zu. Glam-Rock (vor allen Dingen David Bowie als künstlerisches Chameleon) hatte musikalisch wie auch optisch wohl einen sehr grossen Einfluss auf die frühe „Szene“ (oder vielmehr auf einen großen Teil der gesamten New Wave-Bewegung) bspw. das Batcave-Umfeld oder auch die frühen Christian Death u.a. Ich meine sogar ohne diesen Einfluss wäre diese Szene als solches gar nicht vorhanden.
Und das mit Glenn Miller sollte man auch nicht überbewerten..Gruft-Prototypen mit dem Einheits-Vorzeige-Musikgeschmack ohne jegliche Abweichung sind auch nicht gerade in meinem Sinne..das macht doch auch die Individualität aus.

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