Wir werden beobachtet!

Die Gothic-Szene erfährt Aufmerksamkeit aus vielen Richtungen. Sei es der Einfluss auf Modedesign, Wohnungseinrichtungen oder Popmusik, unsere Außendarstellung scheint für viele Menschen nicht mehr provozierend, sondern inspirierend zu sein. Da erscheint es nur logisch, dass auch die Wissenschaft ein Auge auf die Schwarzgewandeten geworfen hat.

Doch was nehmen die Forscher von uns wahr? Was geben wir willentlich und unbeabsichtig preis? Und welche wissenschaftlich verwertbaren „Erkenntnisse“ werden veröffentlicht? Frei nach dem Motto aller mündigen Netzbürger „Watch Your Back!“ werfen wir hier einen Blick zurück auf die, die uns beobachten, und gehen auf die Suche nach unserem „Blinden Fleck„.

Publikation aus dem Archiv für Jugendkulturen.

Eine Jugendkultur von der Wiege bis zur Bahre?
Vielleicht ist Klaus Farin der prominenteste Jugendkultur-Beobachter in Deutschland. Das von ihm 1998 gegründete Archiv der Jugendkulturen verschafft sich als Netzwerk von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen regelmäßig einen Überblick über das jugendliche Treiben in der BRD. Die Schwarze Szene hat hier von Anbeginn der Dokumentationsarbeit einen Stammplatz bezogen. Der Verein sammelt von allen Jugendkulturen Artefakte wie Zeitschriften und Flyer (und da wir als flyerbegeisterte Truppe gelten, sind das nicht gerade wenige), begleitet aber auch wissenschaftliche Arbeiten.

Nun ist unsere Szene bereits in die Jahre gekommen und ist nicht mehr nur eine Jugendkultur, sondern wird als „Subkultur“, „Szene“ oder „Lebensstil“ zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Diese Begriffe beschreiben jeweils die Blickrichtung, aus der wir beobachtet werden.

Die Soziologen Hitzler, Bucher und Niederbacher von der Uni Dortmund attestieren uns, mehr zu sein als eine Jugendkultur. Sie erkennen nach der Auswertung einiger Interviews bei uns einen Lebensstil, den sie so beschreiben: „Das (implizite) Motto der Szene lautet: ‚Finde Dich selbst, sei individuell‘. Und diese szenetypische Verhaltens- und Einstellungsmaxime gilt […] für den gesamten Lebensvollzug, betrifft also z.B. nicht nur das situative ‚Wie‘ von Outfit, Handeln und Denken, sondern auch dessen Konsistenz. Man findet seinen ‚eigenen Stil‘ und konserviert diesen.“ (Hitzler et al. 2005: 75)

EBM-ler – Die Randgruppe der Randgruppe
Wir hatten es erst vor Kurzem bei Spontis über das Thema „True-Gothic“. Diese Debatte ist auch den Forschern nicht verborgen geblieben und so fassen sie Aussagen aus den Interviews folgendermaßen zusammen:
„‚Wahre‘ Gothics, Grufties oder Schwarze grenzen sich von ‚Pseudos‘ oder ‚Fakes‘ ab, also von jenen, die ihr ‚Styling‘ in den Vordergrund rücken und keine besondere Weltanschauung erkennen lassen. „So etwa dreißig Prozent gehören zur Kernszene, der Rest sind Fakes“ (Lady Marina). ‚EBM‘-ler gelten nicht als ‚Fakes‘, obwohl auch sie vor allem auf die Musik und eben weniger auf die richtige idiologische Einstellung Wert legen: „Die EBM’s haben mit Friedhöfen und dem Ganzen nichts zu tun“ (PaPa). Das dürfte auch daran liegen, daß sich ‚EBM‘-Anhänger in ihren Outfits vom Rest der Szene deutlich unterscheiden, weshalb der Vorwurf ‚Fake‘ zu sein, bei ihnen nicht greift, da sie ja offensichtlich nicht den Anspruch haben, zu sein wie ‚wahre‘ Gothics.“ (Hitzler et al. 2005: 79 f.)

Ist Gothic eine Religion?

Goth liebt Dich!
Dass es sich bei Gothic faktisch um eine Religion handeln könnte, schlussfolgern Schmidt und Neumann-Braun zusammen mit ihren Mitarbeitern von der Uni Koblenz-Landau und von Sekten-Info Essen e.V. nach umfassenden Recherchen und zahlreichen Interviews. Für sie „nimmt Gohtic eine ‚Zwitterstellung‘ ein: Auf der Ebene der Sinnkonstitution ist Gothic eindeutig an religiösen Weltdeutungsmustern i.w.S. […] orientiert, ohne jedoch eine kollektiv verpflichtende Lehre zu entwickeln. Auf der anderen Seite jedoch sind die Bezugsrahmen auch nicht völlig beliebig, sonst könnte Gothic keine in irgendeiner Form zusammenhängende soziale Einheit bilden […]. Inhaltlich eng geführt wird die Bezugnahme auf Religion allerdings durch die spezifische Symbolpolitik der Szene, die – grob gesprochen – oppositionell-gegenkulturelle Tendenz vornehmlich in ästhetisch-stilistischer Art und Weise zum Ausdruck bringt.“ (Schmidt/Neumann-Braun 2004: 309 f.)

Soso. Die Interpretationen mancher Forscher zeugen von einem kreativen Geist, der wiederum als ein zentrales verbindendes Merkmal unserer Szene erkannt wird: „Ganz zentral für ästhetische Alltagspraxen der schwarzen Szene ist die Kategorie der Stimmigkeit (es muss einfach stimmen). Diese Stimmigkeit ist nicht kanonisiert, d.h. es gibt dafür kein allgemeines Rezept. Sie beinhaltet einen gestalterischen Moment – also Kreativität […]. Diese ästhetische Überhöhung der alltäglichen Umgebung spielt eine große Rolle in der Szene und fußt auf einem holistischen Harmonieprinzip. Dem praktisch-funktionellen Handeln wird in der Szene eine Absage zugunsten künstlerischem Handeln erteilt.“ (Schmidt/Neumann-Braun 2004: 161 f.)

Ein Nachschlagewerk (nicht nur) für die Szene.

Über die Frage, ob wir nach Ansicht der Wissenschaft Satanisten, Nazis oder doch nur naive Sonderlinge sind, schreibe ich in einem 2. Teil von „Wir werden beobachtet!“, wenn ihr nochmal bereit seit, einen weiteren Schwung verkomplizierender Aussagen über unsere Szene zu ertragen.

Sind wir jetzt eigentlich Grufties oder Gothics?
Dass es auch einfachere und dennoch absolut treffend formulierte Informationen über uns gibt, beweist das Lexikon des Dunkeln. Auf die für uns drängenste aller Fragen bietet das, na sagen wir mal, interdisziplinär gehaltene Nachschlagewerk folgende Antwort:

Gothic engl. – barbarisch, erschreckend, die Gotik, grausig, vorsintflutlich – Die Gothic-Kultur hat sich aus der Punk-Kultur entwickelt […], deren Ursprünge in den 60er Jahren in England und USA als Protest gegen die Hippie-Kultur entstanden. In den 80er Jahren nannten sich die Gothics noch Grufties, am Wesen änderte sich aber seither nichts.“ (Lexikon des Dunkeln 2006: 203)

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shan_dark
shan_dark (@guest_15438)
Vor 12 Jahre

Ein geniales Bild am Anfang des Artikels – super übertitelt. „Neu im Zoo: der Goth“ würde auch dazu passen.

Echt interessant, was es zu unserer Spezies für Forschungsergebnisse gibt. Und wie unterschiedlich sie auch sind. Jedenfalls haben diese Soziologen und „Szeneforscher“ (‚Mama, ich will später mal Szeneforscher werden, hm.“), die uns beobachtet haben und es wohl weiter tun werden, einen intensiveren, fundierteren Ansatz als die Medien, weil sie es auch verifizieren müssen, z.t. sind ja Bücher auch aus Diplomarbeiten entstanden und die bedingen ja meist eine Offenlegung. Ich behaupte mal: die Szene (früher, heute, Zukunft) würde in ihrer Vielschichtigkeit auch ein eigenes Studienfach füllen.

Irgendwie bin ich froh, dass „die EBMs“ sich auch Gothics nennen dürfen und dass das jetzt von der Forschung mal nachgewiesen wurde. Es gibt auch da wie überall solche und solche und Mischwesen. Ich glaub, ich bin ein Mischwesen (Goth-EBM-Wesen), denn ich hab mit Friedhöfen und dem Ganzen (hää?) durchaus was zu tun… ;o) aber höre ja auch nicht nur EBM.

Schatten
Schatten (@guest_15440)
Vor 12 Jahre

So wie auf dem ersten Bild sähe es wohl beim Spontis-Family Treffen aus wenn der Treffpunkt nicht verlegt worden wäre ;D

Sehr interessant, was Forscher so zu dem Thema denken.

Melle Noire
Melle Noire (@guest_15443)
Vor 12 Jahre

Hi!

Das ist wirklich interessant –
und teilweise belustigend und
erschreckend. *ggg*

Dunkle Grüße
Melle

Steffi
Steffi(@stoffel)
Vor 12 Jahre

Ich muss etwas schmunzeln … zugegeben das man die Szene wissenschaftlich betrachten könnte, tut oder tat ist mir so gar nicht in den Sinn gekommen, wieder etwas dazu gelernt und äusserst interessant … Danke Dir dafür :)

orphi
orphi(@orphi)
Editor
Vor 12 Jahre

Das Foto – verbunden mit der Überschrift – ist ein echtes Meisterstück – genial!:-)

Gothic als Religion fand ich bei deinen „Fundstücken“ besonders skurril. Wie kommt man nur auf so einen Quatsch? Religiöse Weltdeutungsmuster… frag 10 Christen und sie geben dir alle die gleiche Antwort. Frag 10 Gothics und jeder erzählt dir was anderes. Blödsinn!

Die angesprochenen „Bezugsrahmen“ SIND völlig beliebig, denn die Szene bildet KEINE zusammenhängende soziale Einheit. Jenseits der schwarzen Veranstaltungen, der Musik, der Ästhetik, des Ambientes und der Vorliebe für gewisse Bereiche aus Kunst, Literatur und Geschichte gibt es allenfalls zufällige Gemeinsamkeiten.

lost control
lost control (@guest_15812)
Vor 12 Jahre

Tja, falls es interessieren sollte, da gibt’s auch was bzgl. Österreich. Eine etwas längere Fachbroschüre die sich mit Geschichte & aktueller Zusammensetzung beschäftigt.

Ist wissenschaftl. aufbereitet, downloadlink zum PDF ist etwas unglücklich in der rechten Spalte angebracht.

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