Mein schaurig schönes Tagebuch #14: Auf der Suche nach der Szene

Liebes Tagebuch, nachdem ich Dir ja schon von meinem Wochenende in London erzählt habe, will ich Dir auch die folgenden Tage nicht vorenthalten. Entgegen jedes kosmopolitischen Anspruches an mich selbst, habe ich dann doch die altmodischen Kladde zur Hand genommen, um mir Notizen zu den einzelnen Erlebnissen zu machen. Ob das so eine brillante Idee gewesen ist, wage ich in diesem Augenblick zu bezweifeln. Wenn ich nur eine bessere Handschrift hätte! Ich bin mir sicher, dass eben dieses Kladde, sollte sie einmal verloren gehen und Jahrtausende konserviert verschüttet bleiben, die Grundlage für die Entdeckung einer neuen Sprache sein wird. Ganz so, wie der Rosetta-Stein, den ich im britischen Museum bewundern durfte und der für die Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen verantwortlich gewesen ist.

In dem kleinen Cafe in Kentish Town warte ich an einem halbwegs sonnigen Montag Morgen darauf, dass die gehetzten Berufstätigen in der U-Bahn verschwunden sind, denn als Tourist im Urlaub habe ich es einfach nicht nötig, mich in übervolle Waggons zu quetschen. Heute, so mein Plan, besorge ich mir mein London-Szene-Gefühl. Diese Emotion ergreift mich immer ein bisschen, wenn ich in London durch die Straßen der Vergangenheit ziehe. Überall liegt diese vibrierende Spannung in der Luft, denn an jeder Ecke schlummert ein wenig von dem, was heute legendär erscheint.

Das Batcave in der Dean Street beispielsweise, vor dem sich an den Samstag Abenden der früher 80er Jahre eine nicht abzusehende Schlange von Gothics bildete, um durch den Eingang in Sargform zu schreiten. Oder auch der Blitz Club in Covent Garden, in dem Steve Strange als Türsteher penibel darauf achtete, nur die „weird and wonderful People“ hineinzulassen, die sich dann an der Garderobe von Boy George die Mäntel abnehmen ließen. Und natürlich die King’s Road, dem subkulturellen Treffpunkt in Chelsea, in der man sich mit den heißesten Klamotten der damaligen Zeit eindecken konnte. Zu allem Überfluss hat dann auch Ratte, der heimliche Star eines Bravo Foto-Love-Romans, in London gewohnt. Jedenfalls für die Geschichte. Da hat sie ihr Zimmer, in dem sie im gemieteten Sarg schläft, schwarz gestrichen! Grund genug, in die Wren Street zu pilgern und ein Grablicht auf den Stufen zu entzünden, auf denen schon Dagmar und Vero gestanden haben.

Ich schwelge in Nostalgie, während ich meinen Café Latte schlürfe, das Bircher Müsli umrühre und die Kopfhörer die Gehörgänge mit Psyche’s Misery verwöhnen. Diese Schwelgerei ist womöglich der Teil von mir, der sich in eine verloren geglaubte Jugend zurückwünscht und sich vorstellt, wie toll es damals gewesen sein muss in London zu leben und nicht in Mönchengladbach, wo das einzige Stückchen Szene in einer schwülstigen Foto-Love-Story einer Zeitschrift zu finden war. Vielleicht sind es auch die Bücher, die ich über die Szene gelesen habe, die unzähligen Videos in denen man einen Blick auf die Vergangenheit erhaschen kann oder auch die schwärmerischen Artikel, die ich ein ums andere mal verfasst habe.

Als sich endlich die Sonne einen Weg durch die Wolkendecke über der britischen Hauptstadt bahnt, flüchte ich in den Untergrund. Den restlichen Tag verbringe ich damit, quer durch London zu laufen: King’s Road, Wren Street und schließlich Dean Street, Meard Street und Covent Garden. Doch bis auf den Wind, der durch die historischen Straßen fegt, spüre ich nichts. Keine Gänsehaut, kein emotionales Vibrieren und auch kein nostalgisches Glucksen. Soho ist überflutet von Touristen, die entweder die vereinzelt anzutreffenden Dragqueens fotografieren oder den schwulen Paaren hinterherschauen. Die King’s Road ist zur biederen Einkaufsstraße verkommen, die bis auf eine rückwärts laufende Uhr völlig langweilig erscheint und auch vor Rattes vermutlichen Wohnung ist nichts, außer einem Müllbeutel, der traurig vom Zaun herunterhängt.

Aus lauter Verzweifelung fahre ich nach Camden Town, um wenigsten dort bei „Black Rose“ oder im „Darkside“ ein bisschen Gothic-Shopping-Luft zu atmen. Doch zur meinem Entsetzen sind beide Läden neu belegt und verkaufen den üblichen Camden-Schrott, lediglich an den aufwendigen Außenfassaden kann man sich noch versichern, vor der richtigen Häuserzeile zu stehen. Verzweifelt stolpere ich durch Camden Town und Camden Lock, auf der Suche nach dem dringend benötigten Gothic-Mana. Vor dem Cyberdog – Camdens hämmernder Techno-Knicklicht-Bude – halte ich ein, bereit mich in den mentalen und seelischen Freitod zu stürzen, die Pikes gegen ein paar Puschel einzutauschen und mit Neon-Netzhemd und blinkender Sonnenbrille zumindest ein bisschen Andersartigkeit einzukaufen. Ob die Gruppe von Schulmädchen, die in diesem Augenblick zielstrebig in meine Richtung eilen mich von meinem Vorhaben abbringen wollen? Sie möchten ein Foto machen. Von mir! Im Casual-Gothic-Undercover Look mit einem sicherlich verweinten Kajal und einem Rest Lippenstift, denn der Löwenanteil der Lippenkunst ist irgendwo zwischen Covent Garden und der Tube einem Burrito zum Opfer gefallen.

Ich lehne ab, entschuldige mich höflich und nehme erst jetzt wahr, dass ich die einzige schwarze Gestalt bin, die mir seit den frühen Morgenstunden über den Weg gelaufen ist. Oh, Goths, where are you?

Ich beschließe zu flüchten. Nur weg hier aus der Souvenir-Hölle im Norden Londons. Das Smartphone fragt sicherheitshalber ob ich die Lautstärke der Kopfhörer über das empfohlene Maß hinaus erhöhen möchte. Aber sowas von! X-Mal Deutschland retten mich einen Augenblick lang in meine schwarze Welt. Und obwohl ich gehe, nicht schreie oder weine und die Welt um mich herum bunt ist, stelle ich mir vor, der Protagonist eines Musikvideos zu sein, der im schwarz-weiß gehaltenen Film in Zeitlupe durch die Gänge des Camden Lock rennt. Der Silberschmuck rasselt beim Laufen die Melodie der gefühlten Melancholie. Erstaunlich, wie schnell er auf den völlig zum Laufen ungeeigneten Pikes rennen kann. Er schreit stumm, er weint trocken und sucht verzweifelt den Ausgang aus dem Labyrinth der Geschäfte, während tausende Hände ihm britische Souvenirs oder essbare Kostproben vor die Nase halten.

„I hurt myself today, to see if i still feel.“

U-Bahn, Kentish-Town, bei Sainsbury Local ein Stück Käsekuchen mit Vanillegeschmack eingepackt, schnellen Schrittes zur temporären Behausung. Treppe runter, Tür zu, Kaffee aufsetzen, durchatmen. Während ich mit dem süßen Kuchen die Dopamin-Ausschüttung erhöhe und der heiße Kaffee angenehm von Innen her wärmt, surfe ich im Internet. Ich suche Zerstreuung und schmiede den waghalsigen Plan, ins Kino zu gehen. Fragt mich bitte nicht, warum genau ich diesen Plan geschmiedet habe. Filme sind für mich eine prima Ablenkung!

Zunächst interessiere ich mich für „Toni Erdmann„, diese deutsche Komödie, die beinahe einen Oscar gewonnen hätte, doch irgendwie kommt es mir feige vor, in England einen deutschen Film mit englischen Untertiteln zu gucken. Ich entdecke „Logan“, den letzten Teil der „Wolverine“ Serie. Das ist der bärtige Superheld der X-Men, dem Krallen aus seinen Händen kommen, mit denen er so gut wie alles in Schutt und Asche legen kann. Captain Picard, also Patrick Stewart, spielt die Rolle des Charles Xavier, dem ehemaligen Anführer der Superhelden. Actionfilme sind die idealen Filme, die man in Englisch gucken kann. Die Dialoge sind dürftig und sollte man doch mal eine Passage nicht verstehen, weil Hauptdarsteller Hugh Jackman wieder mal nuschelt, schließt die lineare Handlung die Sprachlücken automatisch.

Natürlich suche ich mir ein Kino am Leicester Square aus, denn dort gibt es gleich mehrere riesige Kinotempel der Superlative. Schließlich ist das hier der Platz der Premieren in London, zu denen die Stars der Filme regelmäßig ihre Aufwartung machen. Im „Vue“ besorge ich mir eine Karte für die nächste Vorstellung, die in rund 45 Minuten beginnt. Ich nutze, die Zeit, um mich umzusehen. Verrückt, was es hier alles gibt. Angefangen von einem Fischrestaurant namens „Bubba Gump Shrimps“ bis hin zu einem unfassbar riesigen Laden, der sich nur um M&Ms dreht. Dazwischen Straßenkünstler die tanzen, singen oder gaukeln, ein spanisches Pärchen, das zankt und sich mit eben gekauften M&Ms bewirft, eine Gruppe Asiaten die alles fotografieren was nicht bei 3 auf die Bäume gesprungen ist und schon wieder ein versprengtes Grüppchen einer deutschen Schulklasse, die sich wieder in meine Nähe setzt und mich mit ihren Belanglosigkeiten penetriert. Wie doof doch Jannik mit Sarah umgegangen ist, das Torben für 20 Pfund ein Poster gekauft hat und natürlich Klassenlehrerin Frau Peters, die sich furchtbar aufgeregt hat, weil alle bei der Stadtrundfahrt mit ihren Smartphones gespielt haben. Verdammt zähe 45 Minuten.

Entschädigt werde ich dann vom Film, der mir das vermisste melancholisch verträumte Gefühl gibt, nach dem ich den ganzen Tag gesucht habe. Verrückt. Kein Oscar verdächtiges Meisterwerk, doch die Geschichte der alternden Super-Helden die sich im Bodensatz ihrer Existenz noch einmal erheben und letztendlich sterben, finde ich sehr gelungen. Patrick Stewart mimt den alternden und dem Wahnsinn nahe stehenden Anführer der X-Men ganz ausgezeichnet.

Ebenso wie die Superhelden, die ihre Schuldigkeit getan haben, hat auch London als Metropole der Gothic-Kultur ausgedient. Keine Treffpunkte, keine Refugien, keine pulsierende Gemeinschaft. Nie habe ich so wenige Goths, Punks und sonstige subkulturelle Gestalten gesehen, wie bei diesem Aufenthalt. London hat die inspirierende Andersartigkeit eingebüßt und die wenigen Gruftis, die hier immer noch leben, wieder unter die Oberfläche gedrückt. Ähnlich wie in Deutschland finden „schwarze“ Partys in sonst bunten Läden oder Pubs statt, das „Slimelight“ als letzte Bastion des gruftigen Lebensgefühl ist ein Schatten seiner selbst und beinahe monatlich von Schließungen bedroht. In all meinen Unterhaltungen mit den Gruftis, die es durchaus hier noch gibt, hat sich gezeigt, dass es keine große Szene gibt, sondern viele kleine Cliquen die ihren ganz eigenen Traum vom schwarzen Lebensgefühl leben, Nischen-Veranstaltungen organisieren und sonst eher unsichtbar angepasst sind, als auffällig provozierend.

London hilft ihnen nicht dabei, das „Gothic-Sein“ auszuleben. Schlangen vor Gothic-Discotheken, Läden voller schwarzer Klamotten und Straßenzüge die von aufgestylten Gestalten der Nacht belagert werden, gehören der Vergangenheit an. Hier lebst du nicht, weil das die vermeintlich Gothic-Hauptstadt ist, sondern weil Dir die Wahrscheinlichkeit, das zu finden, was du in deinem Leben suchst, hier deutlich höher erscheint als anderswo. Denn auch wenn es negativ klingt, keine andere Stadt ist so voller Geschichten, Mythen und Geheimnissen wie diese. Nirgendwo sonst liegen Vergangenheit und Gegenwart so nahe beieinander wie hier. London ist eine der wichtigsten europäischen Metropolen, ein kultureller Schmelztiegel und ständig voll von Dingen, die deinen Geist beflügeln oder verzaubern können. Auch der kreative und intellektuelle Output ist hier höher als in anderen europäischen Städten, was aber einfach daran liegt, dass eben diese Menschen nach London pilgern, um dort ihr „Glück“ zu suchen. (Ich bin gespannt wie das nach dem Brexit aussieht). Gruftis sind allerdings Mangelware, deshalb wundert es mich auch nicht, dass so viele Leute, die ich dort getroffen habe, das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig als das wahre Mekka betrachten.

You find no man, at all intellectual, who is willing to leave London. No, Sir, when a man is tired of London, he is tired of Life; for there is in London all that life can afford.“ (Samuel Johnson)

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Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 6 Jahre

Haste sehr schön geschrieben, Robert, emotional bin ich eben sehr mitgegangen. Schade, diese Entwicklung, eine Stadt wird entzaubert. Ich war nie in London (obwohl ich früher gerne mal hinwollte) und denke, jetzt habe ich auch kaum noch Anreiz, hinzufahren. Ich würde wie Du nach etwas suchen, das verlorengegangen ist und enttäuscht sein.
Berlin erlebt aber auch eine ähnliche Entwicklung. Umbruch war hier schon immer, aber inzwischen findet sich nur noch wenig Altes, klassische „schwarze“ Orte. Weder am Breitscheidplatz, noch auf de Kreuzberg, noch in den alten Diskotheken. Schwarzvolk sieht man sehr selten. Nichtmal Emos sieht man noch, und die waren ja wohl die letzte optisch auffällige Jugendkultur. Alle jungen Leute sehen irgendwie gleich aus. Kreativität? Nö, lieber trendy sein, hip sein. Langweilig.
Das WGT ist auch irgendwie eine Zeitblase, die nur noch in Schnittmengen eine ist. Zumindest für die, die der Vergangenheit, den Ursprüngen nachspüren wollen. Sicher ein paar Tage Aufbrezeln und das scheinbare Gefühl vom „Familie“ und Gleichgesinnten – die sich dochin ihren Gruppierungen letztlich stärker voneinander entfernt haben.

Julius
Julius (@guest_54786)
Vor 6 Jahre

Ein Gedanke: möglicherweise hat dir die Gruftiszene mit ihrer Abwesenheit einen großen Gefallen getan. Du hättest wahrscheinlich nicht das gefunden, was du zu finden gehofft hattest. So bleibt dir die Ahnung ihrer vergangenen Pracht und das angenehm fiese Gefühl, ihr unbekannterweise nachzutrauern. Und ob der Film ohne die vorangegangene ernüchternde Pilgertour dieselbe Wirkung entfaltet hätte? Ich glaube das war schon auch irgendwie gut so. Etwas Großstadtmelancholie statt einer zu erwartenden Enttäuschung kann man unter Erfolg verbuchen.

Katharina
Katharina (@guest_54788)
Vor 6 Jahre

So zusammengefasst klingt es wirklich sehr ernüchternd, was von dem alternativen Lebensgefühl in London übrig geblieben ist. Wir wohnen ja, wie du weißt ;), in London und waren vor einigen Tagen auch noch in Camden Town, weil ich eine neue Sonnenbrille brauchte. Ich weiß nicht, ob es an dem Wochentag lag, aber mir sind vor allem die Unmengen an bunten Eltern mit noch bunteren Kinderwagen aufgefallen. Nichts gegen Eltern mit Kindern, aber dass Camden Town jetzt eine Attraktion für Touristen-Familien geworden ist, fand ich doch sehr unpassend.

Black Widow im Stables Market haben wir übrigens doch gefunden; den hattest du wohl übersehen. Tapfer hält er sich noch an einer Ecke, an der wir Touristen gesehen haben, die Fotos von den Schaufensterpuppen in den Goth-Outfits machten. Ich hab dann (eher aus Mitleid, weil ich doch sehr gestresst von den Atmosphäre war und eigentlich nach Hause wollte) dort einen Pulli gekauft. Jedoch ist der größere Goth-Laden Sai Sai, der bis vor kurzem ein paar Meter weiter im Stapels Market zu finden war, wahrscheinlich den immer teurer werdenden Mieten zum Opfer gefallen und befindet sich nun, stark verkleinert, am hinteren Rand des Marktes.

Ein Schicksal, das verschiedene Läden an der Camden High Street übrigens über kurz oder lang ereilt, ist, dass „plötzlich“ ein Feuer ausbricht. Manchmal erfährt man davon in den lokalen Nachrichten, oft ist es aber keine Meldung mehr wert. Nach den Aufräumarbeiten macht dann dort in vielen Fällen ein Laden einer bekannten Kette auf. Und so fressen sich langsam die 0815-Läden vom Camden-Town-U-Bahnhof hinauf zum Markt.

Auch wenn Vieles sehr negativ klingt, muss ich an dieser Stelle doch anmerken, dass es immer noch Leute in London gibt, die für Wave-/Gothic-Kultur brennen und nicht daran denken, sich unterkriegen zu lassen. Auf dem Alterative Bring and Buy Sale beispielsweise, einem alternativen Flohmarkt, der regelmäßig in Tufnell Park stattfindet, werden authentische Second-Hand-Gruftiklamotten, CDs und Schallplatten, Accessoires und teilweise sehr einfallsreiches Selbstgemachtes verkauft. Längst treffen sich die Londoner Goths auch nicht mehr vorrangig in Camden Town: In der wärmeren Jahreszeit kommt man zum Beispiel im Hampstead-Heath-Park regelmäßig zum sogenannten Hampstead Alternative Picnic zusammen. Auch was Partys angeht, gibt es viele Enthusiasten, wie Cavey Nik, der unermüdlich die Dead and Buried veranstaltet, häufig auch mit Konzerten: Eine der interessantesten Grufti-Partys, die die Szene immer wieder zusammenbringt und irgendwie zusammenhält. Es gibt eine ganze Reihe weiterer empfehlenswerter Events, die mehr oder weniger regelmäßig stattfinden, wie zum Beispiel A New Dusk, Glitch, Elegant Decadence oder Achtung! Achtung!. Auch die No Tears, die du im ersten Teil deines London-Tagebuchs erwähnt hast, scheint nun eine etablierte Veranstaltung zu sein. Trotz aller berechtigten Kritik am Slimelight werden auch dort (genauer gesagt im gleichen Veranstaltungsort, dem Electrowerkz) ab und zu richtig tolle Konzerte auf die Beine gestellt und Dj Blackdeath1334 schafft es, wenn sie auflegt, das Niveau zu dort halten und verleitet zum Durchtanzen. Und während es auf der Invocation an Ostern leider das letzte Mal sein wird, dass man unter einem Steingewölbe tanzen kann, weil der Vermieter seine Räumlichkeiten lieber an eine umsatzstärkere Veranstaltung hergeben möchte, versucht der Tanz Macabre nach dem Rauswurf aus seiner Location derzeit wieder einen neuen Veranstaltungsort zu finden. In dem Gebäude, in dem der Tanz Macabre stattfand, sollen nun Luxus-Apartments untergebracht werden und für die Goths ist dann leider kein Platz mehr. Es ist also nicht leicht, sich von dem riesigen Strudel (wie du es so schön ausgedrückt hast) nicht verschlingen zu lassen, aber solange es noch engagierte Leute gibt, weigere ich mich die Hoffnung aufzugeben. Und vielleicht gibt ja es auch für Camden Town irgendwann eine Kehrtwende, wenn London merkt, was da eigentlich an Geschichte und einzigartiger Kultur verloren geht.

Bibi Blue
Bibi Blue(@biljana)
Vor 6 Jahre

Ich kann die Wirkung dieser Erlebnisschilderung auf mich kaum in Worte fassen. Und obwohl mein Gedankenprozess dazu noch nicht abgeschlossen ist, möchte ich diesmal ein Kommentar verfassen, denn zu oft habe ich es aus ähnlichen Gründen sein gelassen. Ein gewisses Nostalgiemeer hat es in mir aufgewühlt, und ich versuche auf dessen Grund zu schauen. Absolut objektiv ist keine menschliche Sicht, Gedanke oder Gefühl, doch das macht es nicht weniger real oder weniger wertvoll. Die Nostalgie scheint sich aus mehreren Elementen zu destillieren, wie ein Absud aus verschiedenen Bereichen eines Subjekts. Gewiss spielen verschiedene Sehnsüchte nach bestimmten Zuständen eine Rolle, die mit einer Neugier in sehr jungen Entdeckungsjahren zu tun haben, mit einer Art Begeisterung oder gar Ekstase. Vieles ist in solchen Phasen tatsächlich neu und überwältigend, hinzu kommt der verstärkte Drang nach Identitätsfindung, Rebellion gegen Konventionen und eine prickelnde Aufregung. So viel Prickeln auf einmal würde ich heute nicht mehr aushalten, doch es heißt nicht dass es verschwunden ist. Ich begeistere mich gerne für neue Dinge, auch wenn ich das (Ver)Schwinden mancher sehr bedauere. Es ist irgendwie auch verständlich, dass eigene Erinnerungen den Blick auf gegenwärtige Zustände und Tendenzen verzerren. Doch es ist auch der Zeitgeist, oder vielmehr der Zustand dieser Epoche, der mich oft an die schlimme Dystopie-Visionen erinnert. Alles scheint so durchleuchtet zu sein, als gäbe es keinen Boden mehr, wo mal eine Subkultur in Ruhe keimen kann. Authentischer urbaner Charme wird zeitnah als Gewinnpotential erkannt und verbraten oder verschlungen, zumindest scheint es meiner subjektiven Wenigkeit so.

Übrigens, leider konnte ich London im letzten Jahrhundert noch nicht besuchen. Ich war jedoch zwei Mal dort und wusste nicht wie mir geschieht, da ich auf angenehme Art von vielerlei Eindrücken überflutet war. Ich kannte kein älteres London, dass ich vermissen konnte. Und ich wollte so viele Orte besuchen, dass ich es nicht geschafft habe, mich auf der Suche nach den frühen Kultorten zu begeben. Ich erfuhr jedoch vom verlorenen Charme vieler Gegenden, hörte von der drohenden Gentrifizierung Dalstons oder der Mondänisierung der Brick Lane. Von dem Nachtleben habe ich wenig mitbekommen, da ich nicht aus vertieften Gesprächen weghetzen wollte, so konnte ich noch den Restcharme von Dalston und der Brick Lane genießen, mich in Camden auf einige Bierchen treffen oder ein Laibach-Konzert in The Relentless Garage in Islington genießen. Als Diplomarchitektin hatte ich ohnehin viel zu sehen, ich war von der Raumwirkung und der Detailausführung der Tate Modern begeistert, dann auch von dem Buchladen des ICA (Institute of Contemporary Arts), und dass ich ein Originalmodell von dem Situationisten Constant Nieuwenhuys in der Barbican Art Gallery bewundern konnte. Gerne hätte ich weitere Einblicke in die überlebenden und sich wandelnden Szeneorte und -leben gehabt oder würde eine Zeitreise in die 80er machen. Deswegen danke ich zunächst Robert und Katharina für die Schilderungen und die Links. Ich freue mich, euch wieder zu begegnen, ob in London, Leipzig, Frankfurt oder anderswo.

Markus
Markus (@guest_55035)
Vor 6 Jahre

Ich war 1992 in London und fühle mich durch deinen Report an damals erinnert. Die einzigen „Goths“, die ich damals zu sehen bekam, waren deutsche Freunde, die sich zeitgleich zwecks Urlaub dort aufhielten. Grüße an Jens und Claudia an dieser Stelle, falls sie hier mal mitlesen.

Spuren der „guten alten Zeit“ der 80er Jahre waren schon damals nicht zu finden; der einzige Hinweis auf London Gothic fand sich in einem kleinen Juweliergeschäft auf einem Foto an der Wand. Der Shopinhaber wollte einen Pentagramm-Ring für Herrn McCoy persönlich entworfen und gefertigt haben, den dieser nun fortan – fotografisch dokumentiert – am kleinen Finger trug. Ansonsten: Nichts. Gar nichts.

Curlz
Curlz (@guest_55487)
Vor 6 Jahre

Mir ging es beim London Besuch 2009 ähnlich. Mein vorheriger Besuch lag paar-und-20 Jahre zurück.

Und ja, auch ich bin die Gegenden abgeklapptert und habe mich über die „Ramsch-Gruftie-Läden“ erschrocken.

Dennoch, seit 2009 fahre ich jeden Sommer und wenn möglich auch einmal im Winter nach London. Auch wenn man selten noch Grufties sieht, ich liebe London. Richtig, auch ich finde immer was zu entdecken. Auch ungruftiges ;)

btw. gibt es Hoffnung? letztens habe ich einen Artikel gelesen, der behauptet das „Wave“ den Londoner Untergrund erorbert :)

https://www.deutschlandfunk.de/neue-musikszene-wave-erobert-londons-underground.807.de.html?dram:article_id=385553

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